Geschichte – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de Kinderbücher, Kinofilme und mehr! Thu, 04 Oct 2018 10:18:48 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 http://www.blogvombleiben.de/wp-content/uploads/2017/03/Website-Icon-dark.png?fit=32,32 Geschichte – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de 32 32 138411988 FERNSTUDIUM, ist das was für mich? | Vorteile, Nachteile http://www.blogvombleiben.de/fernstudium-vorteile-nachteile/ http://www.blogvombleiben.de/fernstudium-vorteile-nachteile/#respond Fri, 21 Sep 2018 07:00:27 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5535 Durch meinen Körper rollt eine Welle der Euphorie über die bestandene Prüfung von gestern. Dieses Gefühl…

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Durch meinen Körper rollt eine Welle der Euphorie über die bestandene Prüfung von gestern. Dieses Gefühl will ich mal zum Anlass nehmen, über das fesche Trendthema »Fernstudium« zu schreiben. Denn ist die Welle erst abgeflaut und der Alltag zurück, dann kommt mir das Thema so seltsam langweilig vor, als würde das niemanden jucken, als wäre jede meta-mäßige Auseinandersetzung damit die reinste Zeit- und Zeilen-Verschwendung. Und ist erst die nächste Lernphase da, dann hab ich für so einen Rummel eh keine Zeit mehr. Aber jetzt, da die Freude hoch ist und das Vakuum zwischen Lernphase und Alltag noch besteht, da offenbart sich mir das Thema »Fernstudium« in all seiner Relevanz und Geilheit. Ja, Geilheit. Ein schlaueres Wort hab ich grad nicht. Nachteil Nr. 1 eines Fernstudiums: Es macht dich nicht wirklich schlauer. Nur in-so-dumm.

Wissensdurst auf hoher See

Kurze Erklärung zum »In-so-dumm«

Was heißt »in-so-dumm«? Zunächst ein kleiner Schwank aus der Kindheit – wer darauf keinen Bock hat, einfach direkt zum Abschnitt »5 Gründe« scrollen.

Drei Geschwister-Kinder laufen zum Strand

Meine kleinen Geschwister und ich, wir haben unsere Kindheit in den 90er Jahren verbracht. Also ohne Handy und Internet, dafür mit jeder Menge Langweile und dummen Ideen. In der Regel waren das Ideen für irgendwelche Spiele, meist Rollenspiele. Wann immer wir in unseren Kinder-Hirnen selber gemerkt haben, dass die eine oder andere Idee (nach Maßstäben der Erwachsenenwelt) dumm war, dann haben wir das natürlich entsprechend reflektiert. Wir spielten also »in-so-dumm«. Zum Beispiel eine Partie Mein Land:

Eine Partie Mein Land

Alle sitzen in verschiedenen Ecken einer Matratze (im Kindesalter hatte man zu dritt auf einer handelsüblichen Bettmatratze noch jede Menge Platz) und diese Matratze ist ein Land. Aber nur »in-so-dumm« (mit diesem Zusatz haben wir das einander erklärt, um zu zeigen, dass wir selbstverständlich checken, dass die Matratze kein echtes Land ist). Im Folgenden ging es darum, die jeweils anderen Geschwister mit reichlich Gerangel von der Matratze zu schubsen, um diese für »Mein Land« zu erklären. Dämliches Spiel, wenn man bedenkt, dass der junge Mozart in unserem Alter schon seine ersten Auftritte gab. Kann man noch weiter vom Genie entfernt sein, als beim begeisterten Sich-Gegenseitig-vom-Bett-schubsen?

Ein paar Jahre später (okay, 20 Jahre später) habe ich gemerkt, dass unser kindisches »in-so-dumm« in der Erwachsenenwelt gang und gäbe ist. Wenn wir ein Stück Papier hochhalten und behaupten, das sei jetzt so viel wert wie ein Fahrrad, dann natürlich nur »in-so-dumm« und solange alle mitspielen. Und wenn wir einen bestimmten Bereich abstecken und ein »Land« nennen, dann checken wir selbstverständlich, dass es ein Land gar nicht gibt. Es gibt vielleicht das Land, wenn man dem Trockenen zwischen den Wassermassen, die wir als »Meer« bezeichnen, auch einen Namen geben möchten.

Aber »ein Land« (neben anderen Ländern) gibt es nur in der Vereinbarung sehr vieler Menschen, die sich irgendwie miteinander arrangieren wollen. Denn das tun Menschen, wenn sie zu alt sind, um zu spielen. Sie »arrangieren« sich miteinander. Ist man einmal in einem ehrwürdigen Alter, wie etwa, sagen wir, 69 Jahre (Glückwunsch nachträglich, Horst! Und jetzt geh mal in Rente), dann hat »Mein Land« als Spiel seinen Charme eingebüßt. Es gibt nur noch Verlierer*innen.

Was ist denn schon »wirklich«?

2015 war’s, als ich mich zunehmend fragte, was noch alles »in-so-dumm« ist, also nur in-den-Köpfen. Ist dafür einmal das Bewusstsein geschärft, dann wird die Dummheit riesengroß. Sie ist überall und laut und bedrohlich. Wie kann man sich vor diesem Monstrum schützen? Wie kann man Wirklichkeit von Dummheit unterscheiden? Gibt es Wirklichkeit überhaupt? Und wenn ja (oder nein), was ist wirklich wichtig im Leben?

Aus dieser Verzweiflung heraus habe ich mich Anfang 2016 nach einer Möglichkeit der Weiterbildung umgeschaut. Denn der Impuls »weg von der Dummheit« führt im logischen Umkehrschluss erstmal »hin zum Wissen« (wo oder was das auch immer sein mag).

Klarstellung: Wenn ich hier von »Dummheit« spreche, ist dieser Begriff nicht als Beleidigung gemeint. In diesem Blogbeitrag benutze ich »dumm« in Anlehnung an oben erläuterten, unbewussten Neuwort-Schöpfung »in-so-dumm« aus Kindheitstagen. In diesem Sinne heißt »dumm«: von nicht zureichender Intelligenz, um mit Gewissheit sagen zu können, was Wirklichkeit ist.

Fixe Entscheidung zum Fernstudium

Im Jahr 2016 war ich noch fest angestellt in einer Redaktion und habe von montags bis freitags meine 35 Stunden geschoben. Nine to Five. Damals hatte ich noch nicht den Arsch in der Hose, diese solide Wochenstruktur aufzugeben. (Der Arsch fehlt mir heute noch – was okay ist, wenn man den Gürtel enger schnallt. Ha ha. Witze aus dem Leben eines frisch gebackenen Selbständigen; da kann man nur selbst drüber lachen, und zwar ständig.) Jedenfalls hätte mein Arbeitgeber mich damals bei einer Weiterbildung sicher unterstützt, wenn ich A) gefragt hätte und es B) ein Bezug zum Verlagswesen gegeben hätte. Aber da ich Letzteres nicht wollte, konnte ich mir Ersteres auch sparen. Wie also dann weiterbilden, neben dem Beruf?

Brille, Stifte, Studienzeugs, dazu der Text: Fernstudium, Vorteile & Nachteile

Private Fernlehrgänge: Schon früher hatte ich mal – andere Stadt, andere Arbeit – das Bedürfnis, nebenbei noch was zu lernen. Da war meine Wahl auf den ILS-Fernlehrgang »Filmproduktion – professionell gemacht« gefallen. Der schneidet im Fernstudium-Check richtig gut ab, ist aber inhaltlich mager. Mit Blick aufs Preis-Leistungs-Verhältnis kann man die Kohle besser in ordentliche Lektüre zum Thema Film investieren. Wann immer ich mich heute auf irgendetwas im Bereich Film bewerbe, lasse ich diesen Fernlehrgang aus meinem Lebenslauf raus, weil es mit professioneller Filmproduktion nichts zu tun hat. Ist ein bisschen so, als würde man in einer Bewerbung als Architekt*in angeben, welche Anwesen man in SimCity gebaut hat.

Die Fernuniversität in Hagen

Kurzum: Weder wollte ich berufsbezogene Möglichkeiten der Weiterbildung wahrnehmen, noch etwaige Programme privat-wirtschaftlicher Fernschulen, auf den Verdacht hin, dass man da mehr Geld als Grips investiert. Eine Alternative fand ich in der einzigen staatlichen Fernuniversität in Deutschland, die gleichzeitig mit rund 76.000 eingeschriebenen Student*innen die größte Uni Deutschlands ist.

Die Zahl entspricht etwa der Bevölkerungszahl meiner Heimatstadt, was mich anfangs ziemlich beeindruckt hat. Aber man muss einfach bedenken, dass das quasi nur »der große Rest« derjenigen ist, die nicht schon sonstwo irgendwas studieren. Und gemessen an den Zugangsvoraussetzungen und der deutschen Bevölkerungszahl ist 76.000 angesichts der Zahl der Menschen, die dort ein Fernstudium machen könnten, eher erstaunlich gering. Dieses Staunen nimmt bei mir über die Semester hin immer weiter zu, weil die Qualität dieser Universität – in so ziemlich jeder Hinsicht – echt stark ist. Allerdings, klar, muss man halt ein Interesse an den Inhalten eines Fernstudiums haben.

Zulassungsvoraussetzungen für Bachelor-Fernstudiengänge an der FernUniversität in Hagen:

  • Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife, oder
  • Zeugnis der fachgebundenen Hochschulreife, oder
  • Gleichwertiger Schulabschluss, oder
  • Gleichwertige berufliche Qualifikation, oder
  • Gleichwertige ausländische Qualifikation
Das Studienangebot

Interesse an den Inhalten also… das sagt sich so leicht. Als ich mich erstmals durch das Angebot der Bachelor-Fernstudiengänge scrollte, da dachte ich noch: nö, nö, nöhöhööö! Informatik, Mathematik, Politik- oder Wirtschaftswissenschaft? Warum nicht gleich Jura? Fuck. Ich hab in Mathe damals aus Sinus-Kurven Dinosaurier gemacht und im Computerraum nur mit Paint gespielt und über Google die Earth bewundert. Und Wirtschaft? In meiner Ausbildung zum Kaufmann dienten mir T-Konten eher dazu dazu, die Vor- und Nachteile vom Berufsschulunterricht aufzulisten. Vorteile: Die Lehrer*innen sind weniger streng. Du bist jetzt erwachsen. Nachteile: Die Lehrer*innen sind weniger streng. Du bist jetzt erwachsen. Ach, wer braucht schon Buchhaltung? Konnte ich doch nicht wissen, dass ich mich mal selbständig mache.

Selbständige brauchen Buchhaltung.

Existenzgründung 101

Ja, ich habe in meinen Interessen (oder Desinteressen) oft geirrt. Dass meine Wahl für ein Bildungsangebot letztendlich auf den Studiengang B.A. Kulturwissenschaften fiel, das war die Folge von zu viel Desinteresse. Ausschlussverfahren. Das eine, das noch übrig war, nachdem ich den Rest der Liste von Studiengängen für ein mögliches Fernstudium im Geiste noch durchgestrichen hatte. Und Kulturwissenschaften war zunächst nur deshalb vor dem Rotstift sicher, weil ich ehrlich gesagt nicht wusste, »wat dat is«, wie man in der Heimat so schön sagt.

Der Studiengang B.A. Kulturwissenschaften

Der Studiengang B.A. Kulturwissenschaften umfasst an der FernUniversität verschiedene Module aus 3 Fachrichtungen: Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie. In Letzterer geht es zuweilen ganz ausdrücklich darum, was eigentlich Wirklichkeit und was nur in unseren Köpfen ist. Riesenthema. Und genau das, was ich suchte. Na endlich, gefunden.

Einige Themen, mit denen man (je nach eigenem Interesse) durch diesen Studiengang in Berührung kommen kann – nur eine winzige Auswahl, für einen ersten Eindruck:

  • Die griechische Antike, Anfänge unserer Demokratie
  • Das Mittelalter in all seiner Ungerechtigkeit
  • Die Entdeckungsreisen großer Seefahrer*innen
  • Die Französische Revolution
  • Literarische Vorlagen zu Filmklassikern (siehe: Traumnovelle / Eyes Wide Shut)
  • Das Theaterwesen in Deutschland 
  • Sprachen und was sie bewirken
  • Affen, Menschen, Cyborgs und was sie unterscheidet

Das weiß ich wohlgemerkt erst jetzt – also, dass Kulturwissenschaften das ist, was ich 2016 suchte. Anfangs dachte ich nur: Joa, Geschichte interessiert dich und hilft bestimmt bei dem Hobby »Geschichten schreiben«. Und zack, hatte ich mich für ein Fernstudium eingeschrieben. Was genau Philosophie ist und alles dahintersteckt, das entfaltet sich mir seit nunmehr zwei Jahren, learning by doing. Worauf ich mit dem ganzen Blah hinaus möchte:

Auch wenn dein Interesse an Weiterbildung eher vage ist und du besser sagen kannst, was du alles nicht willst, als was du eigentlich willst – gib einfach Irgendetwas die Chance, dieses »eigentlich« zu sein. Denn man kann sich nur für Dinge interessieren, von denen man weiß. Und man weiß verdammt wenig, solange das Desinteresse überwiegt. Und danach eigentlich auch. Aber dazu gleich mehr, Stichwort: Land der Wahrheit…

Jetzt geht’s erstmal ans Eingemachte! Im Folgenden habe ich 5 Gründe für ein Fernstudium aufgeführt – und 5 Gründe dagegen (am Beispiel der Kulturwissenschaften, aber auch übertragbar auf andere Studiengänge):

Buntstifte bilden eine 5, dazu der Text: Gründe dafür & dagegen, Thema Fernstudium

5 Gründe für ein Fernstudium (und 5 dagegen)

Vorteil 1: Mehr Zeit für dich

Klingt ein bisschen nach Wellness-Werbung. Bei »Mehr Zeit für dich« denkst du vermutlich an eine Badewanne, Sonnenstunden und Rumlümmeln auf der Couch. Das kannst du auch. Stell dir einfach nur ein Buch dazu vor (oder über welches Endgerät auch immer du zu lesen bevorzugst). Die meiste Zeit in einem Fernstudium der Kulturwissenschaften verbringt man mit Lesen – und das Gelesene zusammenfassen, und über das Zusammengefasste nachdenken. Lesen, Schreiben, Denken, das ist – Inhalte hin oder her – Zeit für dich.

Ob man es als quality time oder Verschwendung betrachtet, ist Einstellungssache, aber das Fernstudium zwingt dich regelrecht dazu, mehr Zeit mit dir selbst zu verbringen. Ohne Spiegel, ohne Selfie-Stick. Keine Likes für jede gelesene Seite. Kein Interesse an dem, was du gerade tust, von irgendwem. Nur du, das Weltwissen und deine Gedanken dazu.

Die Leere auffüllen

Diese althergebrachte Art der Einsamkeit kann ganz schön bedrückend sein, in Tagen wie diesen, in denen wir gerne 24/7 interconnected sind. Zumindest mir geht’s so, dass ich dann manchmal eine schreiende Leere in mir fühle. Nicht selten flüchte ich in soziale Medien, wo eh alle schreien und man weniger allein ist. Wenn es mir hingegen hin und wieder gelingt, der Einsamkeit mit mir selbst Stand zu halten, einfach nur zu lesen, zu notieren, zu grübeln, dann spüre ich, wie sich die Leere mit Inhalten füllt. Blumige Sprache, ich weiß. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass »mehr Zeit für dich« etwas Gutes sein kann.

Es geht nicht darum, »mehr Zeit mit sich« zu verbringen, damit, sich nur um die eigene Achse zu drehen, in Selbstzweifel oder Narzissmus zu zergehen. Es geht vielmehr darum, mehr Zeit damit zu verbringen, etwas für sich als Person zu tun. Für den Geist, der deinem Körper innewohnt (auch wenn das in der Philosophie ein streitbares Thema ist, das mir manche*r jetzt um die Ohren hauen würde).

Nachteil 1: Weniger Zeit für alles Andere

Dazu braucht man kein Mathe zu studieren: Mehr Zeit für dich = weniger Zeit für alles Andere. Ein Tag hat nur 24 Stunden und du kannst deine Schlafzeiten nicht allzu sehr reduzieren. Vielleicht willst du das auch gar nicht, weil Schlafen großartig ist. Am Ende sind die meisten von uns 14 bis 18 Stunden zwischen zwei Sonnenaufgängen wach und haben ehrlich gesagt immer genug zu tun.

Als 90er-Jahre-Kind bei ländlicher Wohnlage hatte man quasi keine andere Wahl, als sich eigene Spiele auszudenken, um irgendwie die ganze Zeit »zu vertreiben« (schrecklicher Ausdruck eigentlich). Die 3 Videokassetten waren schnell mal durchgeguckt. Die Gameboy-Batterien regelmäßig leer. Das Wetter manchmal schlecht. Und unterwegs im Internet konnte man während dem Aufbau einer Seite das Alphabet rülpsen, vorwärts und rückwärts und die Bilder waren immer noch nicht zu sehen.

Von wegen Badewanne

Heute kann man nicht an einem Nachmittag Netflix durchschauen. Dafür muss man sich schon mehr Zeit nehmen. Und Entdeckungsreisen in den Tiefen des World Wide Web fressen auch mehrere Menschenleben. Die Schlaumeier*innen aus vergangenen Jahrhunderten, die über jede Wissenschaft ihrer Zeit genau Bescheid wussten, die hatten ja keine Ahnung. Charles Darwin würde heute vielleicht weniger Tiere auf den Galapagosinseln finden – aber der Junge soll nur mal ne Runde mit Pokémon Go drehen. Die Welt ist irre geworden, irre vielfältig.

Als Einzelne, mit unseren je eigenen Expertisen und Erfahrungen, wissen wir zu viel und zu wenig; also überlassen wir uns der Verzweiflung oder der Hoffnung, obwohl weder das eine noch das andere eine kluge Haltung ist. Weder Verzweiflung noch Hoffnung sind auf Sinnlichkeit, auf von Geist erfüllte Materie, […] oder auf sterbliche Erdlinge in dichter Kopräsenz gestimmt.

Donna Haraway, in: Unruhig bleiben (2018), S. 13

Brauchst du wirklich noch etwas, das dir deine Zeit wegfrisst? Und selbst wenn du xy Wochenstunden zur Verfügung hättest, würdest du sie wirklich mit Studieren verbringen wollen? Denn machen wir uns nichts vor: Du kannst bei einem Fernstudium natürlich in der Badewanne oder auf der Couch lesen. Aber viel öfter wirst du dich vermutlich am Schreibtisch wiederfinden. Hurra.

Vorteil 2: Man kann Geld sparen

Na ja, also erstmal gibt man Geld aus, natürlich. Bei einem Fernstudium bezahlt man die Studienhefte, die man halbjährlich zugeschickt bekommt. Das sind, je nach dem, ob man in Teilzeit oder Vollzeit oder in Teilzeit mit Vollzeitpensum studieren möchte, etwa 200-350 Euro im Halbjahr. Gegenüber privaten Fernlehrgängen ist das günstig. Und kaum beginnt das Semester, beginnt die fröhliche Challenge, die Ausgaben durch Vergünstigungen wieder reinzuholen. Es gibt etliche Möglichkeiten, insbesondere bei kulturellen Veranstaltungen, mit einem Studierenden-Ausweis günstiger »reinzukommen«.

Außerdem hat man freie Zugänge zu Online-Archiven und -Datenbanken voller interessanter Inhalte sowie Lernplattformen, über die man sich alles Mögliche beibringen lassen kann. Ich nutze diese zum Beispiel, um mit meinen Adobe-Programmen fitter zu werden (Lightroom, Photoshop, Premiere) – aber es gibt auch Lehrmaterial zu Social Skills, anderen Computerfragen, oder Dingen, die man eher im Hobby-Bereich verorten würde. Solche Lerninhalte sind oft (weil aufwändiger und mehr in die Tiefe gehend als viele YouTube-Videos) hinter Bezahl-Schranken versteckt. Fernstudierende können über manche drüber hopsen. Allein: Zeit müsste man wieder investieren…

Nachteil 2: Man gibt mehr Geld aus

Vorweg: Geld wird überbewertet. Meist versuchen wir, an mehr davon zu kommen, als wir festhalten können. Oder wie Uwe Seeler einst sagte:

Ich kann ja doch nicht mehr als ein Schnitzel am Tag essen.

Andererseits ist das natürlich First-World-Gelaber. Bezeichnenderweise kursieren von Uwe Seelers Aussage zwei Versionen im Internet. Die andere lautet: »Mehr als ein Steak am Tag kann man nicht essen.« Ach was?

Ich sehe was das du nicht sieht und das ist Geld! […]
Keine Schwielen an den Händen – das ist Geld!
Sagen »Geld ist nicht alles« – das ist Geld!

K.I.Z.

Aber trotzdem, verarschen wir uns nicht selbst. Überall, wo man »vergünstigt reinkommt«, gibt man im Endeffekt zusätzlich Geld aus. Hinzukommt, dass Fernstudierende dazu neigen, sich viel mehr Bücher anzuschaffen, als man normalerweise kaufen oder leihen würde. Das kommt auf die Semestergebühren nochmal oben drauf. Dann die Fahrtkosten zu den Prüfungen und manchen Präsenz-Seminaren plus die Teilnahme-Gebühren für besondere Praxis-Seminare. Nicht zu vergessen: das Budget für die Nervennahrung. Ein paar Kilo Nüsse sind in der Prüfungsphase rasch verdrückt.

Allerdings, wenn du wirklich mit dem Gedanken spielst, hey, so ein Fernstudium, das könnte eine sinnstiftende Maßnahme sein – dann ist Geld offenbar nicht deine größte Sorge im Leben. Ist doch gut so. Zurück zum Wesentlichen:

Vorteil 3: Es erweitert den Horizont…

Warum Geschichte studieren? Anders als in Physik oder Chemie geht es nicht darum, Vorhersagen zu treffen. Wir beschäftigen uns mit der Vergangenheit, um unseren Horizont zu erweitern und zu erkennen, dass unsere gegenwärtige Situation weder unvermeidlich noch unveränderlich ist, und dass wir mehr Gestaltungsmöglichkeiten haben, als wir uns gemeinhin vorstellen.

Yuval Noah Harari, in: Eine kurze Geschichte der Menschheit (2013), S. 294

Unser Vorstellungsvermögen, das kann man leicht unterschätzen. Meist reicht schon die Vorstellung von »Ideen« als etwas, das uns unseren Hirnen irgendwie  magisch entspringt, in der sich dieses Vermögen erschöpft. Nach dem Motto: »Man hat halt Fantasie oder eben nicht«. Stattdessen sind alle großen Ideen der Menschen die kleinen Babys verschiedenster Einflüsse und Inspirationen. Vor denen kann man sich gar nicht wehren – aber je weniger Übung, desto eher verpufft eine Inspiration, ohne neue Ideen hervorzubringen.

Wir können gar nicht anders

Der umgekehrte Weg ist die gezielte Suche nach Einflüssen und Inspirationen in einem gigantischen, Jahrtausende alten Kulturkosmos, aus dem wiederum Ideen fürs Hier und Jetzt hervorgehen. Dazu ist so ein Fernstudium fantastisch, in Kulturwissenschaften auf jeden Fall. Da kommen immer wieder Themen auf den Tisch, die heute »im öffentlichen Diskurs« (wenn man die eigene Social-Media-Bubble denn überhaupt so bezeichnen mag) völlig untergehen. Es ist gut, zuweilen mit solch unscheinbaren oder unpopulären Themen konfrontiert zu werden – das rückt manche Phänomene der Gegenwart in Relation und eröffnet einen zuversichtlicheren Blick in die Zukunft.

Zuletzt habe ich mich mit Helmuth Plessner und dessen Hauptwerk beschäftigt, das sich um das Wesen des Menschen dreht. Plessner kommt zu dem Schluß, dass die fortwährende Beschäftigung mit Kultur (als unsere zweite Natur) für uns Menschen ganz grundlegend ist, um die Welt um uns herum überhaupt wahrnehmen zu können – und zwar nie unmittelbar, sondern immerzu vermittelt durch unser Bewusstsein. Deshalb sei es auch, dass jede Generation auf ein Neues kulturelle Schöpfungen hervorbringen muss. Weil wir gar nicht anders können. Das ist vielleicht nicht der Grund für den x-ten Spider-Man-Film (das ist Geld), aber der Grund, warum überhaupt noch Bücher geschrieben werden.

»Die Welt ist voller Bücher. Warum um Himmels willen musst du da mit einem weiteren ankommen?«

Louise Doughty zitiert einen Buchhändler, in: Ein Roman in einem Jahr (2007), S. 10

Die Antwort auf die Frage, warum neue Bücher, neue Filme, neue Apps und Ideen uns immer wieder auf Trab halten, ist so kindisch wie wundervoll: Darum. Wir können nicht anders. Es ist ein Wesensmerkmal von uns Menschen.

Nachteil 3: …auf einer Insel im Unwissen

Doch jede unserer Errungenschaften, jedes Kulturgut und jede Antwort ist bestenfalls nur eine Schaufel Sand an dem Strand, der unsere Insel umgibt. Immanuel Kant beschrieb sie als »Land der Wahrheit«. Es sei…

[…] umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane […], indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann.

Immanuel Kant, in: Kritik der reinen Vernunft, Kapitel 68
Auf hoher See verloren gehen

Wir mögen den Strand mit schaufelweise Sand anhäufen und die Insel vergrößern. Doch damit wächst nur die Uferlinie entlang des Ozean dessen, was wir nicht wissen. Ausflüge hinaus auf hohe See eröffnen bloß immerzu neue Horizonte, keine neuen Ufer. Im Studium wird Leser*innen diese Tatsache immer wieder eindrucksvoll vor Augen geführt, wenn sie in einem x-beliebigen Buch die Literaturhinweise aufschlagen. Jedes große Werk ist nur ein Nadelöhr zu einem neuen Universum an Wissen… das kann faszinieren oder deprimieren, je nach dem, ob man sich gerade abenteuerlich oder einfach nur klein und dumm fühlen möchte.

[Insbesondere bei einem Fernstudium, da man mit einer Lektüre oft alleine ist und nicht sieht, dass andere Student*innen auch hart daran zu knacken haben, überwiegt zuweilen dieses »klein und dumm«-Gefühl. Der vielleicht spürbarste Nachteil eines Fernstudiums.]

Vorteil 4: Es schult wichtige Skills

Bei kaum einem Fach wird man wohl so häufig mit der Frage konfrontiert: »Wozu brauchste das später mal?« Gemeint ist natürlich Philosophie (also das große Gedankenspiel der vergangenen Jahrtausende, aus dem nur so Pillepalle wie unsere Demokratie und unser Rechtsstaat hervorgegangen sind). Doch selbst, wenn du dich für ein Studienfach entscheidest, dessen konkrete Inhalte du in seiner Relevanz manchmal anzweifelst: Ein Fernstudium schult weit mehr als die Expertise in einem bestimmten Fach.

Man hat zum Beispiel kaum eine andere Wahl, als sich mal bewusst mit dem Thema »Zeitmanagement« zu beschäftigen, um so ein Studium mit Arbeits- und/oder Familienalltag unter einen Hut zu kriegen. Was diese Beschäftigung konkret bringt, muss jede*r für sich selbst sehen. Mir persönlich hat das Thema »Zeitmanagement« den Weg gebahnt zu neuen Workflows und Perspektiven – und unterm Strich eben: mehr Zeit.

Worauf es im 21. Jahrhundert ankommt

Struktur in Alltag und Arbeitsweise; die Fähigkeit, sich auf neue Inhalte mit vertrauten Methoden und Mitteln zu stürzen; Übung darin, Internet und Bücherwelt nach relevanten Informationen (also Daten, dem Gold des 21. Jahrhunderts!) zu durchforsten – all solche Skills schult ein Fernstudium jenseits der eigentlichen Studieninhalte.

Vorbei sind die Zeiten, in denen man einen Beruf lernt und drei bis vier Jahrzehnte lang ausleben kann. Selbst neue Berufsbilder mögen eine vergleichsweise kurze Halbwertszeit haben und wieder in Bedeutungslosigkeit versinken. »Times are changing, Kitty« – das stellte schon Red Forman in den Wilden Siebzigern fest…

Der rassistische, sexistische Amerikanische Traum hat ausgedient, das ist begrüßenswert. Was am ehesten gefragt sein wird, in den kommenden Jahrzehnten, das sind keine konkreten Kenntnisse, sondern spezielle Skills – vor allem die Fähigkeit, in Bewegung zu bleiben. Wer Übung darin hat, sich Neues beizubringen, ist gut aufgestellt in unruhigen Zeiten.

Nachteil 4: Es bringt mächtig ins Schwitzen

Ständig in Bewegung bleiben, das heißt: ins Schwitzen geraten. Auch mal außer Puste sein. Keine Lust mehr haben. Und zu viel Druck. Gerade in Leistungsphasen, wenn man zu einem bestimmten Termin, für eine schriftliche oder mündliche Prüfung unverhältnismäßig viel Wissen in den eigenen Schädel stopfen soll. Vier Klausur-Stunden lang über wissenschaftliche Themen schreiben oder 40 Minuten lang ein fachspezifisches »Frage-Antwort-Spiel« durchstehen – das sind Ausnahmesituationen, die man eigentlich nicht braucht. Das Wissen verpufft danach eh wieder.

Andererseits… eine mündliche Prüfung ist die beste Übung für Vorstellungsgespräche oder andere Situationen im Leben, in denen man eine gute »Live-Performance« machen möchte. Und das Hochgefühl nach einer bestandenen Prüfung ist wie ein Kick, der alle sechs Monate mal eine sehr schöne Abwechslung im Alltag sein kann. Leistungsdruck vs. Erfolgsgefühle.

Vorteil 5: Neue Leute kennenlernen

Gibt es irgendeine neue Aktivitäten, die du aufnehmen kannst, ohne neue Leute kennenzulernen? Selbst beim Angeln gehen trifft man hin und wieder andere kauzige Seelen… wenn du dich aber in die größte Uni Deutschlands einschreibst, dann lernst du unweigerlich jede Menge neuer Leute kennen. Dabei ist der Querschnitt der Leute in einer Fernuniversität mindestens so bunt, wie an Präsenz-Universitäten. Natürlich trifft man sich, physisch, seltener.

Aber was sind heutzutage schon Distanzen? Die Student*innen kommen aus verschiedensten Städten und Ländern zusammen – und aus unterschiedlichen Lebenslagen: Menschen, die gerade eine Familie oder ein Unternehmen gegründet haben, oder deren Kinder just aus dem Haus sind, oder deren Ruhestand begonnen hat. Andere wiederum, die mittendrin stehen, im Geschäfts- und/oder Familienleben, die einfach noch ein bisschen Rest-Energie kanalisieren wollen. Interessante, aufgeweckte Individuen. Kontakt hält man via Mails und Messengern. Und ist man zufällig in derselben Stadt, geht man zusammen Mittagessen.

Nachteil 5: Alte Leute vergraulen

Nichts ist ätzender, als irgendwelche Schlaumeier*innen, die glauben, Anderen die Welt erklären zu müssen. Außer vielleicht, wenn man sich selbst als solch ein Schlaumeier überführt. Zu Beginn eines Philosophie-Seminars hat es ein Dozent mal geradeheraus gesagt: »Sie werden den Leuten auf die Nerven gehen, mit dem, was Sie tun…« – jepp. Selbst die eigene Familie erkundigt sich höflich nach Prüfungsergebnissen, solange man bloß nicht loslegt mit irgendwelchen poststrukturalistischen Gender-Theorien – für dich gerade der neuste Shit und superduper spannend. Für Andere das, was doch schon seit Jahren in irgendwelchen drögen Büchern steht und da ganz gut aufgehoben ist.

Das Problem bei einem Fernstudium ist, dass du öfter mal Gesprächsbedarf zu Themen hast, die Menschen aus deiner unmittelbaren Umgebung gerade eher nicht so vom Hocker hauen. Schön und gut, dass man jederzeit mit aller Welt schreiben und skypen kann. Doch das Offline-Leben ist meist immer noch das wichtigere Leben – und da will man nicht die Nervensäge sein, die dauernd über ihre neuesten Erkenntnisse blubbert. Dafür gibt’s doch Blogs.

Fazit zum Fernstudium

Während dem Schreiben dieses Blogbeitrags habe ich eine Pause eingelegt. Ein Tag ist vergangen, die Welle der Euphorie über jene Prüfung ist abgeflaut… während sich auf meinem Schreibtisch neue Studienhefte türmen. Manche davon tragen echt langweilige Titel. Und ich weiß jetzt schon, dass die paar Monate bis Februar oder März wie im Flug vergehen werden. Dann reißt mich das Studium wieder für ein paar Wochen ein bisschen raus aus der Routine, woraus auch immer die dann gerade bestehen mag. Ich bin jetzt gerade erst knapp über die Hälfte, was das Fernstudium betrifft – ein bisschen früh dran für den Lobgesang hier.

Insofern bezieht sich mein Fazit auf ein sehr situatives, gegenwärtiges Gefühl: Das Fernstudium der Kulturwissenschaften, das ich vor zwei Jahren begonnen habe, bereichert seither mein Leben. Natürlich möchte ich es ausnahmslos allen ans Herz legen, aus dem impulsiven Gedanken heraus, dass es unsere Gespräche spannender, unsere Stimmung optimistischer, unser Miteinander vielseitiger machen würde. Gut möglich, dass eben diese Dinge aber auch auf tausend anderen Wegen zu erreichen sind.

Und weiter gedacht, wenn wirklich alle das Gleiche täten, ob sich daraus ein vielseitigeres Miteinander ergäbe? Vielseitiger als unsere Welt hier und heute, mit ihren technologischen Tentakeln und sozial-medialen Spektakeln? Den Vorwärts- und Rückwärts-Gewandten, den Felsenfesten und den völlig Verdrehten? Natürlich nicht. Alles gut so, wie es ist. So unendlich quirlig.

Kleine Leseliste

Ein paar Schriften, die ich im Rahmen des Fernstudiums gelesen und auf diesem Blog besprochen habe:

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ALL OF THIS IS TRUE von Lygia Day Peñaflor | Jugendbuch 2018 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/buch-all-of-this-is-true-2018/ http://www.blogvombleiben.de/buch-all-of-this-is-true-2018/#respond Wed, 19 Sep 2018 07:00:15 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4461 Dass man für Ruhm und Anerkennung zuweilen Grenzen überschreitet, ob als Polizistensohn oder Präsident – das…

Der Beitrag ALL OF THIS IS TRUE von Lygia Day Peñaflor | Jugendbuch 2018 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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Dass man für Ruhm und Anerkennung zuweilen Grenzen überschreitet, ob als Polizistensohn oder Präsident – das gehört zur gepflegten Sensationsgeilheit der Mediengesellschaft. Persönlichkeitsrechte verletzen auch die Jugendlichen aus All of this is true von Lygia Day Peñaflor. Ein Jugendbuch über eine Freundschaft, die alle Geheimnisse teilt und ein tödliches Ende anlockt.

Bloggerin Sonia Lensing mit dem Jugendbuch All Of This Is True

Seelenstriptease trifft Sensemann

»Everybody wants to be famous« singt die 2017 gegründete und via Internet bekannt gewordene Band Superorganism. Und fasst sich damit selbst ans Näschen. Zumal sich die 18-jährige Sängerin Orono mit der damals in Japan tourenden Band The Eversons anfreundete und per virtuellem Musikaustausch zu ihrer eigenen Band machte. So ähnlich wundersam mutet auch die Geschichte um die Romanfiguren aus All of this is true an. Das sind Miri, Soleil und Penny, die sich mit ihrem großen Vorbild anfreunden. Es geht um die exzentrische und populäre Autorin Fatima Ro. Mit ihr geraten die Mädchen in einen Strudel intimer Geheimnisse und verhängnisvollen Ruhms.

Buchempfehlung einer Engländerin

Meine Urlaubslektüre Mehr Schwarz als Lila (2017) zu Ende gelesen, schlenderte ich in die nächstgelegene Buchhandlung in Padstow (hier ein kleiner Reisebericht). Auf persönliche Empfehlung einer knapp 20-jährigen Buchhändlerin kaufte ich mir das in verführerischem Rot gehaltene Coming-of-Age Buch All of this is true. Zu meiner Freude sogar drei ganze Monate vor dem Erscheinen hierzulande – im Arena-Verlag (Erscheinungstermin: Oktober 2018). Also, wie war’s?

Zum Inhalt von All of this is true

Mit ihrem Roman Undertow katapultiert sich die junge Autorin Fatima Ro in die Herzen ihrer Leserschaft. Durch die unzensierte Preisgabe ihrer Gefühlswelt hinsichtlich des Todes ihrer Mutter und des eignen Selbstbildes, fühlen sich die Freundinnen Miri, Soleil und Penny der Schriftstellerin nah. Zu deren Glück verbringen sie den Abend nach der Autogrammstunde mit der Autorin selbst. Sie werden von Jonah begleitet, dem neuen und introvertierten Mitschüler. Schnell macht Fatima Ro deutlich, dass sie komplette Offenheit erwartet. Sie will mit ihren neuen Freunden sowohl Zeit als auch intime Geheimnisse teilen.

This is what it means to be transparent.

Fatima Ro

Durch den Freimut und das Vertrauen, das Fatima ihren neuen Homies entgegenbringt, wird sie in die Lebenswelten der Freundinnen integriert: während Miri Erfüllung darin findet, den Fatima-Fanclub zu vergrößern und mit Insider-Infos zu füttern, füttert Penny Fatimas Kater. Und Soleil und Jonah kommen sich Kapitel für Kapitel näher, fast auf dieselbe Weise wie das Paar in Fatimas Undertow. Dabei hüten Soleil, Jonah und Fatima bald gemeinsam ein Geheimnis, um Jonah zu schützen. Um sich nicht ausgeschlossen und nutzlos zu fühlen, unternimmt Penny eigene Nachforschungen zur geheimnisvollen Vergangenheit von Jonah. Was sie dabei herausfindet, zündet einen Skandal. Mit tödlichen Folgen, die Fatima Ro zur Bestsellerliste verhelfen.

Die vier Seiten der Medaille

Soweit die oben skizzierte Geschichte. Denn wer was gesagt, getan und intendiert hat, lässt der zweite Roman von Autorin und Kinderstar-Lehrerin Lygia Day Peñaflor im Zwielicht und macht die Leser*innen damit unfreiwillig selbst zu Ermittler*innen. Aufgrund des medialen Aufruhrs schildern Miri und Penny in Interviews jeweils ihre Sichtweise der Geschichte. Wohingegen Soleil, welche eine bestimmte Tragödie besonders mitnimmt, ihre Perspektive in einer Kolumne veröffentlicht. Von Fatima Ro fehlt jede Spur, um sie zur Rede zu stellen. Stattdessen liefert ihr neuer Roman, der die Story um die Freundinnen und um Jonah in einer eignen Geschichte wiedergibt, einige Hinweise. Hinweise und Aussagen, die Realität der Protagonisten mit der Fiktion verschmelzen.

Zur Wirkung des Buchs

Für Autor*innen im Segment Jugendbuch ist es das Ziel, eine Geschichte zu entwickeln, die das Interesse der als leseschwach etikettierten Jugendlichen weckt und hält. Hierfür muss die Story sowohl an der Lebenswelt angelehnt als auch andersartig sein. Vor allem aber müssen Protagonist*innen auftreten, die man mit dem eigenen Freundeskreis oder bestenfalls mit dem eigenen Ich verkuppeln könnte.

Betrachtet man die unterschiedlichen Figuren von Lygia Day Peñaflor, müsste die Chance relativ hoch sein, sich mit der ein oder anderen Figur zu identifizieren. Nur sucht man diesen Effekt vergeblich, solange sich die Charaktere eindimensional wie Scherenschnitt-Silhouetten durch die Geschichte bewegen. Selbst das multiperspektivische Erzählen hinterlässt bei den Lesern kaum den Eindruck facettenreicher Charaktere. Und wieso sich die Freundinnen in Hysterie für die Figur Fatima üben, bleibt den Leser*innen ein weiteres Rätsel.

Gut gemeint, gelinde gemacht

Das Konzept, eine Story mittels diverser journalistischer Formen wie E-Mails, fiktiven Buchseiten, Interviews und Hashtags erzählen zu lassen, ist ein wunderbarerer Ansatz, der am Transmedia Storytelling anknüpft. Das heißt, eine Geschichte parallel auf mehreren Kanälen zu erzählen, so dass ein fiktives Universum entsteht. Auch die Idee, fiktive Ebenen zu überlagern und verschmelzen zu lassen, wie etwa in dem Film Inception (2010), ist eine spannende Erzähltechnik, das Lesepublikum intellektuell anzuregen.

Doch der gutgemeinte Kunstgriff ist zum Scheitern verurteilt, wenn die Kunst als solche nicht selbst überzeugt. In diesem Punkt enttäuscht mich das Buch, da das Wechseln der Perspektiven und der Ebenen Fiktion und fiktive Fiktion (intradiegetisch, ums mit Genette zu sagen) vom Wesentlichen ablenken, so dass die jugendliche Leserschaft an der Oberfläche schwimmt und sich von den Figuren nicht wirklich mitreißen lassen kann. 

Fazit zu All of this is true

Drei Freundinnen, ein mysteriöser neuer Mitschüler und eine berühmte Autorin werden Freunde, bis ein Skandal ans Licht kommt und eine Figur ins Krankenhaus befördert. Zu allem Übel berichten die Betroffenen alle etwas anderes. Wem soll man also Glauben schenken? Was nach einer wilden Geschichte aussieht, entpuppt sich als Dschungel fiktiver Elemente. Das Verblenden von fiktiver Realität – die Welt von Miri und Co – und der fiktiven Fiktion – den Figuren in Fatimas Roman – strickt einen Mantel, durch den sich das eigentliche Geschehen und der emotionale Zugang zu den Figuren nur erahnen lässt. Ein Umstand, der die Jugendlichen mit etwas Glück zum Selber-Schreiben anregt. Ich vergebe 6 Sterne.

Titel
All of this is true
Erscheinungsjahr
2018
Autor*inLygia Day Peñaflor
Verlag
Arena Verlag
Umfang360
Altersempfehlung12
ThemaAnerkennung, Freundschaft, Geheimnisse

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ANOUK UND HERR BÄR von Mascha Wolfram | Kinderbuch 2017 http://www.blogvombleiben.de/buch-anouk-und-herr-baer-2017/ http://www.blogvombleiben.de/buch-anouk-und-herr-baer-2017/#comments Sun, 09 Sep 2018 07:00:59 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5100 Vorurteile sind klebrig. Haben sich einmal einige angesammelt, wird es anstrengend, sie wieder wegzubekommen. Umso wichtiger,…

Der Beitrag ANOUK UND HERR BÄR von Mascha Wolfram | Kinderbuch 2017 erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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Vorurteile sind klebrig. Haben sich einmal einige angesammelt, wird es anstrengend, sie wieder wegzubekommen. Umso wichtiger, schon früh ein Gefühl für das Wesentliche zu entwickeln und manch Vorurteilen ihre Anziehung zu stehlen. Mit Anouk und Herr Bär lernen die Kleinen, dass nicht alles so düster ist, wie es zunächst scheint.  

Mascha und der Bär

Zum Inhalt: Die kleine Anouk geht mit ihren beiden großen Schwestern Pilze sammeln. Als sie sich auf einmal schwesterseelenallein im Wald wiederfindet, trifft sie auf den großen Bären, der von allen gefürchtet wird. Auch Anouk bekommt Angst, spürt aber schnell, dass der Bär anders ist, als alle glauben.

Bloggerin Sonia Lensing mit dem Kinderbuch Anouk und Herr Bär

Zur Wirkung des Buchs

Die Urangst als Leseköder

Anouk kann ihre Schwestern im Wald nicht finden und ist somit allem ausgeliefert, was im Wald ein- und ausgeht. Unter dieser Prämisse kreiert die Kinderbuch-Autorin Mascha Wolfram ein Szenario, welches an die Urangst des Verlassen-Werdens andockt und jedem Menschen – ob groß oder klein – ein vertrauter Begleiter ist. Damit bietet das Kinderbuch Anouk und Herr Bär eine gewisse Nähe zur kindlichen Lebenswelt und unterstützt die (Vor-)Lesemotivation.

Ein Motiv für gespitzte Kinderohren

Bei der Erinnerung, wie sich mein Vater einst einen Spaß daraus machte, sich während eines Waldspaziergangs heimlich zu verstecken, überkommt mich immer noch ein flaues Gefühl. Als mein Bruder und ich uns vom unbekümmerten Spiel umsahen – und niemanden erblicken konnten – rieb sich die Panik die Hände und kroch unter unsere Haut. Zwar kannten wir nicht die Geschichte des Herrn Bären, aber doch die von Hänsel und Gretel. Und abgesehen von den Süßigkeiten war die Geschichte bitterböse. Unser Vater hat seinen Streich schnell aufgelöst, uns aber seitdem wachsamer durchs Laub streunen lassen. Das literarische Motiv des Alleinsein im Wald eignet sich demnach bestens, damit Kinder mit gespitzten Ohren der Erzählung lauschen.

Kindgerechtes Storytelling

Einen großen Buckel soll er gehabt haben und Krallen so scharf wie Messerklingen. In sein gewaltiges Maul soll er sich zum Frühstück kleine Kinder mit Salz und Pfeffer gestopft haben.

Mascha Wolfram, in: Anouk und Herr Bär

Keine Angst, Ihr Kind hält das aus. Denn, was uns gegenwärtige Kindermedien mit niedlichen Figuren und Wohlfühl-Glitzer schonmal vergessen lassen, ist der oftmals brutale Kern zugrunde liegender Märchen. Der wird für heutige Zeiten von Medienproduzent*innen und Eltern großzügig übersprungen, von manchen für Erziehungszwecke aber auch gesucht. So verkauft sich der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann noch heute und gilt »als das am längsten kontinuierlich verlegte deutsche Kinderbuch« (Walter Sauer).

Im Gegensatz zu dieser schwarzen Pädagogik erwartet Kinder- und Jugendbuchautorin Sylvia Englert für die jüngsten Leser*innen auf jeden Fall ein Happy End (nachzulesen in ihrem Handbuch für Kinder- und Jugendbuchautoren) . Schließlich reagieren Kindergarten- und Vorschulkinder auf Konflikte und zu steilen Spannungsbögen empfindlich, insbesondere vor dem Schlafengehen. Doch, um die Zeilen, die ich aus einer provokanten Laune heraus als Lesepröbchen oben platziert habe, nochmals zu entschärfen: Das Bilderbuch Anouk und Herr Bär versorgt Kinder mit der richtigen Dosis an spannenden Elementen, die auch für Kleine gut bekömmlich sind.

Buchtipp: Statt ein Bär im Wald lieber eine Katze in Paris? Hier geht es zur Buchkritik von Angelika Glitz’s Mit einer Katze nach Paris (2017).

Kinderfiguren mit Charakter

Das erste, was mir bei Anouk und Herr Bär auffiel, ist die Parallele zu meiner aktuellen Lieblings-KiKA Serie: der russische YouTube-Hit Mascha und der Bär. Es handelt von einer Geschichte über die Freundschaft zwischen einem häuslichen Bären und einem kleinen, mutigen Mädchen namens Mascha. Nicht ganz so naiv und nervtötend wie Mascha ist die kleine Anouk aus dem Kinderbuch.

Durch die wenige wörtliche Rede wirkt Anouk eher zurückhaltend als zappelig. Zudem zeigt sie ein intuitives Gespür, als sie sich ihrer misslichen Lage im Angesicht des Bären bewusst wird und erst einmal in Tränen ausbricht. Das kindliche Ass im Ärmel, um vom Monster-Bären womöglich Mitleid zu erhaschen. Zum Glück ist das gar nicht nötig, wie sich schnell herausstellt – und Kinder aufatmen lässt. Durch den Kontrast zwischen der physischen Kraft des Bären und dessen piepsiger Stimme sickert in die vermeintlich bedrohliche Situation ein guter Tropfen Humor. Dieser verdunstet allerdings in dem Moment, als Anouk sieht, dass der Bär im Grunde einsam und traurig ist.

Indem Anouk dem Herrn Bär selbstverständlich vorschlägt, zu ihr zu ziehen, greift die Autorin in Anouk und Herr Bär die unbefangene Kinderperspektive auf. Logisch, dass man diese Gastfreundschaft einem neuen Freund anbietet. Auf diese Weise wäre der Einsamkeit des Bären ein Ende gesetzt und Anouk hätte einen neuen Spielpartner. So ähnlich einfach und positiv endet auch das Kinderbuch für Anouk und ihren felligen Freund. Ob der am Ende tatsächlich bei Anouk einzieht, überlässt die Kinderbuch-Autorin jedoch der kindlichen Fantasie…

Kein Wiedersehen

Zum Ende: Ein wenig schade an der Story ist, dass das Wiedersehen mit Anouks Schwestern nicht thematisiert wird und stattdessen die unbekannten Bewohner*innen des Dorfes auftreten. Durch den Begriff der »Bewohner« baut sich sprachlich eine Distanz zu den Figuren und dem Geschehen auf, so dass die innere Anteilnahme der kleinen Leser*innen nur oberflächlich erfolgt. An dieser Stelle besteht Potenzial, dem Kind die Freude über das gemeinsame Wiedersehen zwischen den Geschwistern emotional miterleben zu lassen. Somit wäre Anouk wie auch den Leser*innen geholfen, diese unangenehme Angst des Verlassen-Werdens abzuhaken und sich aufs neue Zusammensein zu freuen.

Zur Visualität: Mascha Wolfram, Grafikdesignerin und Master-Studentin der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim, verfolgt in ihrem Bilderbuch-Debüt einen minimalistischen und aufs Wesentliche fokussierten Zeichenstil. Die gradlinigen und kurvigen Formen erinnern mich an die Pariser Illustratorin und Animatorin Agathe Sorlet.

Jedenfalls enthält dieses sympathische Grafikdesign in Anouk und Herr Bär eine ideale Informationsdichte, an der auch kleine Kinder ab 3 Jahren Vergnügen haben. Ohne zu lang nach dem eigentlichen Handlungsstrang suchen zu müssen, kann sich das kindliche Auge entspannt auf die klar gezeichneten Figuren, deren eindeutige Mimik und die elterliche Stimme richten. Die kühle Farbgebung erzeugt eine winterliche Atmosphäre, die umso mehr zum Einkuscheln einlädt.

Fazit zu Anouk und Herr Bär

Wer Mascha und der Bär mag, wird auch Anouk und Herr Bär mögen. Etwas weniger actionreich, emotional und in langsameren Tempo erzählt das Bilderbuch in punktgenauen Illustrationen und einfacher Sprache eine märchenhafte und melancholisch angehauchte Geschichte über den Mut, Vorurteile abzubauen und die Chance, die daraus entsteht. Mascha Wolfram hat ein Kinderbuch geschaffen, das ermutigt, sich sein eigenes Bild über andere zu machen. Ich vergebe 8 Sterne. 

Titel
Anouk und Herr Bär
Erscheinungsjahr2017
Autorin, IllustratorinMascha Wolfram
Verlag
Edition Pastorplatz
Umfang
52 Seiten
Altersempfehlung
ab 3 Jahren
Thema
Mut, Vorurteile

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EINE KURZE GESCHICHTE DER MENSCHHEIT | Buch 2013 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/eine-kurze-geschichte-der-menschheit-buch-2013-kritik/ http://www.blogvombleiben.de/eine-kurze-geschichte-der-menschheit-buch-2013-kritik/#respond Thu, 30 Aug 2018 06:00:55 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5197 In Die Gutenberg-Galaxis (1962) beschreibt der Medientheoretiker Marshall McLuhan eine Zeit, in der das Buch als…

Der Beitrag EINE KURZE GESCHICHTE DER MENSCHHEIT | Buch 2013 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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In Die Gutenberg-Galaxis (1962) beschreibt der Medientheoretiker Marshall McLuhan eine Zeit, in der das Buch als Leitmedium die Welt beherrschte. Später wurde sein Werk in Kontrast zur »Internet-Galaxis« gesetzt, als das World Wide Web damit begann, unser Weltwissen zu archivieren. McLuhan scheint das Internet vorhergesehen zu haben und sprach auch bereits – 30 Jahre, bevor alle damit anfingen – vom »Surfen« als Metapher für die Bewegung »auf der elektronischen Welle«. Heute rollt die Welle über einen gewaltigen Ozean des Wissens – und obwohl wir alle surfen, gehen viele darin unter. In solch einer Zeit zeigt Eine kurze Geschichte der Menschheit von Yuval Noah Harari, dass das Buch, wenn nicht mehr Leitmedium, so doch mindestens ein Brett sein kann, auf dem wir Stand halten – und ein Kompass sowieso, in der digitalen Ära.

Weltherrschaft der bewaffneten Schafe

Inhalt: Wie sind die Menschen zu dem geworden, was sie heute sind? Wie kam es, dass wir Zehntausende von Jahren als affenartige Tiere unser Dasein in der afrikanischen Wildnis fristeten, nicht bemerkenswerter als »Gorillas, Libellen oder Quallen» – doch uns dann geradezu plötzlich anschickten, den Planeten zu erobern? Was hat es mit der »kleinen Verschiebung in der Struktur des Gehirns« auf sich, die wir die Kognitive Revolution nennen – und was geschah seitdem in der wirklichen und imaginären Welt des Homo sapiens, der in vergleichsweise kurzer Zeit an die Spitze der Nahrungskette geklettert ist? Yuval Noah Harari liefert eine Zusammenfassung der Menschheitsgeschichte – in 20 Kapiteln, auf rund 500 Seiten.

Andere Raubtiere wie Löwen oder Haie hatten sich über Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasst. Die Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf den anderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit, sich darauf einzustellen. Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichte lassen sich mit dieser überhasteten Entwicklung erklären […]. Die Menschheit ist kein Wolfsrudel, das durch einen unglücklichen Zufall Panzer und Atombomben in die Finger bekam. Die Menschheit ist vielmehr eine Schafherde, die dank einer Laune der Evolution lernte, Panzer und Atombomben zu bauen. Aber bewaffnete Schafe sind ungleich gefährlicher als bewaffnete Wölfe. | S. 21 1

Das Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit, im Hintergrund menschliche Schädel.

Regalfach: Das Werk im Zusammenhang

Literarischer Kontext | zum Autor des Buchs

Yuval Noah Harari ist 1976 in der israelischen Küstenstadt Haifa geboren und wuchs in einer jüdischen Familie mit libanesischen und osteuropäischen Wurzeln auf. Seit seinem 30. Lebensjahr lehrt er an der Hebräischen Universität Jerusalem. Zu dieser Zeit kannte er bereits seinen späteren Manager und Ehemann Itzik Yahav, den er in Kanada heiratete, da in Israel gleichgeschlechtliche Eheschließungen untersagt sind. Im Ausland geschlossene, gleichgeschlechtliche Ehen werden jedoch anerkannt – anders als schräg gegenüber am saudi-arabischen Ufer des Roten Meeres, wo auf gleichgeschlechtliche Eheschließungen die Todesstrafe steht. Harari über schwulenfeindliche Gesetze:

Die Kultur behauptet gern, sie verbiete »unnatürliche« Dinge. Aber aus biologischer Sicht ist nichts unnatürlich. Alles was möglich ist, ist definitionsgemäß auch natürlich. Eine unnatürliche Verhaltensweise, die den Gesetzen der Natur widerspricht, kann es gar nicht geben, weshalb es völlig sinnlos ist, sie verbieten zu wollen. Keine Kultur hat sich je die Mühe gemacht, Männern die Photosynthese oder Frauen die Fortbewegung mit Überlichtgeschwindigkeit zu verbieten. | S. 184

Gespickt mit spitzen Bemerkungen wie diesen ist Eine kurze Geschichte der Menschheit 2011 zunächst in Israel erschienen, auf Hebräisch. 3 Jahre später folgte eine Übersetzung ins Englische – und inzwischen liegt das Buch in über 45 Sprachen vor. Als Amerika noch einen Präsidenten hatte, der Bücher las, fand dieser für Hararis Werk lobende Worte: »Interessant und provokant« nannte Obama das Buch gegenüber Fareed Zakaria (CNN).

Es bespricht einige Kernelemente, die uns ermöglicht haben, diese außerordentliche Zivilisation aufzubauen, die wir für gegeben hinnehmen.

Barack Obama

Ja, ja, für gegeben hinnehmen… wie heißt es so schön? »Vieles lernt man erst zu schätzen, wenn man es nicht mehr hat.« – und nein, das ist kein Trump-Tweet.

Persönlicher Kontext

Es war im November 2016 – nach jenem traurigen Wednesday Morning nach der US-Wahl, den Macklemore später mal wieder weit besser in Worte fasste, als ich mich hätte artikulieren können – als ich unter dem frischen Eindruck meines Glaubensverlustes an die Menschheit (Trump, Brexit und London Has Fallen, dieser Schrottfilm des Jahres!) nach Antworten suchte. Unterm Strich auf die Frage: Sind wir immer schon so blöd gewesen? Auf globale Krisen mit nationaler Isolation reagieren, ernsthaft, das ist gerade Phase – schon wieder!? Aus dieser (schlechten) Laune heraus tätigte ich einen Lustkauf. Der Name Harari war mir noch unbekannt, bloß Cover und Titel sprachen mich an und ich hatte eine lange Autofahrt vor mir, also her mit dem Hörbuch!

Was seither geschah: Ich habe Eine kurze Geschichte der Menschheit erst gehört, dann gelesen, dann Hararis nächstes Buch Homo Deus noch im Original verschlungen, ehe es im April 2017 endlich auf Deutsch herauskam, um es auch dann noch einmal in deutscher Übersetzung zusammen mit einem syrischen Kumpel zu lesen und zu diskutieren – von zwei unterschiedlichen kulturellen Standpunkten aus, das machte die Lektüre umso spannender. Mit Sonia besuchte ich die Ausstellung in Bundeskunsthalle in Bonn, Eine kurze Geschichte der Menschheit – 100.000 Jahre Kulturgeschichte, basierend auf Hararis Veröffentlichungen. Ach ja, und seither ist (Spoiler-Alert!) jedes Geburtstagspräsent, das ich verschenke, entweder das eine oder das andere Buch von Yuval Noah Harari.

Ein Blick hinter die Kulissen der Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle – auch der Autor Yuval Noah Harari kommt hier zu Wort:

Die Experten-Falle

Bin ich ein Fan? Ja und nein. Ich habe durchaus die Befürchtung, dass dem Autor sein Kultstatus zu Kopf wachsen könnte und er in die »Experten-Falle« tappt, was etwaige Interviews und Gesprächsrunden über die Zukunft angeht.

Bei der Bewertung der intuitiven Urteile von Experten sollte man immer erwägen, ob der Experte hinlänglich Gelegenheit hatte, seine Fähigkeit zur Mustererkennung zu üben, auch in einem regelmäßigen Umfeld.

Daniel Kahneman, in: Schnelles Denken, langsames Denken (2017), S. 300

Es gibt kein unregelmäßigeres Umfeld, als die menschliche Geschichte und Gesellschaft, was nunmal Hararis Themen sind. Gewiss, er schreibt sehr Fakten-orientiert und betont immerzu, dass man keine sicheren Vorhersagen treffen kann; andererseits geht er zuweilen leichtfertig mit großen Begriffen und Fragen um. Daniel Kahneman hat in Schnelles Denken, langsames Denken (2017) überzeugend dargelegt, wie schnell Menschen, denen man einen Experten-Status zuspricht, zu voreiligen oder verfehlten Urteilen neigen, weil alle (sie eingeschlossen) schnell mal ihre Expertise überschätzen. Trotzdem bin ich sehr gespannt auf Hararis nächstes Buch!

Aktuell: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert von Yuval Noah Harari ist ab heute (30. August) auf Englisch verfügbar und ab dem 18. September dann auch in deutscher Übersetzung.

Leselupe: Das Werk im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Buchs

Ob es uns gefällt oder nicht, wir gehören der großen und krawalligen Familie der Menschenaffen an. | S. 13

Nach einem kurzen biologischen Diskurs kommt Harari recht zügig auf das Thema seines Buchs zu sprechen. Denn das ist weder die Geschichte des Universums (Physik), noch die Geschichte der Atome und Moleküle (Chemie), oder die Geschichte der Organismen (Biologie), wie den besagten Menschenaffen in tierischer Hinsicht. Stattdessen geht es ihm um die Geschichte der menschlichen Kulturen – von den Techniken und Wissenschaften über die Religionen und künstlerischen Erzeugnisse bis hin zu den Funktionsweisen und Ideologien, die unseren Gesellschaften im Laufe der Geschichte zugrunde lagen und liegen.

Eine Menschheitsgeschichte, die sich nicht in Antike, Mittelalter, Neuzeit gliedert – das ist für notorische Geschichtsmuffel doch schonmal hochsympathisch! Statt der üblichen Epochengliederung fächert sich Eine kurze Geschichte der Menschheit in 4 Teile auf, überwiegend benannt nach Revolutionen, die einen anderen Charakter haben, als etwa die Französische Revolution von 1789 oder die Russische Revolution von 1917. Vielmehr geht es um schleichende, übergeordnete Veränderungen wie die Industrielle Revolution – doch auch dieser ist kein Kapitel explizit, namentlich gewidmet. Die Gliederung schaut im Groben wie folgt aus:

Gliederung nach Revolutionen

  • Teil 1: Die kognitive Revolution (der Mensch wird fähig, in größeren Gruppen von über 150 Individuen zu kommunizieren und Pläne zu schmieden – es geht darum, wie unsere urzeitlicher Alltag ausgesehen hat und wie wir uns ausbreiteten, über den gesamten Planeten)
  • Teil 2: Die landwirtschaftliche Revolution (der Mensch wird sesshaft und entwickelt die Schrift – wir bauen Pyramiden, behandeln einander jedoch ungerecht; hier rücken Sklaverei und Geschlechterrollen in den Fokus)
  • Teil 3: Die Vereinigung der Menschheit (der Mensch erschafft Geld, Götter und andere große Ideen, die Gemeinschaften zusammenhalten – aber warum funktioniert Geld überhaupt? Und was ist ein Imperium? Solche Fragen werden in diesem Teil beantwortet)
  • Teil 4: Die wissenschaftliche Revolution (der Mensch schaut über den Horizont hinaus, entdeckt Kontinente und Keimzellen – die Weltbeherrschung durch Homo sapiens nimmt an Fahrt auf; legendäre Entdeckungsreisen und der Siegeszug des Kapitalismus stehen im abschließenden Teil im Mittelpunkt)

Geschichte als Abenteuerroman

Hararis Erzählung beginnt in grauer Urzeit – und nimmt zum Beispiel die ersten Menschen in den Fokus, die einen Fuß auf australischen Boden setzten. Harari beschreibt die verheerenden Folgen für die dortige Fauna in so schlichter und schöner Sprache, als lese man einen Abenteuerroman:

Auf ihrem Weg trafen die Menschen auf eine sonderbare Welt voller unbekannter Lebewesen: Sie stießen auf Kängurus, die 200 Kilogramm wogen und zwei Meter hoch aufragten, und auf Beutellöwen, die so groß waren wie die heutigen Tiger und die größten Raubtiere des Kontinents darstellten. […] Und in den Wäldern hausten das Zygomaturus trilobus, das gewisse Ähnlichkeit mit einem Zwergnilpferd hatte und eine halbe Tonne wog, und das gigantische, zweieinhalb Tonnen schwere Diprotodon. […] Innerhalb weniger Jahrtausende verschwanden diese Riesen. Von den 24 australischen Tierarten, die über 50 Kilogramm wogen, starben 23 aus. | S. 88

Der Autor wird nicht müde zu betonen, dass er bei seiner Beweisführung oft auf Indizien zurückgreift und dass es, je weiter man zurückschaut, desto weniger Gewissheiten gibt – und doch sind Hararis Argumente, die Homo sapiens etwa als Massenmörder und Artenvernichter darstellen, sehr überzeugend.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Buchs

Am Ende von Eine kurze Geschichte der Menschheit läuft alles auf eine »permanente Revolution« hinaus. Eine solche sieht Harari gegeben in unserer stetig im Wandel begriffenen Gegenwart, zu der er immer wieder einen Bezug herstellt, wenn er auch längst vergangene Geschehnisse und Systeme bespricht. Ausgerechnet eines meines liebsten Beispiel dafür ist aus der deutschen Übersetzung gestrichen worden (!?) – nämlich der letzte Satz aus diesem Abschnitt (den ich jetzt mal notdürftig selbst ins Deutsche übersetzt habe):

Imperien bringen in der Regel Mischkulturen hervor, die dem Einfluss der eroberten Völker viel zu verdanken haben. Die Kultur des Römischen Reichs war beispielsweise fast so griechisch wie römisch. Die Kultur des Abbasidenreichs speiste sich aus persischen, griechischen und arabischen Quellen. Und das Mongolenreich war eine Kopie des chinesischen Kaiserreichs. In den imperialen Vereinigten Staaten kann ein amerikanischer Präsident mit kenianischem Blut eine italienische Pizza mampfen, während er seinen britischen Lieblingsfilm Lawrence von Arabien anschaut, über die arabische Rebellion gegen die Türken. | S. 243

Warum ist dieser letzte Satz nicht in der deutschen Übersetzung von Eine kurze Geschichte der Menschheit? Nicht mehr aktuell, oder was? Bitte schön:

In den imperialen Vereinigten Staaten kann ein amerikanischer Präsident mit deutsch-schottischem Blut einen mexikanischen Taco mampfen, während er seinen italienischen Lieblingsfilm The Good, The Bad, The Ugly anschaut, über den Sezessionskrieg zwischen den Nord- und Südstaaten.

Man muss ja nicht dazuschreiben, dass dieser Präsident ein debiler Nationalist ist, der nach dem Film sein (vermutlich in China produziertes) Handy zückt und »BUILD THE WALL!!! AMERICA FIRST!!!« an die Weltbevölkerung hinauszwitschert. (Kann man aber ruhig dazuschreiben. Finde ich.)

Apropos Menschen mit sehr kurzer Aufmerksamkeitsspanne: Eine noch kürzere Geschichte der Menschheit bietet die Animationsschmiede Kurzgesagt aus München. In Ergänzung zum Buch sehr sehenswert, das Webvideo: Woher kommen wir?

Er und Sie – und zu kurze Schlüsse

In einem Punkt möchte ich Harari vehement widersprechen. In dem Kapitel »Die Geschichte ist nicht gerecht« schreibt der Autor über die Geschlechterrollen im Laufe der Menschheitsgeschichte. Vorweg bringt er in Eine kurze Geschichte der Menschheit zwei prägnante Beispiele für den tradierten Frauenhass: Sei es, dass die ältesten chinesischen Texte aus dem 12. Jahrhundert die Geburt eines Mädchens als Unglück bezeichnen, oder dass in der Bibel die Vergewaltigung einer Jungfrau damit »gebüßt« wird, dass der Vergewaltiger dem Vater die entjungferte Frau zur Strafe abkaufen und sein Leben lang behalten muss. Nach diesen Beispielen wirft Yuval Noah Harari eine Frage auf:

Ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen ein Fantasieprodukt […]? Oder handelt es sich um einen natürlichen Unterschied? Anders gefragt, gibt es biologische Gründe für die Privilegien, die Männer gegenüber Frauen genießen? | S. 182

Anders gefragt: Gibt es das schwache Geschlecht? Eine Beantwortung aus biologischer Sicht haben wir vor kurzem Mithilfe von Simone de Beauvoir vorgenommen. Hier zu lesen.

Harari kommt da ziemlich rasch auf eine ziemlich flache Antwort: 

Das biologische Geschlecht ist Kinderkram […] Nichts ist einfacher, als biologisch ein Mann zu werden: Man wird mit einem X- und einem Y-Chromosom geboren, und fertig. Eine Frau zu werden, ist nicht schwieriger: Ein Paar von X-Chromosomen reicht vollkommen aus. | S. 187

Wilde Spekulation, statt weiterführender Literatur

So weit, so vereinfacht. In sozialer, respektive gesellschaftlicher Hinsicht eine Frau oder ein Mann zu werden, das ist ungleich schwieriger – darin sind Harari und Beauvoir d’accord. Als Harari dann zu ergründen versucht, warum die Frau zu allen Zeiten und in allen Kulturen unterdrückt wurde, geht er die klassischen Argumente durch: Muskelkraft, Aggressivität, Patriarchat. Nach ein paar Seiten zieht Harari sein Fazit:

Wie kam es, dass in einer Art, deren Erfolg vor allem von der Kooperation abhängt, eine vermeintlich kooperativere Gruppe, nämliche die Frauen, von einer vermeintlich weniger kooperativen Gruppe, nämlichen [sic!] den Männern, beherrscht wird? Das ist die große Frage in der Geschichte der Geschlechter, und auf sie haben wir bislang keine überzeugende Antwort. | S. 197

Doch, haben wir. Ziemlich überzeugend sogar, finde ich – nur eben viel zu ausführlich, als dass sie in Eine kurze Geschichte der Menschheit passt. Die Philosophin Simone de Beauvoir erklärt in ihrem Standardwerk Das andere Geschlecht (1949) sehr detailliert, wie es kam, dass die Männer die Frauen beherrsch(t)en. Es ist eine komplexe Mischung aus besagten Argumenten, der Muskelkraft, der Aggressivität und (vor allem) des Patriarchats. Statt aber auf weiterführende Literatur zu verweisen, spekuliert Harari:

Zufällige Sensibilität für Schwachstellen

Vielleicht ist ja schon die Grundannahme falsch. Könnte es sein, dass sich die männlichen Angehörigen der Homo sapiens gerade nicht durch überlegene Körperkraft, Aggressivität und Konkurrenzfähigkeit auszeichnen, sondern durch überlegene Sozialkompetenz und größere Kooperationsbereitschaft? | S. 197

Es tut mir ein bisschen weh, dieses Zitat aus Eine kurze Geschichte der Menschheit hier zu platzieren – weil es mir mein Loblied auf dieses (trotzdem…) großartige Buch kaputt macht. Eine beschämend hanebüchene Behauptung ist das, die aus dem Nichts kommt und ohne Erläuterung stehen gelassen wird. Es drängt sich der Verdacht auf, dass mir diese Schwachstelle nur deshalb auffällt, weil ich in Sachen Gender Studies aktuell wegen einer anstehenden Philosophie-Prüfung bloß zufällig ein bisschen tiefer im Thema bin – und mir andere Schwachstellen deshalb nicht auffallen, weil mein Allgemeinwissen schlicht zu oberflächlich ist. Andere Schwachstellen, wie Hararis »Nazis sind Humanisten«-Gleichung vielleicht?

Ein kurzes Statement zur Ver(w)irrung

Googelt man »Harari«, stolpert man recht schnell über Die große Harari-Ver(w)irrung – ein Text des Philosophen und Schriftstellers Michael Schmidt-Salomon, veröffentlicht auf der Website des Humanistischen Pressedienst. Es handelt sich dabei um einen gnadenlosen Zerriss beider Bücher von Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit und Homo Deus werden darin anhand eines einzigen (aber wichtigen) Aspekts vernichtend abgefrühstückt. Dieser Aspekt ist Hararis Humanismus-Auffassung. Der Auftakt zu Schmidt-Salomons »Warnung« vor Harari mutet etwas banal an:

In beiden Büchern meint Harari auch, den Humanismus als eine »Religion« charakterisieren zu müssen (eine Differenzierung zwischen »Religionen«, »Weltanschauungen« oder »Philosophien« sucht man vergeblich) […]

Michael Schmidt-Salomon, in: Die große Harari-Ver(w)irrung | 01. August 2017

In Homo Deus nennt Harari den Humanismus zwar auch mal eine »Weltsicht« (S. 336), aber egal, interessanter ist seine Bemerkung in Eine kurze Geschichte der Menschheit:

Die Moderne erlebte den Aufstieg zahlreicher neuer Naturgesetz-Religionen, zum Beispiel des Liberalismus, des Kommunismus, des Kapitalismus, des Nationalismus und des Nationalsozialismus. Die Anhänger dieser Religionen reagieren zwar sehr allergisch auf das Wort »Religion« und bezeichnen sie lieber als »Ideologien«. Doch das ist lediglich ein Wortspiel […] | S. 277-278

Für und gegen ein und dieselbe Sache?

Dass sich Schmidt-Salomon auf dieses Wortspiel einlässt und daran stößt, den Humanismus (der in der eben zitierten Aufzählung fehlt, aber im selben Kapitel diskutiert wird) als »Religion« bezeichnet zu sehen, macht Sinn: Michael Schmidt-Salomon ist seinerseits dezidierter Humanist und Religionskritiker. Er hat sogar ein Manifest für den Humanismus und ein Kinderbuch gegen Religionen geschrieben – da wäre ich auch stinkig, wenn jemand sagen würde: »Ist doch dasselbe.«

Harari zählt in Eine kurze Geschichte der Menschheit ein paar »wichtige Splittergruppen« des Humanismus auf – namentlich: den liberalen, sozialistischen und evolutionären Humanismus. Gemeinsam sei ihnen die Ansicht, dass der Mensch über eine einmalige Natur verfügt, die ihn wesentlich von allen anderen Organismen unterscheidet. Ihr höchstes Gut sei das Wohl des Menschen. Der evolutionäre Humanismus im Speziellen besagt, so Harari:

Die menschliche Natur unterliegt Veränderungen. Die Menschen können zum Untermenschen degenieren oder sich zum Übermenschen entwickeln. […] Das oberste Gebot ist der Schutz der Menschheit vor der Degeneration zum Untermenschen und die Züchtung des Übermenschen. | S. 283

Da schrillen alle Alarmglocken, verständlicherweise. Ausgerechnet der evolutionäre Humanismus muss in Eine kurze Geschichte der Menschheit herhalten, um die Ideologie der Nazis in Relation zu anderen Glaubensvorstellungen darzustellen, mit historisch aufgeladenen Begriffen wie dem »Übermensch«, den man auch dieser Tage noch weniger auf Nietzsche als die Nazis zurückführt. Das rückt den evolutionären Humanismus in ein sehr schlechtes Licht.

Dabei ist (ausgerechnet!) dieser Humanismus doch das Steckenpferd von Michael Schmidt-Salomon. Sein Manifest heißt: Manifest des evolutionären Humanismus: Plädoyer für eine zeitgemässe Leitkultur (2006). Ich hatte keine Zeit (und Muße) es vor diesem Blogbeitrag noch zu lesen, weshalb ich hier vielmehr auf Schmidt-Salomons Kritik hinweisen, als Harari gegen ihn verteidigen möchte – nichtsdestotrotz:

Der evolutionäre Humanismus der Gegenwart

Als Yuval Noah Harari zu Besuch in Facebook’s Buchclub war (das klingt romantischer, als es ist: Eine Facebook-Gruppe mit dem Titel A Year of Books, benannt nach der entsprechenden Website), fragte Mark Zuckerberg den Historiker, ob der evolutionäre Humanismus eine zunehmend verbreitete Philosophie werde – angesichts des technologischen Fortschritts. Harari antwortete:

In der Gegenwart scheint der evolutionäre Humanismus zurück im Rennen zu sein. Nachdem es nach dem Zweiten Weltkrieg in Verruf geraten war, kommt es plötzlich wieder in Mode, über das Upgraden von Menschen zu sprechen. Natürlich sind die Methoden und die Ethik heute grundverschieden. Ich habe überhaupt keine Intention, den evolutionären Humanismus der Gegenwart mit den Nazis zu vergleichen. Aber ich tippe, dass irgendeine Variante des evolutionären Humanismus die dominierende neue Religion des 21. Jahrhunderts sein wird.

Yuval Noah Harari, in: A Year of Books, Q&A | 30. Juni 2015

Hararis Begriffsverwirrung

Mal abgesehen davon, dass Harari hier wieder von »Religion« spricht (Dude!) – zieht er sich mit dieser Antwort (die übrigens schon 2 Jahre vor Schmidt-Salomons Artikel durchs Internet schwirrte) denn aus der Affäre? Nein, die Kritik Schmidt-Salomons ist grundlegender: Er wirft Harari eine »Begriffsverwirrung« vor, dafür, dass der Historiker den »evolutionären Humanismus« als Begriff überhaupt bemüht. Und Schmidt-Salomon ist insofern recht zu geben, als der evolutionäre Humanismus begrifflich schon aus der Gegenposition des Rassismus kommt (1935 verwendete ihn der Begründer des Begriffs, Julian Huxley, in dem Buch We Europeans: A Survey on Racial Problems).

Fakt ist jedoch, dass es für ihn einige dramaturgische Vorteile mit sich brachte, den evolutionären Humanismus kontrafaktisch mit Hitler und den sozialistischen Humanismus kontrafaktisch mit Stalin zu verbinden. Denn ohne diesen Kniff hätte die Geschichte, die Harari seinen Leserinnen und Lesern verkaufen wollte, nämlich die Geschichte vom nahenden Untergang des Humanismus, gar nicht funktioniert.

Michael Schmidt-Salomon, in: Die große Harari-Ver(w)irrung | 01. August 2017

Nun hat Harari – wie zitiert – nicht für den nahenden Untergang, sondern vielmehr den Aufstieg des (evolutionären) Humanismus getippt. Dieses Hin und Her lasse ich an dieser Stelle so stehen: Die Gefahr, dass eine (sehr) kurze Geschichte der Menschheit mit einigen Kürzungen und notwendigen Vereinfachungen danebengreift, ist groß. Auch in der »Ver(w)irrung«-Kritik drängt sich wieder der Verdacht auf, dass Schmidt-Salomon diese Schwachstelle bei Harari gerade deshalb entdeckt hat, weil es zufällig sein eigenes Fachgebiet ist, auf dem Schmidt-Salomon sich entsprechend auskennt. Ich kann nicht beurteilen, wie viele weitere Schwachstellen in dem Buch schlummern – doch nach jetzigem Kenntnisstand, unter Berücksichtigung der gegeben Kritikpunkte, behalte ich dennoch eine hohe Meinung von Eine kurze Geschichte der Menschheit: Die großen Vorzüge der Lektüre überwiegend die Schwächen.

Fazit zu Eine kurze Geschichte der Menschheit

In Der futurologische Kongreß (1977) beschreibt der Science-Fiction-Autor Stanisław Lem eine Zukunft, in der man seinen Wissensdurst stillen kann, indem man Bücher schluckt. Das liest sich im Tagebuch des Raumfahrers Ijon Tichy so: 

04.09.2039. Endlich habe ich erfahren, wie man sich Enzyklopädie beschafft. Ja, noch mehr, ich besitze schon eine. Sie füllt drei gläserne Ampullen. Im wissenschaftlichen Bauchladen gekauft. Bücher liest man jetzt nicht mehr; man verschlingt sie. Sie bestehen nicht aus Papier, sondern aus einer Informationssubstanz mit Hülle von Zuckerguß.

Stanisław Lem, in: Der futurologische Kongreß (1977)

Wer ebenfalls gerne ein Buch verschlingen möchte, das beinahe die Informationswucht einer Enzyklopädie in sich bündelt, auf jeden Fall aber den Unterhaltungswert eines Abenteuerromans, der oder die ist mit Eine kurze Geschichte der Menschheit gut bedient. Harari macht uns durch seinen ausdrucksstarken Schreibstil die Geschichte der eigenen Spezies schmackhaft.

Ein völlig neues Wesen

Die Auswahl seiner Beispiele und das Aufzeigen von Sinnzusammenhängen – auch wenn man nie versäumen darf, diese trotz oder gerade wegen ihrer unmittelbaren Überzeugungskraft für sich nochmal zu hinterfragen – machen komplexe Vorgänge und Strukturen begreifbar. Am Ende seiner kurzen Geschichte, die mit der Kognitiven Revolution begann, stellt Yuval Noah Harari in Aussicht, was auf dieses Werk folgen muss:

Die kognitive Revolution, die den Homo sapiens von einem unbedeutenden Affen in den Herrn der Welt verwandelte, erforderte keinen körperlichen Umbau und keine Vergrößerung des Gehirns. Ein paar kleinere Verschiebungen in der Struktur des Gehirns genügten offenbar schon. Vielleicht ließe sich mit einer weiteren kleinen Veränderung eine zweite kognitive Revolution anstoßen und eine neue Form des Bewusstseins erzeugen, die den Homo sapiens in ein völlig neues Wesen verwandelt. | S. 492

Homo Deus, so heißt Hararis nächstes Buch – mit dem Untertitel: Eine kurze Geschichte von morgen. Es knüpft direkt an Eine kurze Geschichte der Menschheit an und handelt, nach dem Blick in unsere Vergangenheit, von der näheren und fernen Zukunft der Menschen.

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KLEINER DRECKSPATZ AURELIA über Hygiene | Kinderbuch 2017 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/buch-kleiner-dreckspatz-aurelia-2017/ http://www.blogvombleiben.de/buch-kleiner-dreckspatz-aurelia-2017/#respond Sun, 26 Aug 2018 07:00:11 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5150 Wie sagt man einem Kind, dass es stinkt? Auf jeden Fall nicht so. Eine Freundin und…

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Wie sagt man einem Kind, dass es stinkt? Auf jeden Fall nicht so. Eine Freundin und Grundschullehrerin von mir stand einmal vor dieser heiklen Aufgabe… Hier sind Fingerspitzengefühl, aber auch Deutlichkeit gefragt. Wie der Zufall es wollte, bin ich einen Tag später auf das Kinderbuch Kleiner Dreckspatz Aurelia gestoßen. Ein Buch, das ich Dreckspatz-Hütern wärmstens empfehlen kann.

Kinderbuch-Bloggerin Sonia Lensing mit dem Buch Kleiner Dreckspatz Aurelia

Lieber Schlamm als Schwamm

Zum Inhalt: Die kleine Aurelia findet Baden und Duschen doof. Viel lieber spielt sie draußen im Schlamm und Dreck, so wie das Abenteurer machen. Doch bei so viel Schmutz am Leib muss sich selbst Aurelias Papa die Nase zu halten. Seine Kleine muss sich mal waschen. Denn sogar Dreckspatzen machen sich sauber. Was erzählt Papa da? Aurelia wird neugierig. Wie wäscht sich denn ein Spatz, eine Katze, ein Bär oder ein Eichelhäher? Ihr Papa kennt sie alle, die speziellen Putzrituale der Tiere. Das muss sie dringend alles selbst ausprobieren… allerdings, bei all der Putzwut im Dreck flüchtet selbst Aurelia zu einem besonderen Ort.

Dorothea Flechsig – Kinderbuchautorin, Geschichtenschreiberin für KiKAninchen und Prinzessin Lillifee und auch noch Verlegerin des Glückschuh Verlags (ich bin beeindruckt!) – gelingt mit Kleiner Dreckspatz Aurelia ein rund um kindgerechtes Lesevergnügen. Das liegt zum einen sicher am Alltagsthema. Mit dem Schwerpunkt Hygiene nähert sich die Autorin der Lebenswelt der Kleinen und der Erziehungsberechtigten an.

Zur Wirkung des Buchs

Vor allem bei den Jüngsten löst das regelmäßige Putzen eher wenig Euphorie aus. Umso höher ist das Identifikationspotenzial für die kleinen Leser mit der quirligen Hauptfigur Aurelia. Denn dass sich das Mädchen viel lieber in der Natur suhlt, als mit dem Schwamm geschrubbt zu werden, können kleine Dreckspatzen gut nachvollziehen. Diese Vertrautheit zum Geschehen und zur Kinderfigur ist für die jungen Leser von besonderer Bedeutung. Zumal Kinder bis zum 7. Lebensjahr noch nicht in der Lage sind, andere Perspektiven einzunehmen und hier dementsprechend Unterstützung brauchen (sagt Piaget). Diese Unterstützung liefert Dorothea Flechsig, indem sie die Kleinen in Kleiner Dreckspatz Aurelia mit nur reduziertem Text konfrontiert und kindgemäße Bilder von Suse Bauer einsetzt, die für sich alleine stehen und auch leseschwache Kinder abholen.

Ein weiterer Kniff von Dorothea Flechsig für ein kindgemäßes Storytelling ist das Wieder-Aufgreifen von Elementen, wie der Tierreihenfolge. So tauchen die Tiere, von denen Aurelias Papa in Kleiner Dreckspatz Aurelia erzählt, in der gleichen Reihenfolge bei Aurelias animalischer Waschaktion auf. Der rote Faden hilft den Kindern, das Mini-Universum von Aurelia abzustecken und zu einem harmonischen Abschluss zu kommen.

Zur Visualität des Buchs

Huch, das Buch ist ja dreckig! So mein erster Gedanke, als ich das Hardcover zu Kleiner Dreckspatz Aurelia in den Händen halte. Dann ein näherer Blick. Ah! Wenn der Titel mit dem Coverbild inhaltlich verschmilzt, hat die Illustratorin etwas richtig gemacht. Ich bin jedenfalls auf die Schmutzflecken reingefallen. Und das obwohl Suse Bauer in diesem Werk eher minimalistisch als realistisch zeichnet.

Dieser grobe Zeichenstil entspricht dem empfohlenen Lesealter von 3 Jahren. So besinnen sich die Bilder im Grundschulstil auf das Wesentliche. Ohne mit zu vielen Details zu überfordern, sondern mit einigen zu überraschen, bleibt somit genug Raum für die eigene Fantasie. Welche putzeifrigen Tiere könnte Aurelia noch nachmachen? Hier lädt die Geschichte zur Anschlusskommunikation mit Eltern und Kindern ein.

Buchtipp: Wer auf den groben Zeichenstil steht, dem kann ich das Bilderbuch Überraschung (2014) von Mies van Hot empfehlen.

Fazit zu Kleiner Dreckspatz Aurelia

Das Buch Kleiner Dreckspatz Aurelia eignet sich hervorragend, um Kindern auf spielerische und deutliche Weise die Wichtigkeit von Hygiene zu vermitteln. Durch die ideale Kombination aus klarem Storytelling und kindlichen Illustrationen bietet das Werk Anlass, gemeinsam mit Kindern Aurelias Welt zu erkunden und sich eigene Gedanken über das Putzverhalten zu machen. Ein unterhaltsames Lesevergnügen, das ohne den pädagogischen Zeigefinger auskommt. Ich vergebe 9 Sterne.

Eckdaten im Überblick

TitelKleiner Dreckspatz Aurelia – Wasch dich doch mal
Erscheinungsjahr2017
Autor/IllustratorDorothea Flechsig (Autorin) Suse Bauer, (Illustratorin)
VerlagGlückschuh Verlag
Seiten38 Seiten
AltersempfehlungAb 3 Jahren
ThemaKörper, Tiere

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VERÓNICA mit Sandra Escacena + wahre Geschichte | Film 2017 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/film-veronica-sandra-escacena-2017/ http://www.blogvombleiben.de/film-veronica-sandra-escacena-2017/#respond Thu, 09 Aug 2018 07:00:40 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4508 Ein spanischer Horrorfilm von Paco Plaza, jenem Regisseur, der mit REC (2007) vor rund 10 Jahren…

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Ein spanischer Horrorfilm von Paco Plaza, jenem Regisseur, der mit REC (2007) vor rund 10 Jahren einen der wohl spannendsten spanischen Horrorfilme überhaupt abgeliefert hat. Andererseits war er auch für REC 2 (»a bit of a w[rec]k«, David Edwards) und REC 3 (»the nail in the franchise’s coffin«, Ed Gonzalez) beteiligt. Die Erwartungen an Plazas neusten Streich, Verónica, waren also mittelhoch bis mäßig – und wurden mehr als erfüllt: Fans und Kritiker*innen feiern ihn als extrem atmosphärischen Horrorstreifen. Schauen wir mal genauer hin…

So wahr mir Plot helfe

Schauspielerin Sandra Escacena in dem Horrorfilm Verónica

Zum Inhalt: Im Jahr 1991 lebt die 15-jährige Verónica mit ihrer Mutter und drei kleinen Geschwistern zusammen in einem Apartment in Valleca, einem Stadtteil der Arbeiterklasse im Süden Madrids. Der Vater ist vor kurzem gestorben. Die Mutter schiebt Überstunden, um die Familie zu ernähren. Verónica trägt die Verantwortung für ihre Zwillingsschwestern sowie ihren kleinen Bruder Antoñito. Die Haupthandlung beginnt am Tag der Sonnenfinsternis. Während alle Schüler*innen mit den Lehrenden auf dem Schuldach zur Sonne starren – durch (zuweilen provisorische) Schutzbrillen – schleichen sich Verónica und zwei Freundinnen in den Keller, um mit einem Hexenbrett (Ouija) die Geister der Verstorbenen zu beschwören… mit dramatischen Folgen.

Ja, so eine Art von Film ist das: Gläserrücken und Dämonen aus dem Jenseits, Schatten und Geräusche und durchdrehende Leute – diese ganz bestimmte, überquellende Horrorfilm-Schublade, in der das Diesseits vom Jenseits terrorisiert wird. Was Verónica aus der Masse ein wenig hervorstechen lässt: Der Film »basiert auf wahren Begebenheiten«, wobei das auch jeder dritte Vertreter dieses Genres von sich behauptet. Was ist da Wahres dran?

Hinweis: Im Absatz »Historischer Kontext« werden die wahren Begebenheiten besprochen – mit Spoilern! Bis dahin, entspanntes Lesen!

Close-up: Verónica im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Verónica beginnt mit einem Notruf. Noch vor dem ersten Bild hören wir aus dem Off die Stimmen. Tipp, um den Effekt eines Horrorfilms zu verstärken: Originalsprache mit Untertitel schauen. Erst recht bei Filmen, die auf ihre »wahren Begebenheiten« pochen, bleibt damit mehr von der Authentizität bestehen.

– Hier spricht die Polizei.
– Hilfe! Bitte helfen Sie!

Mit diesen Worten beginnt der Film. Das erste Bild: zwei Streifenwagen, die mit Blaulicht, durch Gewitter, Regen, Nebel rasen. In der Bildecke tauchen die Eckdaten auf: Madrid, 15. Juni 1991, 01:35 Uhr nachts. Bis auf die Minute genau datiert, diese herannahenden Streifenwagen. Schwarzblende.

– Bitte beruhigen Sie sich. Was ist passiert?
– Bitte, Sie müssen kommen! Er ist drinnen!

Die Anruferin klingt nach einer Teenagerin, die panisch ins Telefon schreit. Im Hintergrund wimmert ein Kind. Es folgen Detailaufnahmen von den Einsatzwagen. Schwarzblende. Wieder die Stimme der Polizistin am Hörer:

– Bitte beruhigen Sie sich. Sagen Sie mir, was Sie sehen. Ist jemand in Ihrem Haus? Hallo?

Chaos in der Wohnung

Ein Schrei, ein Knacken in der Leitung. Schnitt auf einen Kommissar, der seine Zigarette weg schnippt und aus dem Auto steigt. Im strömenden Regen geht er um den Wagen rum. Im Hintergrund ist – von den Blitzen effektvoll beleuchtet – das Wohnhaus zu sehen, aus dem der Notruf kam.

Es erinnert an jenes hohe Apartmenthaus aus REC, in dem sich 2007 ein klaustrophobischer Alptraum bis ins oberste Stockwerk abgespielt hat. Doch REC war ein handfester Zombiefilm. Verónica behauptet, wahr zu sein. Wir erfahren die genaue Adresse, den genauen Namen des Kommissars. Wir begleiten ihn in eine verwüstete Wohnung. Im Chaos liegt ein Jesuskreuz, das von einem Polizisten aufgehoben wird. Blutspuren führen vom Bad in ein verschlossenes Zimmer… was die Einsatzkräfte darin erwartet, schreibt ihnen den blanken Schrecken ins Gesicht. Ein grauenhafter Schrei von irgendetwas, das nicht gezeigt wird, geht über…

…in die Großaufnahme eines Mädchens mit Zahnspange, das mit weit aufgerissenem Mund ganz genüsslich gähnt. Das Mädchen liegt im Bett, die Sonne scheint ins Zimmer. Rückblende, »Drei Tage zuvor«. Ab jetzt wird erzählt, wie es zu der Schreckensnacht kam, die der Prolog anteaserte. Jene Sonnenfinsternis im Jahr 1991, die in Wirklichkeit am 11. Juli stattfand, wurde für den Film also – ob schlecht recherchiert oder dramaturgisch bedingt – in den Juni vorgezogen.

Totale: Verónica im Zusammenhang

Historischer Kontext

Am frühen Morgen des 15. Juni 1991 erhielt die Polizeiwache 02-12 in Madrid einen Notruf. Diese Geschichte basiert auf dem Polizeibericht, den der für den Fall verantwortliche Polizist einreichte.

Texttafel aus dem Prolog von Verónica

Es gibt tatsächlich einen Polizeibericht. Kopien davon finden sich – in spanischer Sprache – online und sind insbesondere zum 20. Jubiläum des Falls vielfach diskutiert worden, von spanischen Websites, die sich um Paranormalität drehen. In diesen Kreisen ist der »Valleca Fall« sehr bekannt. Der Name leitet sich von jenem Stadtteil Madrids ab, in dem eine 18-jährige Frau namens Estefania Gutiérrez Lázaro (im Film: Verónica, 15 Jahre alt) eine Séance (also eine spiritistische Sitzung, oder: Gläserrücken) in ihrer Schule durchführte. Eine Nonne zerbrach schließlich ihr Hexenbrett und beendete damit die Sitzung (im Film zerbricht es wie von Geisterhand). Während Verónica im Film während dieser Séance ihren toten Vater zu beschwören versucht, waren Estefanias Eltern beide noch wohlauf – soweit die ersten Unterschiede zwischen Fakten und Fiktion.

In der Folgezeit erlitt Estefania Gutiérrez Lázaro mehrere Krampfanfälle und hatte Halluzinationen von Schatten und Wesenheiten, die sie umgeben. Später ist sie – wie die Verónica im Film – in ihrem jungen Alter gestorben.

Tragisches und »Paranormales«

Allerdings nicht wirklich »wie im Film«. Während Verónica in einem spektakulären Finale daheim gegen einen Dämon kämpft, von diesem malträtiert wird und auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt, war Estefania zum Zeitpunkt des Todes längst im Krankenhaus. Die Umstände ihres Todes vor rund 30 Jahren sind nicht geklärt. Wenn aber eine 18-Jährige an Krampfanfällen und Halluzinationen leidet, gibt es eine Reihe von Krankheitsbildern, die den tragischen Tod eines so jungen Menschen verursachen können. Ohne dämonischen Einfluss.

In dem Polizeibericht, auf dem dieser Film angeblich basiert, geht es nicht wirklich um Estefania Gutiérrez Lázaro . Deren Familie hat die Polizei nach dem Tod ihrer Tochter erstmal gar nicht kontaktiert. Erst ein Jahr später waren Polizist*innen bei Estefanias Eltern daheim. In ihrem Bericht ist von Geräuschen auf einer Veranda die Rede, und der geschlossenen Tür eines Kleiderschranks, die plötzlich und in unnatürlicher Weise aufging. Außerdem fiel eine Jesus-Figur von ihrem Kreuz und ein brauner Fleck breitete sich aus.

Das ist alles. Drei durchaus ungewöhnliche Beobachtungen, die man als »paranormal« bezeichnen kann. Sie wurden auf jeden Fall als paranormal interpretiert – und die Tatsache, dass diese Beobachtungen in einem offiziellen Polizeibericht festgehalten sind, das macht den »Valleca Fall« so berühmt. Zumindest bei Menschen, die an Paranormales (im »Geister aus dem Jenseits«-Sinne) glauben.

Persönlicher Kontext

Ich persönlich glaube nicht an Paranormalität, wie sie mir in unzähligen Filmen nun schon auf verschiedenste Herangehensweisen näher gebracht wurde. Und selbst, wenn in einem Polizeibericht von paranormalen Beobachtungen die Rede ist, ist mein erster Reflex die Annahme, dass eventuell die zuständigen Polizist*innen ihrerseits an Paranormales glaubten (man »sieht, was man sehen will«). Oder, dass es doch eher natürliche Erklärungen für vermeintlich unnatürliche Beobachtungen wie eine sich öffnende Schranktür, einen vom Kreuz fallenden Jesus und einen brauen Fleck gibt.

Das »sehen, was man sehen will«, gilt selbstverständlich auch für mich. Ich mag rationale Erklärungen – und das Verhalten von Dämonen oder anderen Jenseits-Wesenheiten in Filmen erscheint mir maximal irrational. Liegt vermutlich daran, dass sie »nicht von dieser Welt« sind und ich damit ungültige Ansprüche stelle. Aber dann erstaunt mich doch die innere Logik, mit der all die irrationalen Aktionen von Dämonen ganz gezielt – wie Arsch auf Eimer – zu unseren Ängsten passen. Auf rationale »Horrorfilm bedient Furchtvorstellungen« Art und Weise.

Fakten und Fiktion

Was die Unterschiede zwischen »Fakten und Fiktion« angeht, so berufe ich mich mit der Erläuterung der »wirklichen Begebenheiten« wohlgemerkt auch nur auf Internetseiten, keine amtlichen Dokumente. Newsweek hat die Geschichte über Estefania Gutiérrez Lázaro in Gegendarstellung zu dem Film in Form gebracht, die seriöseste Aufarbeitung, die ich auf Englisch finden konnte (wobei manche Links von diesem Artikel auf wiederum gar nicht seriöse Seiten verlinkt sind). Es ist anzunehmen, dass man im spanisch-sprachigen Internet bessere, detailliertere, fundierte Auseinandersetzungen mit dem Fall finden würde.

Andererseits: Vielleicht auch nicht. Vor rund 30 Jahren ist in einem Krankenhaus eine junge Frau gestorben – und alles, was heute noch in ihrem Namen passiert, ist Kunst, Kult und Kommerz, angereichert mit all den urban legends, die in der jahrzehntelangen Rezeption des Falls hinzugedichtet wurden. Ich verstehe, dass Dämonen-Horrorfilme besser »funktionieren«, wenn man dem (wohlwollenden) Publikum glauben machen kann, die Handlung basiere auf wahren Begebenheiten. Das ist eben viel gruseliger – und der Regisseur Paco Plaza macht keine halben Sachen: Er stellt seinen Film inklusive Abspann-Fotos vom »Tatort« als geradezu dokumentarisch dar (die Fotografie mit dem ausgebrannten Gesicht Estefanias hat es beispielsweise tatsächlich gegeben). Beim Toronto International Film Festival sagte Plaza zum Wahrheitsgehalt seines Films:

Was wir erzählen, wird Geschichte

Ich denke, wenn wir etwas erzählen, dann wird daraus eine Story, selbst wenn es Nachrichten sind. Man muss nur verschiedene Zeitungen lesen, um zu wissen, wie unterschiedlich die Realität sein kann, je nach dem, wer sie erzählt. Ich wusste, dass wir die realen Begebenheiten verfälschen würden. Ich wollte es bloß zu einer in sich geschlossenen Vision machen […] Also die ganze Geschichte von Veronica und ihren Schwestern und Antoñito, diesem kleinen Marlon Brando mit Brille, das ist alles eine Vision.

Paco Plaza, Regisseur von Verónica

Kurzum: Mit dezenter Anlehnung an den gefallenen Jesus aus dem Polizeibericht, hat man einen mit christlicher Symbolik und dämonischem Schauer aufgeladenen Plot gebastelt, der nicht auf diesem Bericht »basiert«, sondern von ihm inspiriert ist – das wäre die ehrlichere Wortwahl gewesen. Mal wieder. Wie immer.

Ein Teil in mir findet es immer etwas respektlos, wenn sich Horrorfilme nur um des Grusel-Effekts willen auf echte Menschen (mit echten Familien und Angehörigen) beziehen. Aber was weiß ich, wie die Betroffenen dazu stehen? Einen Kommentar etwaiger Familienmitglieder zu dem Film Verónica konnte ich nicht finden.

Traumatische Erfahrungen?

In dem Q&A auf besagtem Festival beantwortet Paco Plaza übrigens auch eine Frage dazu, wie man die Kinder am Set betreut hat – angesichts doch recht krasser Szenen, in denen sie von einer gruseligen Gestalt bedroht werden oder Fleisch aus dem Körper ihrer Schwester beißen. Plaza beantwortet diese Frage ab Minute 00:50 (auf Englisch):

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Ich stolperte über diesen Film, als ich zu Pascal Laugiers Ghostland (2018) recherchierte, einem anderen aktuellen Horrorfilm, der zuweilen mit Verónica verglichen wurde (obwohl die Filme unterschiedlicher kaum sein könnten). Über Verónica – der am 26. Februar 2018 erstmal bei Netflix veröffentlicht wurde – las ich dann immer häufiger die Phrase »scariest movie ever«, was mich leicht zum ködernden Filmfisch gemacht hat. Zack, Netflix aufgemacht, her mit dem Bissen!

Also, ist Verónica »der gruseligste Film aller Zeiten«? Also aus inzwischen über 120-jähriger Filmgeschichte, die Werke wie William Friedkins Der Exorzist (1973) und Werner Herzogs Nosferatu (1979) hervorgebracht hat? (Um nur zwei von unzähligen Klassikern zu nennen.) Natürlich absolut nicht. Verónica ist nicht einmal der gruseligste Film von Paco Plaza (wie gesagt: REC!).

Läuft bei Netflix

Heißt, ich bin wiedermal auf etwas reingefallen, was entweder eine gelungene PR-Kampagne oder ein glücklicher Selbstläufer war: Ein paar Internet-User, die ihr Grauen über Verónica bei Twitter dokumentiert haben. Dabei hätte ich es besser wissen müssen. Ich, der ich so gerne Bill Maher zitiere, aus: New Rule: That’s Not News. In diesem YouTube-Video beschreibt der amerikanische Late-Night-Moderator zur Bauchbinde »charlatan’s web« das Phänomen, das Medienportale irgendwelche Stimmen aus dem Internet aufgreifen und ihnen Relevanz andichten, selbst wenn sie es mit gegebener Vorsicht tun. Beispiel:

Das Netz streitet über Verónica – laut Netflix „der gruseligste Horrorfilm aller Zeiten“, den angeblich kaum ein Zuschauer bis zum Ende durchhält. 

Britta Bauchmüller (Kölnische Rundschau), 19.03.18

»Das Netz« = ein paar Twitter-User
»laut Netflix« = PR-Texter*in
»kaum ein Zuschauer« = noch ein paar Twitter-User

Unterm Strich beruft sich dieser Satz auf vielleicht 2 Dutzend Tweets von Netflix-Usern (stellvertretend für »das Netz«) und eine Person, die dafür bezahlt wird, Netflix-Filme ins Gespräch zu bringen. Das Ganze verpackt unter der Schlagzeile »Verónica und Co. Diese Horrorfilme auf Netflix hält kaum jemand bis zum Ende aus«. Werbung vom Feinsten. Läuft bei Netflix.

Fazit zu Verónica

Wer auf Dämonen-Filme steht, wird an Verónica seine Freude haben. Der Film ist handwerklich gut gemacht, wenn auch (von ein paar visuellen Ideen mal abgesehen) sehr konventionell. Er fügt dem Genre nichts Neues hinzu, bedient sich an dessen Zutaten aber sehr geschickt – und Sandra Escacena trägt die Zuschauer*innen als Heldin, der man nichts Böses wünscht, gut durch die Handlung. Grusel-Atmosphäre kommt auf, selbst wenn man Gläserrücken und Dämonen für Hokus Pokus hält, deshalb: ja, okay, guter Film…

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DER ZUFALL MÖGLICHERWEISE von Krzysztof Kieślowski | Film 1987 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/film-der-zufall-moeglicherweise-1987/ http://www.blogvombleiben.de/film-der-zufall-moeglicherweise-1987/#respond Tue, 07 Aug 2018 07:00:55 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4593 Ist unser Leben vorbestimmt oder vom Zufall beherrscht? Welche kleinen Dinge treten welche großen los? In…

Der Beitrag DER ZUFALL MÖGLICHERWEISE von Krzysztof Kieślowski | Film 1987 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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Ist unser Leben vorbestimmt oder vom Zufall beherrscht? Welche kleinen Dinge treten welche großen los? In Der Zufall möglicherweise erzählt der polnische Regisseur Krzysztof Kieślowski von einem konkreten Leben in einer konkreten Zeit und doch drei ganz unterschiedliche Biografien. Wohin der Weg geht und in welche Richtung das Schicksal ausschlägt, das entscheidet sich – natürlich – am Bahnhof. 

Witek rennt

Mit Der Zufall möglicherweise hat Krzysztof Kieślowski nicht nur möglicherweise, sondern ganz gewiss einige spätere Filme inspiriert. Bekanntestes Beispiel dürfte für das deutsche Publikum Lola rennt (1998) sein. Mit der Kamerafahrt in den Mund, zu Beginn von Lola rennt, spielt der Regisseur Tom Tykwer – der mit Heaven (2002) inzwischen ein Kieślowski-Drehbuch verfilmt hat – inszenatorisch elegant auf das Vorbild an. Ebenso mit dem Anrempeln einer prompt pöbelnden Passantin durch die rennende Lola (Franka Potente). Nehmen wir im Folgenden das Original unter die Lupe – Witek statt Lola.

Die Schauspieler Bogusław Linda und Monika Goździk in einem Standbild aus Der Zufall möglicherweise

Info: Zu der Zeit, da ich diesen Film suchte [Juli 2018], war Der Zufall möglicherweise (Original: Przypadek, Englisch: Blind Chance) im polnischen Original mit englischen Untertiteln in der Mediathek von Eastern European Movies verfügbar – eine empfehlenswerte Website für alle, die Interesse am osteuropäischen Kino haben. Allerdings wurde Der Zufall möglicherweise im Jahr 2017 vom Studio Filmowe TOR auch auf YouTube hochgeladen und ist dort in voller Länge zu sehen. (siehe unten)

Totale: Der Zufall möglicherweise im Zusammenhang

Historischer Kontext

Was den Film für ein internationales Publikum schwer zugänglich macht, ist seine Verankerung in der polnischen Geschichte vom Ende des 2. Weltkriegs bis Anfang der 80er Jahre. Der Zufall möglicherweise spielt vor dem Hintergrund des kommunistischen Polens, das scheinbar in zwei Lager zerfallen ist: Man ist entweder für oder gegen die Partei. Der Werdegang des fiktiven Studenten Witek Długosz dient als Beispiel, an dem gezeigt wird, wie ein Leben in diesem Polen laufen kann. Mal ist er als kommunistischer Funktionär in die Geschichte gestrickt, mal als Oppositioneller – und mal versucht er sich ganz aus dem Politischen rauszuhalten.

Obwohl der Film bereits 1981 gedreht wurde, lief er auf den Internationalen Filmfestspielen von Cannes und in den polnischen Kinos erst 1987. Anfang der 80er Jahre war Der Zufall möglicherweise – in einer Zeit, da in Polen aufgrund der Solidarność-Unruhen Kriegszustand herrschte – von der Zensur zunächst verboten worden. Zu unbequem war dem Regime der Inhalt dieses Films.

Persönlicher Kontext

Möglicherweise war’s der Zufall, der dafür sorgte, dass ich durchaus filmbegeisterter Mensch bis vor kurzem den Namen Krzysztof Kieślowski nicht kannte. Möglicherweise war’s aber auch blöde Ignoranz, weil mein Hirn den Namen nichtmal in Gedanken auszusprechen wusste. Inzwischen lerne ich – durch Zufall, möglicherweise – seit ein paar Jahren polnisch und möchte die Annäherung all denjenigen erleichtern: Man spricht ihn Kschischtof Kschlowski aus (hier sagt’s ein Muttersprachler: ).

Ein stimmungsvoller, wenn auch nur visueller Teaser zum Lebenswerk dieses großen Filmemachers vermittelt ein Bilderreigen, den das Museum of the Moving Image im Jahr 2016 veröffentlicht hat:

Wer Lola rennt kennt und mag, möchte vielleicht sehen, welchem Film Tom Tykwer die Kernidee entnommen hat. Mir jedenfalls ging es so.

Close-up: Der Zufall möglicherweise im Fokus

Erster Eindruck | zum Auftakt des Films

»This is the 1981 version of the film, with censored fragments restored.« 

Mit dieser Texttafel begann die Version, die ich gesehen habe. Dabei stimmt der Hinweis nicht ganz. Es gab noch immer eine Stelle im Film, in der das Bild schwarz wurde und nur die Tonspur weiterlief. In dieser zensierten Szene ging es um Polizeigewalt. Fast entschuldigend wies hier eine erneute Texteinblendung darauf hin, dass dieses Fragment das einzige gewesen sei, dass sich nicht habe restaurieren lassen.

Der Film beginnt mit einer Großaufnahme des Helden, Witek Długosz, der nervös dasitzt, den Mund aufreißt und »Nieee!« ruft. Die Kamera ist zu nah dran, als dass wir zuordnen könnten, wo er da sitzt. Und sie fährt noch näher heran, diese Kamera, fährt in den aufgerissenen Mund, ins Schwarz. In gelben Großbuchstaben erscheint der Name des Hauptdarstellers, der diesen Film über seine gesamte Laufzeit trägt: Bogusław Linda.

Kindheitserinnerungen aus der Subjektive

Nach den Vorspanntiteln folgt eine Kollage an Bildern, deren Sinn sich auf die Schnelle nicht erschließt: Ein blutiges Bein in einem Korridor, durch den eine Leiche geschleift wird. Ein dumm dreinschauendes Kind, das sich erst im Spiegel betrachtet, dann den Blick zu den Mathe-Hausaufgaben senkt. Neben dem Jungen sitzt der Vater, sieht ihm in die Augen?. Schnitt. Ein grüner Hang, auf dem ein Auto steht. Ein anderer Junge, der sich verabschiedet. Schnitt. Der voyeuristische Blick ins Lehrerzimmer, durchs Fenster. All diese Ausschnitte aus Kindheitstagen sind aus der Subjektiven gefilmt, Point of View ist jenes Kind, das sich im Spiegel betrachtet hat.

Aus der Kindheit geht’s in die späte Jugend oder das frühe Erwachsenenalter, auf jeden Fall raus aus der Subjektiven: Witek turtelt mit einer kurzhaarigen Frau an einem Gleis. Ein paar Typen rufen Obszönes, Witek rennt ihnen nach. Schnitt zu einem nackten, grauen Leichnam, der aufgeschnitten wird. Von der gelben Fettschicht schwenkt die Kamera hoch zu den herabschauenden Medizinstudent*innen. Eine von ihnen sticht hervor, durch ihren angewiderten Blick. Witek erzählt sie, die Tote sei ihre Lehrerin gewesen. Es folgt ein Schnitt zum gealterten Vater, der Witek erzählt, wie froh er war, als der Junge damals seinen Lehrer geschlagen habe. Denn Streber möge er nicht.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

So geht es eine Weile. Kurze Szenen, chronologisch zwar und auf einen Helden fokussiert, doch durch die unüberschaubar großen Zeitsprünge unterbrochen. In diesem Prolog geht es Kieślowski nur um eine Art Quintessenz dessen, was aus dem Vorleben Witek erinnert werden soll. Bis zur schicksalhaften Szene am Bahnhof. Diese sehen wir zum ersten Mal nach 7 Minuten. So gerade eben erwischt Witek den Zug und der Film beginnt, endlich in gemäßigtem Tempo, mit verfolgbarer Handlung.

Wir werden zu jenem Bahnhof zurückkehren, ähnlich wie Mr. Nobody (2009) des Regisseurs Jaco van Dormael immer wieder zum Bahnhof zurückkehrt. Der Ort, an dem die Zeitstränge wie sich trennende Waggons auf unterschiedlichen Gleisen weiterfahren… Auf die Frage, ob er Der Zufall möglicherweise von Kieślowski gesehen habe, antwortet Jaco van Dormael in einem polnischen Interview:

Dieselben Dilemmata

Selbstverständlich. Unsere Filme entstanden zur selben Zeit [hier bezieht sich van Dormael auf seinen Kurzfilm È pericoloso sporgersi (1984), der wie ein früher Rohentwurf zu Mr. Nobody wirkt]. Offenbar waren wir von denselben Dilemmata beunruhigt. Und die Vorstellung verleiht mir heute noch eine gewisse Unruhe: Wir sitzen hier zusammen und reden, doch wie wenig muss man nur tun, damit Ihr oder mein Leben in völlig neuen, anderen Bahnen verläuft. Jede unserer Entscheidungen determiniert die nächste […]

Jaco van Dormael im Gespräch mit Barbara Hollender (aus dem Polnischen)

Bei Jaco van Dormael artet diese Idee wohlgemerkt in ein fantastisches Multiversum aus. Bei ihm eröffnet jede kleine Geste einen völlig neuen Zeitstrang. Bei Kieślowski ist der deterministische Gedanke von einer unausweichlichen Vorbestimmung hingegen wesentlich präsenter – und der Weg zum vorgezeichneten Schicksal bleibt in jedem Fall realistischer und näher an der Lebenswelt seines Protagonisten und der politischen Situation seiner Zeit. 

Fazit zu Der Zufall möglicherweise

Eine gewisse Faszination für die Zeit und den rätselhaft verstrickten Gang der Dinge ist wichtig. Zumindest, um als deutsche*r Zuschauer*in unter (grob über den Daumen gepeilt) 50 Jahren einen Zugang zu dem Film zu finden. Der Zufall möglicherweise bedient nicht unsere mit aufpolierten Bildern konditionierten Sehgewohnheiten. Er nimmt uns im Storytelling nicht bei der Hand (wie wir es vom Hollwood-Mainstream-Kino kennen, damit auch ja jede*r alles versteht) und setzt historisches Wissen voraus, das man ohne Bezug zu Polen kaum mitbringen wird.

Ich persönlich habe beschämend wenig Ahnung von der polnischen Geschichte. Dafür ist meine Faszination für die Zeit-Thematik im Film umso größer. Unabhängig von beidem ist das Schauspiel des Ensembles in Der Zufall möglicherweise wirklich stark. Und das Drehbuch ist so gut, dass es einen Sog entwickelt. Auch wenn man nicht alles verstehen mag, was in diesem Film vor sich geht, erlaubt er bestimmte Einblicke doch sehr klar und deutlich: Einblicke in die Zerrissenheit des Helden im Strudel des Zeitgeschehens. Egal, für welches politische Lager oder um welche Liebe Witek kämpft, man fiebert mit, wenn Witek rennt.

Hier gibt es den Film Der Zufall möglicherweise in voller Länge zu sehen (im polnischen Original mit englischen Untertiteln):

Übrigens: Der Zufall möglicherweise ist Teil der Criterion Collection. Hier gibt es weitere Informationen.

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THEOGONIE von Hesiod, Musenfreund & Frauenfeind | Griechische Mythologie http://www.blogvombleiben.de/buch-hesiod-theogonie/ http://www.blogvombleiben.de/buch-hesiod-theogonie/#respond Sat, 04 Aug 2018 07:00:12 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4626 Eine Schöpfungsgeschichte ohne Adam und Eva, dafür mit 50-köpfigen Riesen, die einander ihre 50 Köpfe einschlagen?…

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Eine Schöpfungsgeschichte ohne Adam und Eva, dafür mit 50-köpfigen Riesen, die einander ihre 50 Köpfe einschlagen? Wenn Hesiod von der Entstehung der Welt erzählt – lange bevor die Bibel geschrieben wurde – dann geht’s zur Sache. Die Theogonie wimmelt vor Göttern, die einander lieben, betrügen, bekriegen, und wilden Fabelwesen, die wie aus einem tierischen Baukasten zusammengesteckt daherfliegen. Manches wirkt geradezu abstrus, anderes kommt uns doch allzu bekannt vor. Ein Blick auf eines der ersten Werke dessen, was wir »Weltliteratur« nennen.

Bericht des Bauern-Dichters

Ein Ausschnitt des Gemäldes The Birth of Venus, dazu ein Buchcover und der Text: Die Theogonie von Hesiod
The Birth of Venus (ca. 1879) von William-Adolphe Bouguereau (hier im Ausschnitt zu sehen) zeigt eine Szene aus der Theogonie von Hesiod. Venus, die Göttin der Liebe, heißt in Griechenland Aphrodite.

Totale: Theogonie im Zusammenhang

Historischer Kontext

Am Anfang der Weltliteratur stehen – von einem europäischen Standpunkt aus gesehen – zwei Namen, die schon zu Platons Zeiten berühmt waren. Die Rede ist von Hesiod und Homer, zwei Dichter, die vor ungefähr 2700 Jahren lebten. Sie waren diejenigen, die den Griech*innen die Herkunft der zahlreichen Götter lehrten, diesen Namen gaben und ihre Funktionen und Erscheinungen beschrieben. So fasste die Errungenschaft der beiden Dichter bereits Herodot (2, 53) zusammen, Urvater aller Geschichtsschreiber*innen, im 5. Jahrhundert vor Christus (dem Sohn des einzigen Gottes, an den gemäß der heute am weitesten verbreiteten Religion noch zu glauben ist). Ein paar Jahrzehnte nach dem Historiker Herodot urteilte der Heerführer und spätere Herrscher Alexander der Große: Homer sei ein Dichter für Könige gewesen, Hesiod hingegen einer für Bauern. Dinge wie Ehre, Eleganz und Schönheit haben bei Letzterem nicht allzu hohen Stellenwert.

Persönlicher Kontext

Als Sohn eines Bäckers fühle ich mich da eher zu dem Bauern-Dichter hingezogen. Dessen bekannteste Schriften – die Theogonie und Werke und Tage – sind auch viel kürzer, als Homers wuchtige Epen, die Ilias und die Odyssee. Hesiods Schöpfungsgeschichte und sein Lehrgedicht lassen sich in ein paar Mußestunden lesen. Aus diesem schändlich pragmatischen Grund habe ich mich an Hesiod herangetraut. Als Student*in der Geschichte und Philosophie kommt man an diesem frühesten aller Dichter sowieso nicht wirklich vorbei.

Und als römisch-katholisch erzogener Mensch ist es auch mal erfrischend, eine andere Schöpfungsgeschichte als die Genesis der Bibel zu lesen. In Hesiods Version der Weltentstehung, so viel sei versprochen, da gibt’s mehr Action und die krasseren Held*innen. Die Theogonie ist wie ein antikes Avengers-Prequel. Aber: Die Frauenfeindlichkeit, die das Christentum später über Jahrhunderte tradiert hat, die findet sich ebenso bei Hesiod.

Hinweis: Die Theogonie in deutscher Übersetzung und voller Länge findet sich online unter anderem unter www.gottwein.de 

Close-up: Theogonie im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Werkes

Es war einmal, am grünen Hang eines Berges in Griechenland, da lag ein junger Mann im Gras. Um ihn herum weideten die Schafe, die er zu hüten hatte. Das Gebirge hieß und heißt noch heute Helikon. Dort begegneten dem dösenden Hirten die Töchter des Zeus, dem obersten der olympischen Götter und Göttinnen. Diese Töchter waren empört über die Faulheit des Mannes, der da zwischen seinen Schafen lag:

[26] Hirtenpack ihr, Draußenlieger und Schandkerle, nichts als Bäuche, vielen Trug verstehen wir zu sagen, als wäre es Wahrheit, doch können wir, wenn wir es wollen, auch Wahrheit verkünden. 1

Im Auftrag der Musen

Mit eben dieser Mission schicken sie ihn los: Die Wahrheit soll der Mann verkünden! Sein Name ist, natürlich, Hesiod – und jene Töchter, das waren die Musen. Sie brachen den Zweig eines Lorbeerbaums ab, übergaben ihn dem Mann als Stab, und hauchten Hesiod noch göttlichen Sang ein. Damit war er gewappnet, um von der Entstehung der Götter zu berichten. Apropos, woher kamen eigentlich die Musen?

Mit eben dieser Mission schicken sie ihn los: Die Wahrheit soll der Mann verkünden! Sein Name ist, natürlich, Hesiod – und jene Töchter, das waren die Musen. Sie brachen den Zweig eines Lorbeerbaums ab, übergaben ihn dem Mann als Stab, und hauchten Hesiod noch göttlichen Sang ein. Damit war er gewappnet, um von der Entstehung der Götter zu berichten. Apropos, woher kamen eigentlich die Musen?

[53] Diese gebar in Pierien, dem Kronossohn [das ist Zeus] und Vater der Musen in Liebe vereint, Mnemosyne [die Göttin des Gedächtnisses], die an den Hängen des Eleuther waltet; sie schenken Vergessen der Übel und Trost in Sorgen. Neun Nächte nämlich einte sich ihr der Rater Zeus und bestieg fern von den Göttern ihr heiliges Lager; als aber die Zeit kam […], gebar sie neun Mädchen von gleicher Art, deren Herz in der Brust am Gesang hängt und deren Sinn frei von Kummer ist […] 2 

9 Nächte miteinander verbracht, 9 Mädchen gezeugt. Diese bestechende Logik ist laut dem Altphilologen Otto Schönberger in Mythen nicht unüblich: Die Zahl der Kinder entspricht häufig der Zahl der miteinander verbrachten Nächte. Mir persönlich gefällt die Idee, dass die Göttin des Gedächtnisses die Musen hervorbringt, die Schutzgöttinnen der Künste. Denn was will Kunst schon groß anderes, als im Gedächtnis zu bleiben?

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Werkes

Doch es ist nicht die Dichtkunst, die mir im Gedächtnis bleibt. Mag daran liegen, dass ich (der ich damals im Griechisch-Unterricht eine Graupe war) Hesiod nicht im Original gelesen habe, Götter bewahret! Erst recht nicht im Gedächtnis bleibt mir, wer wen zeugte. Obwohl die Schöpfungsgeschichte der Theogonie da um einiges spannender ausfällt als in der Bibel – Hesiod unterschlägt auch nicht, dass am Zeugungsakt meist zwei beteiligt sind. Vergleich:

BIBEL, Matthäus 1,2: Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob. Jakob zeugte Juda und seine Brüder. Juda zeugte Perez und Serah von Thamar. Perez zeugte Hezron. Hezron zeugte […] 

HESIOD, Theogonie 295: Noch ein unbezwingliches Scheusal gebar Keto, das weder sterblichen Menschen noch ewigen Göttern gleicht, in gewölbter Höhle, die wundersame, mutige Echidna, halb Mädchen mit lebhaften Augen und schönen Wangen, halb Untier, greuliche, riesige Schlange, schillernd und gierig nach Blut im Schoß der heiligen Erde. […] Mit Echidna, heißt es, vereinte sich liebend Typhaon, der furchtbare, ruchlose Frevler, mit dem lebhaft blickenden Mädchen, das von ihm empfing und mutige Kinder gebar. Zuerst gebar sie den Hund Orthos für Geryoneus […]

Na, welche Schöpfungsgeschichte geht mehr ab? Welche würde man eher im Kino sehen wollen? Die Antwort ist ganz klar: NEIN. Einfach nein. Denn Achtung!

Richtigstellung | Ein aufmerksamer Leser hat mich für diesen Vergleich von Schöpfungsgeschichten ob ihrer Coolness gescholten. Zu recht, muss ich kleinlaut beipflichten. Ich wurde der groben Vereinfachung überführt. Ein tückisches Mittel, um unkundige Leser*innen mit plakativen Pseudo-Beispielen ins eigene Lager zu ziehen. Dabei liegt hier wohlgemerkt keine Tücke im heimtückischen Sinne zugrunde: Ich bin schlicht selbst zu unkundig, als dass ich meine (allenfalls geahnte…) Vereinfachung in ihrem ganz Ausmaß bemerkt hätte.

Fakt ist, dass es nicht die eine biblische Schöpfungsgeschichte gibt. Ein kurzer Blick ins Stichwort-Verzeichnis von Bibelwissenschaft.de genügt, um sich der Breite des Schöpfungsthemas bewusst zu werden. Ein längerer Blick in den Artikel Schöpfung AT (von Annette Schellenberg) lässt staunen, wie sich das Thema hinsichtlich Terminologie, Auslegung und kulturellem Standpunkt in all seiner Vielschichtigkeit auffächert – was man bei der jahrhundertlangen Entstehungsgeschichte erwarten sollte. Jener aufmerksame Leser schrieb mir folgende Denkanstöße:

Das Judentum wurde sowohl von den Griechen als auch von den Römern als »Volk von Philosophen« bezeichnet, weil die – nennen wir es – »Volksbildung« recht hoch war. Fachsimpeln war scheinbar Bestandteil der Religionsausübung. Die Geschlechter-Listen (Abraham zeugte Isaak etc.) sind eigentlich gar nicht Teil der Schöpfung. Sie sind Resultat einer Redaktion (siehe Priesterschrift) in der verschiedene mündlich tradierte Erzählkreise in ein Gesamtwerk verpackt werden sollen. Diese langweiligen Verwandtschaftslisten sind also ein »Kit«, um verschiedene viel ältere Geschichten in eine Chronologie zu bringen.

Das Geile ist ja jetzt, dass dem alttestamentarischen Juden diese mesopotamischen, ägyptischen und später hellenistischen Theogonien bekannt waren. Sie waren Teil seines kulturellen Umfeldes. Die wirklich vielfältigen Schöpfungsvorstellungen in der Bibel gewinnen mit der Kenntnis anderer Mythen noch viel mehr an Aussagekraft. Es steckt viel mehr heroic epicness mit Monstern und Helden zwischen den Zeilen, als man heute auf den ersten Blick vermuten mag

Florian Sauret, Nachtwächter der Stadt Bocholt

In diesem Sinne, vielen Dank für das wertvolle Feedback und die vertiefenden Einblicke in ein doch sehr komplexes Thema! Und um auch die Komplexität der Griechischen Mythologe nochmal so übersichtlich und unterhaltsam wie möglich zu vermitteln, gibt’s hier ein wirklich großartig gemachtes Video von Maurus Amstutz, der die Theogonie als Animationsfilm adaptiert hat:

Weil der Mann das Feuer bändigte

Nun denn, wie gesagt, die ungeheuerliche Titanen-Parade aus der Theogonie von Hesiod ist es nicht, die mir in Erinnerung bleibt. Stattdessen prägt sich ins Gedächtnis, wie der antike Dichter schon inbrünstig gegen die Frau wettert. Sie kommt als Strafe des Zeus auf die Erde, dafür, dass der Mensch sich des Feuer bemächtigt hat:

[570] Sogleich schuf er den Menschen für das Feuer ein Unheil. Aus Erde nämlich formte der ruhmreiche Hinkfuß Hephaistos nach dem Plan des Kronossohnes das Bild einer züchtigen Jungfrau. […] Staunen hielt unsterbliche Götter und sterbliche Menschen gebannt, als sie die jähe List erblickten, unwiderstehlich für Menschen. Stammt doch von ihr das Geschlecht der Frauen und Weiber. 3

The Creation of Pandora (1913) von John D. Batten
The Creation of Pandora (1913) von John D. Batten

Die Frau als Strafe

Diese unwiderstehliche Jungfrau, die Zeus den Menschen zur Strafe schickte, war Pandora. Jene Pandora, von der sich auch die heute noch sprichwörtliche »Büchse der Pandora« ableitet. Allein, dass die »Büchse« einem Übersetzungsfehler oder Kunstgriff aus der Renaissance zurückgeht. Bei Hesiod schickte Zeus seine tückische Kreation noch mit einem Faß los, zu den Menschen.

[591] Von ihr kommt das schlimme Geschlecht und die Scharen der Weiber, ein großes Leid für die Menschen; sie wohnen bei den Männern, Gefährtinnen nicht in verderblicher Armut, sondern nur im Überfluß. […] Gerade so schuf der hochdonnernde Zeus zum Übel der sterblichen Männer die Frauen, die einig sind im Stiften von Schaden. Auch sandte er ein weiteres Übel zum Ausgleich des Vorteils: Wer die Ehe und schlimmes Schalten der Weiber flieht und nicht freien will, der kommt in ein mißliches Alter, weil es dem Greis an Pflege fehlt. 4

Hesiods Vorbilder

Soll heißen: Man könne weder mit noch ohne die Frauen gut leben. Denn obwohl sie ein beschwerliches Laster seien, bräuchte man sie doch zur Zeugung einer Nachkommenschaft, die den Vater im hohen Alter pflegen kann. Schönberger kommentiert es so: »Die Frau ist die Strafe. Hesiod war (aus Erfahrung?) ein Frauenfeind und will die schlimme, ja vernichtende Rolle der Frau im Leben der Menschen darstellen.«

Es spielt keine Rolle, welche Erfahrungen Hesiod mit einzelnen Frauen gemacht haben mag. Den allgemeinen Frauenhass jedenfalls, den hat der Dichter nicht erfunden. Ebenso wenig wie die meisten der Götter und Göttinnen und einige ihrer Abenteuer, die in der Theogonie geschildert werden. Auch wenn Hesiods Werk eines der ältesten ist, die uns erhalten geblieben sind, hat sich der Dichter im 8. Jahrhundert v. Chr. bereits von einem ganzen Kosmos an Ideen und Geschichten inspirieren lassen können. »Viele Vorbilder«, so bringt Otto Schönberger es auf den Punkt, »dürften uns unbekannt sein.«

Von der Dichtung zur Philosophie

Die Strahlkraft von Hesiods Werk lässt sich schon besser nachweisen. So schreibt man ihm einen Einfluss auf die vorsokratischen Philosophen zu. Indem Hesiod den mythischen Wesen seiner Erzählung die Bezeichnung oder Eigenschaften von Gegebenheiten der Wirklichkeit gab – so verkörpert die Göttin Gaia etwa die Erde – vollzieht Hesiod »einen Schritt von der epischen Dichtung zur Philosophie«, schreibt Schönberger und nennt Hesiod einen »Vorbote[n] spekulativen Denkens« in den »Schranken überlieferter Vorstellungen«.

Hesiod in diesem Vorboten-Sein eine besondere Leistung zuzuschreiben wäre indes, als würde man einen Frosch dafür loben, dass er als Wassertier schon Beine hat. Der Gedankengang von mythischen Wesen über Metaphysik und Erkenntnistheorie hin zur hochtechnologisierten, naturwissenschaftlichen Forschung vollzieht sich in ähnlich evolutionären, ihrem Gewicht unbewussten Einzelschritten, wie der Werdegang vom Meeresbewohner zum Menschenaffen.

Fazit zur Theogonie

Eine kurzweilige Lektüre von hohem, historischem Stellenwert, die gleichermaßen beeindruckend und beschämend ist. Darin steckt viel Wahres darüber, wie sich der Mensch im Rahmen seiner Möglichkeiten die Welt erklärt – zuweilen eben sehr erfindungsreich. Schon Platon kritisiert vieles von Hesiods Dichtung als »unwahre Erzählungen« (Politeia, Abschnitt 40a über Musische Bildung), die den jungen Leuten nicht unbedacht überliefert werden, »sondern am liebsten verschwiegen bleiben« sollten. Das geringschätzige Frauenbild hingegen, das Hesiod vermittelt, hatte Platon ebenso verinnerlicht, wie all die Generationen nach im, zum Teil bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts.

Apropos Platon: Hier geht’s zu Blogbeiträgen über Platons Ideenlehre und Platons Höhlengleichnis.

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Das schwache Geschlecht: Schicksal oder Mythos? | Bio mit Beauvoir http://www.blogvombleiben.de/das-schwache-geschlecht-schicksal-oder-mythos/ http://www.blogvombleiben.de/das-schwache-geschlecht-schicksal-oder-mythos/#respond Wed, 01 Aug 2018 07:00:42 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4607 Wie viele Geschlechter gibt es? Zwei. Welche beiden? Männlein, Weiblein. Welches ist stärker? Männlein. Alles klar!…

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Wie viele Geschlechter gibt es? Zwei. Welche beiden? Männlein, Weiblein. Welches ist stärker? Männlein. Alles klar! Jetzt könnte man mit kindlicher Neugier noch weiter stochern: Warum ist das denn so? Und ist das wirklich so? Gibt es das »schwache Geschlecht«? Erwachsene Skepsis funkt dazwischen: Ob Kinder im 21. Jahrhundert diese Verunglimpfung überhaupt noch kennen, »das schwache Geschlecht«? Doch für Kinder hat der folgende Beitrag ohnehin zu wenig Bilder. Und zu viel versaute Sprache. Also bitte, liebe erwachsene Leser*innen, muntere Ein- und Mehrzeller da draußen, lasst uns über Geschlechter sprechen.

Ein Porträt von Simone de Beauvoir und die Frage: Gibt es das schwache Geschlecht?

Von Einfältigkeit und Entfaltung

Ich ziehe für die etwas plakative Frage – Gibt es das schwache Geschlecht? – ein Buch zurate, das schon ein wenig in die Jahre gekommen ist. Das andere Geschlecht (1949) von Simone de Beauvoir. Eine französische Philosophin und ihr monumentales Standardwerk über die Rolle der Frau von Anbeginn der Menschheitsgeschichte bis heute. Ja, okay, heute vor rund 70 Jahren – doch vieles von dem, was Beauvoir schreibt, hat nicht an Gültigkeit verloren.

Doch vorweg: Wer war Simone de Beauvoir? Zu dieser Frage hat ARTE einen amüsanten Film produziert – eine Art »Beauvoir kompakt«, 3 Minuten knackig kurzes Kennenlernen jener Frau, aus deren Werk hier fleißig zitiert wird:

In einem Meer vor unserer Zeit…

Wie es sich für ein Standardwerk gehört, fängt Beauvoir mit ihrer Untersuchung der Geschlechter-Verhältnisse ganz vorne an. Oh nein, nicht bei Adam und Eva – noch weiter vorne: Bei den namenlosen Einzellern, die sexlos durchs urgeschichtliche Meer wabern und lange vor Darwin denken: könnt‘ langsam mal weitergehen, die Evolution…

Ungeschlechtliche Fortpflanzung

Einzellige Lebewesen sind zur selbständigen Teilung fähig, da geht die Vermehrung ganz ohne Sex vonstatten. Diese ungeschlechtliche Fortpflanzung nennt man auch Schizogonie.

Vielzellige Lebewesen können sich ebenfalls ungeschlechtlich vermehren. Dazu gehören etwa die Süßwasserpolypen, winzige Nesseltiere, an denen Knospen wachsen, aus denen dann neue Nesseltiere entstehen.

Beobachtungen haben gezeigt, daß die ungeschlechtliche Vermehrung sich unbegrenzt fortsetzen kann, ohne daß irgendeine Form von Degeneration auftritt. 1

Mit diesem Kommentar möchte Beauvoir der naheliegenden Reaktion entgegenwirken, evolutionären Fortschritt per se mit Überlegenheit gleichzusetzen. Die ungeschlechtliche Fortpflanzung »primitiver« Organismen nutzt sich nicht ab, schadet nicht den Individuen oder ist irgendwie »schlechter« als geschlechtliche Fortpflanzung. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, die Denkkategorien »besser« und »schlechter« mal für eine Weile abzuschalten. Das Leben ist erstmal nur.

Eingeschlechtliche Fortpflanzung

Unter dem Fachbegriff Parthenogenese (oder auch: Jungfernzeugung) fällt die eingeschlechtliche Fortpflanzung. Dabei gehen etwaige Nachkommen aus unbefruchteten Eizellen hervor. Die Parthenogenese ist bei manchen Pflanzen zu beobachten. Ebenso bei Blattläusen (die häufig über mehrere Generationen nur Weibchen hervorbringen), sowie gewissen Schnecken, Fischen, Schlangen und Eidechsen. Bestimmte Hormone sind es, die deren Eizellen vorgaukeln, sie seien befruchtet. Darauf folgt die Teilung und ein neuer Organismus entsteht – ohne, dass andersgeschlechtliche, befruchtende (von Menschen gemeinhin als »männlich« bezeichnete) Artgenossen dazu beigetragen hätten.

Es sind immer zahlreichere, immer kühnere Experimente mit Parthenogenese durchgeführt worden, und bei vielen Arten hat das Männchen sich als vollständig unnütz erwiesen. 2

Zweigeschlechtliche Fortpflanzung

Kommen wir zum nächsten Szenario: 2 Gameten verschmelzen miteinander. Gameten sind in einem Körper diejenigen Zellen, die der geschlechtlichen Fortpflanzung dienen – auch Geschlechtszellen genannt. Es gibt Algen, bei denen diese miteinander zu einem Ei verschmelzenden Gameten äußerlich nicht voneinander zu unterscheiden sind. Das nennt man Isogamie. Es zeigt, dass Gameten (die wir später »männlich«, »weiblich« differenzieren) grundsätzlich gleichwertig sind. Das schwache Geschlecht? Bis hierher: keine Spur.

Nun sind im Laufe der Evolution aus ursprünglich identischen Zellen voneinander zu unterscheidende hervorgegangen: Eizellen (Oozyten, auch »weibliche Geschlechtszellen« genannt) und Samenzellen (Spermatozyten, oder »männliche Geschlechtszellen«).

Zwei in Eins

Doch Achtung! Hier leitet uns die Sprache bereits auf naheliegende Irrwege. Tatsache ist, dass es verschiedenartige Gameten gibt, aus deren Verschmelzung ein Ei entsteht. Diese verschiedenartigen Gameten jedoch unterschiedlichen Geschlechtern (»weiblich«, »männlich«) zuzuordnen, mutet etwas voreilig an. Beide Ausprägungen von Gameten, also sowohl Ei- als auch Samenzellen, können gemeinsam in ein- und demselben Lebewesen vorkommen. Das kennt man zum Beispiel von bestimmten Pflanzen oder auch Ringelwürmern. Wenn Individuen  mehrere Arten von Geschlechtsausprägungen haben, die verschiedenartige Gameten hervorbringen (jene Eizellen und Samenzellen), dann sprechen wir von Zwittrigkeit.

Hermaphroditismus ist ein Fachbegriff für Zwittrigkeit, die sich aus der griechischen Mythologie ableitet – genauer: Aus Ovids Metamorphosen. Darin erzählt der Dichter die Geschichte vom gemeinsamen Sohn der Liebesgöttin Aphrodite und des Götterboten Hermes, nach seinen Eltern Hermaphroditos benannt. Dieser wurde eines Tages von einer Nymphe derart fest umarmt, dass ihre Körper miteinander verschmolzen. Fortan trug Hermaphroditos seine eigenen Geschlechtsmerkmale sowie die der Nymphe – auch, wenn er schlief, wie diese großartige Skulptur zeigt (sie geht auf eine Bronzeplastik aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. zurück):

Schlafender Hermaphrodit

Statue des »Schlafenden Hermaphrodit«

Intersexuell statt »unecht«

Zwar kommt es beim Menschen vor, dass ein Körper unterschiedliche Geschlechtsmerkmale (etwa einen Penis und Brüste) offensichtlich ausprägt. Nicht jedoch, dass in einem Menschen verschiedenartige Gameten (also Ei- und Samenzellen) produziert werden. Deshalb spricht man bei Menschen mit unterschiedlichen Geschlechtsmerkmalen von »Pseudohermaphroditen« oder »unechten Zwittern«. »Pseudo« respektive »unecht« sind jedoch sehr wertende Begriffe, in denen eine Vorstellung von richtig und falsch mitschwingt, die nicht von der Natur, sondern von uns Menschen kommt. Wir sind es, die diese Ausprägung eines Körpers als »Störung« klassifizieren und behandeln.

Menschen, die solch unterschiedliche Geschlechtsmerkmale haben, empfinden solche Begriffe – verständlicherweise – als diskriminierend. Viele bevorzugen die Bezeichnung intersexuell. Und ja, intersexuelle Menschen können schwanger werden (siehe: Diskussion bei Quora), je nach dem, wie die jeweiligen Geschlechtsmerkmale ausprägt sind. Das ist Tatsache. Doch von der Möglichkeit zur Fortpflanzung auf einen »erfüllten Sinn« zu schließen, der eine etwaige Störung wettmacht, das ist wieder der Mensch. Die Natur ist irgendwie und wir Menschen deuten sie. Wie ein Kunstwerk. (Wobei wir bei einem Kunstwerk gerne mal hinnehmen, dass es einfach keinen Sinn macht.)

Was mit Sicherheit behauptet werden kann, ist, daß beide Fortpflanzungsmodi [Getrenntgeschlechtlichkeit und Zwittrigkeit] in der Natur nebeneinander vorkommen, daß einer wie der andere die Arterhaltung sichert und daß die Verschiedenartigkeit der gonadentragenden Organismen [Gonaden sind die Geschlechtsorgane, in denen die Ei- oder Samenzellen gebildet werden] ebenso wie die der Gameten akzidentell [also zufällig] scheint. Die Trennung der Individuen in Männchen und Weibchen stellt sich also als eine unreduzierbare und kontingente Tatsache dar. 3

Platon, Hegel und Konsorten

Mit »kontingent« meint Simone de Beauvoir »beliebig« im Sinne einer möglichen aber nicht notwendigen Trennung. Zu Beginn ihres Buchs Das andere Geschlecht (1949) führt die Autorin beeindruckend vor Augen, wie namhafte Denker diese Trennung zwischen »männlich« und »weiblich« seit jeher entweder erklärungsfrei hingenommen oder logisch zu begründen versucht haben. Dabei schlägt sie den Bogen von der griechischen Antike (Platon, Aristoteles) vor rund 2500 Jahren über das Mittelalter (Thomas von Aquin) bis in die Neuzeit (Hegel) und ihre unmittelbare Gegenwart (Merleau-Ponty, Sartre).

Auch die Ansichten über die jeweiligen Rollen der Geschlechter beleuchtet Beauvoir im Wandel der Zeit. Angefangen mit frühgeschichtlichen Mythen bis hin zur ersten Beobachtung einer Samenzelle, die in die Eizelle eines Seesterns eindringt – im Jahr 1877. Damit war die Gleichwertigkeit dieser verschiedenartigen Geschlechtszellen, die zu einem Ei verschmolzen, eigentlich bewiesen. Und doch wurde das quirlige Verhalten der Spermien und die geruhsam wartende Eizelle vielfach von altklugen Köpfen interpretiert: Als Zeichen für männliche Aktivität und weibliche Passivität. Beauvoir erlaubt sich hier noch einmal einen Verweis auf die eingeschlechtliche Fortpflanzung (Parthogenese), bei der Eizellen durch bloße Einwirkung körpereigener Hormone beginnen, neues Leben hervorzubringen.

Es hat sich gezeigt, daß bei manchen Arten die Einwirkung einer Säure oder eine mechanische Reizung ausreichen kann, um die Eifurchung und die Entwicklung des Embryos auszulösen. Vielleicht wird die Mitwirkung des Mannes an der Fortpflanzung eines Tages überflüssig: das ist anscheinend der Wunsch zahlreicher Frauen. Nichts aber berechtigt zu einer so gewagten Vorwegnahme, denn nichts berechtigt zu einer Verallgemeinerung spezifischer Lebensprozesse. 4

Von der Eizelle zum heimischen Herd

Eine Verallgemeinerung wie die vom Verhalten unserer Geschlechtszellen auf die Verhaltensnormen unserer Geschlechtsrollen, wenn man sagt: »Eizellen sind passiv, also gehören Frauen an den Herd.« Beauvoir warnt überhaupt vor der Freude an Allegorien, während sie auf die genauen biologische Vorgänge bei der Befruchtung eingeht. (Und bevor sich jemand räuspert: ja, ich weiß, ich stelle in diesem Blog selbst eine unverhohlene Vorliebe für Allegorien zur Schau…). Im Moment der Zeugung, so die Quintessenz von Beauvoirs Ausführungen jedenfalls, stellt sich keines der Geschlechter als dem jeweils anderen überlegen dar. Aber ab wann gibt es das schwache Geschlecht denn dann?

Aus befruchteten Eiern gehen beim Menschen – wie bei den meisten Tieren – in etwa gleich viele Individuen zweier verschiedenartiger Geschlechter hervor, von uns »Männchen« und »Weibchen« genannt. Für beide vollzog sich die embryonale Entwicklung identisch, bis zu einem Reifestadium, da sich Hoden oder Eierstock zu bilden begannen. Bis zur neunten Woche hat ein Embryo einen sogenannten Genitalhöcker, aus dem sich Penis oder Vagina bilden. Was beim Penis größer wächst und zur Eichel wird, rutscht bei der Vagina weiter hoch und heißt Klitoris. Quasi das gleiche Ding, etwas anders positioniert. Etwaige Zwischenformen – wie eine zu große Klitoris oder ein zu kleiner Penis, wie sie die Natur manchmal hervorbringt – werden von uns als Störungen bezeichnet und zuweilen operativ angepasst.

Die Sexualtheorie zu Zeiten Beauvoirs ging bereits davon aus, dass das Einwirken bestimmter Hormone auf den Zellhaufen Mensch dazu führt, dass dieser Zellhaufen diese oder jene Geschlechtsmerkmale bekommt. Hormonelles Ungleichgewicht hat dabei Formen der oben beschriebenen Intersexualität zur Folge. Wie genau die Gewichtung zustande kommt? Der Titel von Beauvoirs erstem Kapitel sagt es schon: Schicksal.

»Das schwache Geschlecht« bei Tier und Mensch

Die Philosophin klettert im Folgenden die evolutionäre Stufenleiter des tierischen Lebens hinauf, mit Blick auf das schwache Geschlecht. Wir passieren Stechmücken, von denen das Männchen nach der Befruchtung stirbt, und Schmetterlinge, deren Weibchen nicht einmal Flügel haben, während Männchen mit Flügeln, Fühlern und Scheren ausgestattet sind, sowie allerlei anderes Getier.

Sehr häufig legt [das Männchen] bei der Befruchtung mehr Initiative an den Tag als das Weibchen: es sucht das Weibchen auf, greift es an, betastet es, packt es und zwingt ihm die Paarung auf; […]

Auch wenn das Weibchen provozierend oder willig ist, ist es in jedem Fall das Männchen, das es nimmt: es wird genommen. Das trifft oft buchstäblich zu: entweder weil das Männchen entsprechende Organe hat oder weil es stärker ist, packt es das Weibchen und hält es fest; ebenso vollführt es aktiv die Kopulationsbewegungen. Bei vielen Insekten, bei den Vögeln und den Säugetieren dringt es in das Weibchen ein. Dadurch erscheint das Weibchen als eine vergewaltigte Interiorität. 5

Die Fortpflanzungsfunktion

Zu dieser äußerlichen Fremdherrschaft kommt eine innere Entfremdung durch das befruchtete Ei, dass sich im Uterus festsetzt und zu einem anderen Organismus heranwächst. Simone de Beauvoir beleuchtet die vorwiegend belastenden Auswirkungen von Schwanger- und Mutterschaft, von Zyklus und Wechseljahren auf den weiblichen Körper und kommt zu dem Schluss:

[…] von allen weiblichen Säugern ist die Frau am tiefsten sich selbst entfremdet, und sie lehnt diese Entfremdung am heftigsten ab; bei keinem ist die Unterwerfung des Organismus unter die Fortpflanzungsfunktion unabwendbarer, und bei keinem wird sie mit größeren Schwierigkeiten angenommen. 6

Wir werdende Wesen

Die in Beauvoirs Buch ausführlich beschriebenen Gegebenheiten des Körpers sind deshalb so wichtig, weil der Körper als »Instrument für unseren Zugriff auf die Welt« maßgeblich ist. Trotzdem lehnt Beauvoir die Vorstellung ab, dass all die Belastungen für den weiblichen Körper mit einem festgelegten Schicksal einhergingen. Das bringt uns zu unserer Ausgangsfrage:

Gibt es das schwache Geschlecht?

Diese Frage stelle sich für die Frau nicht in derselben Weise, wie für andere Weibchen irgendwelcher Tierarten, die beobachtet und einigermaßen statisch beschrieben werden könnten. Denn, so betont Beauvoir: Menschen sind stetig im Werden begriffen, niemals fertige Wesen. Beauvoir schreibt in den späten 1940er Jahren:

Die Frau ist keine feststehende Realität, sondern ein Werden, und in ihrem Werden müßte man sie dem Mann gegenüberstellen, das heißt, man müßte ihre Möglichkeiten bestimmen: was so viele Diskussionen verfälscht, ist, daß man die Frau, wenn man die Frage nach ihren Fähigkeiten stellt, auf das beschränken will, was sie gewesen ist, was sie heute ist. Tatsache ist doch, daß Fähigkeiten nur sichtbar werden, wenn sie verwirklicht worden sind. 7

Und eben, dass eine Untersuchung der Fähigkeiten niemals abgeschlossen wäre. Fähigkeiten, die beim Mensch nicht von körperlichen Gegebenheiten abhängig sind.

Die Weltreisende und Journalistin Nellie Bly, hier im Alter von etwa 26 Jahren (1890)

Beauvoir appelliert an den Kontext:

Schwäche zeigt sich als solche nur im Licht der Ziele, die der Mensch sich setzt, der Instrumente, über die er verfügt, und der Gesetze, die er sich auferlegt. […] Wo die Sitten Gewaltanwendung verbieten, kann die Muskelkraft keine Herrschaft begründen: existentielle, ökonomische und moralische Bezüge sind nötig, damit der Begriff Schwäche konkret definiert werden kann. 8

Mit Tiefgang gegen den Mythos

Diese Bezüge stellt Simone de Beauvoir her. In ihrem 900 Seiten umfassenden Werk Das andere Geschlecht nimmt sie die Kunst- und Kulturgeschichte unter die Lupe, die kindliche Entwicklung und Erziehung. Sie untersucht etablierte Argumente und Klischees und liefert damit eine Lektüre, die über Jahrzehnte Bestand hat und noch heute Antworten auf Fragen gibt, die manchmal eben nicht in einem 30-sekündigen Facebook-Video zu beantworten sind. Es sei denn, man heißt Frauke Petry. Das schwache Geschlecht? Abgenickt.

Ich habe nichts dagegen, dass Frauen weiterhin das schwache Geschlecht sind, weil wir objektiv anders sind als Männer.

Frauke Petry (Quelle)

»Das schwache Geschlecht« ist ein Mythos. Eine polemische Formel, die helfen soll, eine Autorität zu etablieren, wo es an Rechtfertigung für diese Autorität fehlt. »Objektiv anders« ist jeder Mensch von seinem Nächsten, »anders« mit »schwach« gleichzusetzen ist irgendwie absurd, für eine Partei, die sich selbst als »Alternative« (also: anders!) bezeichnet – und in dieser Absurdität schon wieder passend. Doch bevor ich mich dazu hinreißen lasse, hier auf den letzten Zeilen das Thema zu wechseln, überlasse ich die Kommentierung von Frauke »weiterhin das schwache Geschlecht« Petry dieser YouTuberin:

Das schwache Geschlecht spricht:

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ASTERIX IM LAND DER GÖTTER | Film 2014 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-asterix-im-land-der-goetter-2014/ http://www.blogvombleiben.de/film-asterix-im-land-der-goetter-2014/#respond Mon, 30 Jul 2018 05:00:48 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4439 »Wer Asterix-sozialisiert ist«, schreibt Christine Paxmann im aktuellen Eselsohr (Heft 7, 2018), »wird sicher noch die ersten…

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»Wer Asterix-sozialisiert ist«, schreibt Christine Paxmann im aktuellen Eselsohr (Heft 7, 2018), »wird sicher noch die ersten Ausgaben im Schrank haben.« Band 1, Asterix der Gallier, kam 1968, passend zu Paxmanns Schulstart. »Da waren die Figuren noch nicht stromlinienförmig, auch wenn das bei den beleibten Herren der gallischen Antike eh schwierig ist.« Aber, wie die Zeit vergeht: Inzwischen werden die beleibten Herren der gallischen Antike im digitalen Animationsprogramm gestaltet. Der Blog-vom-Bleiben-Gastautor Markus Hurnik hat sich den ersten computer-animierten Asterix-Film aus 2014 nochmal angesehen.

Gastbeitrag von Markus Hurnik

Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Beitrag enthält keine Spoiler. Aktuelle legale Streamingangebote finden sich bei JustWatch.

Asterix im Land der Götter: Topaktuell und spannend. Er garniert die weltpolitische Lage mit einer Prise Humor, zeigt einem aber auch die aktuellen Probleme und Missstände auf. Sei es Flüchtlinge, Migration, Gentrifizierung, Integration und Widerstand.

Asterix im Land der Götter, schüttelt einem Mann die Hand. | Bild: M6 STUDIO / BELVISION / M6 FILMS / SNC / LES ÉDITIONS ALBERT RENÉ / GOSCINNY-UDERZO

Erstmals in der dritten Dimension

Der Film Asterix im Land der Götter wurde bereits 2014 veröffentlicht. Er ist der erste 3D-Animationsfilm der Reihe. Viele haben vermutlich in den letzten Jahren irgendwann aufgehört zu verfolgen, wann neue Asterix-Filme veröffentlicht wurden, da die Filme mit echten Schauspieler*innen teilweise doch einigen Missmut hinterlassen haben. Sie konnten das asterix‘sche Flair nie richtig einfangen. Wer erinnert sich nicht an das Fiasko Asterix und Obelix gegen Caesar, in dem der Humor auf der Strecke blieb? Doch der neue Film der Reihe gibt einem wieder einen Grund ins Kino zu gehen bzw. die Blu-ray zu erwerben. Asterix im Land der Götter basiert auf dem 17. Comic der Reihe – der Trabantenstadt

Ansehnliche Animationen, ein schönes Farbbild und eine typische Asterix Geschichte sind zu erwarten.

Feinde ihrer selbst

Zum Inhalt: Der Film ist in Gallien angesiedelt. Caesar hegt wieder einmal Pläne, wie er das Dorf der Gallier*innen sich zu eigen machen kann. Ein kaltblütiger Plan soll her und man entscheidet sich zu dem Bau einer Trabantenstadt – dem Land der Götter (und Göttinnen). Das gallische Dorf wiederum soll dadurch in die Defensive gerückt werden und nach und nach zum unbedeutenden Vorort verkommen, welcher sich nach und nach integriert. Dabei wird die Bevölkerung des gallischen Dorfes auf eine harte Probe gestellt. Seine gesellschaftlichen Strukturen drohen zu zerfallen beziehungsweise die Dorfbewohner*innen die Feinde ihrer selbst zu werden.

Alles findet seinen Platz Asterix im Land der Götter und wird wunderbar humorvoll und amüsant in Szene gesetzt.

Das Schwein zwischen den Fronten

Dem neuen Animationsstil ist es auch zu verdanken, dass die Keilereien zwischen Römer*innen und Gallier*innen (*und eigentlich kloppen sich doch nur die Kerle) endlich wieder so sind, wie man Sie aus den alten Filmen kennt. Mal ragt eine Hand aus dem Gemenge, ein Römer fliegt über das Feld oder ein Wildschwein kommt zwischen die Fronten. Und alles wirkt schön unrealistisch und verspielt, wie es sein muss!

Man kann sagen, Asterix ist endlich im 21. Jahrhundert angekommen! Dafür ist vermutlich der zweite Regisseur Louis Clichy verantwortlich, der bereits einige Pixar-Filme prägte, wie WALL·E (2008) oder Oben (2009).

Asterix im Land der Götter auf Deutsch

Leider gibt es aber auch unschöne Aspekte. So ist die deutsche Synchronisation zum Teil etwas gewöhnungsbedürftig. Milan Peschel gefällt mir einfach nicht als Asterix. Der Charakter kommt einem teilweise so fremd vor, als würde die eigene Stimme nicht an Ihn glauben.

Der Humor kommt dagegen überhaupt nicht zu kurz. Schöne Szenen im römischen Dampfbad und auch szenische Darstellung holen sowohl das ältere Publikum, als auch den jungen Filmfan ab. Viel Witz spielt sich auch zwischen den Zeilen ab, hier muss man vermuten, dass durch die Synchronisation eventuell noch mehr verloren gegangen ist, dies bleibt aber vorerst Spekulation. Genug Ironie und dialogischen Feinschliff hat die Übersetzung auf alle Fälle mitgebracht. Passierschein A38 lässt grüßen.

Mit dem Zaubertrank auf die Couch!

Die 3D-Umsetzung kann leider nicht weiter bewertet werden. Ich durfte den Film im heimischen Heimkino genießen und war daher auf 2D angewiesen. Jedoch ist anzunehmen, dass die 3D-Umsetzung nur für Hardcore-3D-Fans absolut notwendig ist, der durchschnittliche Zuschauer dürfte mit der 2D-Variante sehr gut versorgt sein.

Holt Euch daher Euren Lieblingszaubertrank auf die Couch und fallt zurück in Eure Kindheit. Ihr werdet es nicht bereuen und viel Spaß und Freude mit Asterix im Land der Götter haben.

Und wem das alles nicht genug ist, der kann sich auf 2019 freuen. Der Regisseur Alexandre Astier arbeitet bereits an seinem neuen Asterix – The Secret of the Magic Potion, welcher 2019 in Deutschland erscheinen wird.


Zum Autor

Markus Hurnik (28), langjähriger Berliner und Vorortbewohner, den es beruflich inzwischen zunehmend in sächsische Gefilde verschlägt. Er hat in seinen frühen Jahren für die Verlagsgruppe Randomhouse Jugendbücher rezensiert. Anfang der 2000er kam er vermehrt ins Kino und wurde filmabhängig. Studiert hat Hurnik etwas vollkommen Kunstfernes, vis-à-vis der Filmstudios Babelsberg.

Stammkino: Cineplex Titania Palast, Berlin
Lieblingskinos: Programmkino Ost, Dresden Thalia, Potsdam
Lieblingsfilme (eine Auswahl): La Grande Bellezza, Metropolis, Three Billboards Outside Ebbing, Missouri, WALL·E, Train to Busan

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