Kinder – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de Kinderbücher, Kinofilme und mehr! Thu, 04 Oct 2018 10:18:48 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 http://www.blogvombleiben.de/wp-content/uploads/2017/03/Website-Icon-dark.png?fit=32,32 Kinder – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de 32 32 138411988 SCHLAF WIE EIN TIGER von Mary Logue | Kinderbuch 2014 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/buch-schlaf-wie-ein-tiger-2014/ http://www.blogvombleiben.de/buch-schlaf-wie-ein-tiger-2014/#respond Mon, 24 Sep 2018 06:00:20 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5522 Schlafenszeit! Aber was, wenn das Kind noch überhaupt nicht müde ist? Das Kinderbuch Schlaf wie ein…

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Schlafenszeit! Aber was, wenn das Kind noch überhaupt nicht müde ist? Das Kinderbuch Schlaf wie ein Tiger von Mary Logue gibt Eltern ein Beispiel und Kindern ein tierisches Gute-Nacht-Märchen zur Hand.

Das Kind mit der Krone

Zum Inhalt von Schlaf wie ein Tiger: Das Kind mit der Krone auf dem Kopf ist absolut noch nicht müde. Das sei nicht schlimm, meinen die Eltern und leiten es mit abendlichen Ritualen sanft in Richtung Bett. Doch selbst im kuschligen Bettchen möchte das Kind noch nicht an Schlaf denken. Denn es gibt noch eine wichtige Frage zu klären: Geht eigentlich alles auf der Welt irgendwann schlafen?

Bloggerin Sonia Lensing mit dem Kinderbuch Schlaf wie ein Tiger

Der erste Blick aufs Buchcover verrät’s: Schlaf wie ein Tiger ist eine Gute-Nacht-Geschichte der kunterbunten Art. Was uns so farbenfroh entgegen leuchtet, ist nicht nur die bunte Girlande, die an ein Fest erinnert. Auf dem Boden schläft eine Figur im musternden Pyjama, angelehnt an einen Tiger, der seine Augen ebenfalls zum Schlummern geschlossen hält – hinter blauen Lidern, was auch an ein zurückliegendes Fest erinnert. Mit Krönchen und Kuscheltier schläft es sich scheinbar schön. Die Illustratorin Pamela Zagarenski erweckt mit dem Cover jedenfalls die kindliche Neugierde.

Überhaupt nicht müde

Mary Logue rückt eine Figur in den Mittelpunkt ihrer Gute-Nacht-Geschichte, die etwas anders ist. Sie trägt weder einen Namen, noch ist sie auf den ersten Blick als Schubladen-Mädchen zu erkennen. Die Autorin verzichtet auf klimpernde Wimpern, Schleifchen und Farben, die in diesen Zeiten (immer noch) mit dem weiblichen Geschlecht konnotiert sind. Und ich muss zugeben: Beim ersten Blick aufs Cover bin ich voll darauf reingefallen. Ätsch, doch kein Junge. Allein dieser kleine Oha-Moment sei der Autorin sowie der Illustratorin Pamela Zagarenski dankend anzuerkennen. Da sieht man mal wieder, wie oberflächlich das eigene Schubladen-System ist.

Indetifikationspotenzial?

Eine Protagonistin ohne Namen? Das wirkt zunächst etwas fremd, zumindest distanziert. Vor allem für Kinder sind Namen wie Ankerpunkte ihrer Identität. Etwas in dieser komplexen Welt, dessen sie sich sicher sein können (neben dem Alter, das ebenfalls enorm an kindlicher Relevanz besitzt). Bei der Frage »Wer bist du?« ist der Name aus Kinderperspektive in der Regel ausreichend, um nicht mehr als fremd zu gelten. Also, komm mit in den Sandkasten!

Doch Mary Logue geht mit Schlaf wie ein Tiger einen anderen Weg. Das Mädchen, von dem sie schreibt, ist einfach ein Kind, welches nicht schlafen gehen will. Damit addressiert sie alle Kinder (und Eltern), die dieses Problem vertraut ist. Ungeachtet der namentlichen Anonymität der Figur, gelingt es der Kinderbuchautorin durch die aufgezeigte Abendroutine des Mädchens, eine Identifikation der kleinen Leser*innen mit der Figur herzustellen.

Kindliche Lebensnähe

In den Schlafanzug schlüpfen, die Zähne putzen und sich ins Bett einkuscheln sind abendliche Rituale, die für die meisten Kinder zum Alltag gehören. Genauso wie die Auseinandersetzung mit den Eltern über das Zubettgehen – oder Nicht-Zubettgehen. Mit diesem zentralen Handlungsstrang ist die Geschichte nah an der Lebenswelt der Kinder angesiedelt. Auf diese Weise erhält die Lesemotivation der Kinder einen ordentlichen Schubser.  

Geht eigentlich alls auf der Welt irgendwann schlafen?

In dem Kinderbuch Schlaf wie ein Tiger geht es mehr um die Schlafgewohnheiten der Tiere als um deren nächtliche Aktivitäten, wie zum Beispiel in Bitta Teckentrups Kinderbuch Mond. So nehmen die königlichen Eltern das Mädchen auf eine gedankliche Reise mit und erklären ihr, wie Hund und Katze, aber auch Wale und Fledermäuse zur Ruhe kommen. Da fällt dem Mädchen selbst ein Tier ein, das tiefen Schlaf tanken muss: der Tiger! Doch auch jetzt ist das Mädchen, wo es im Bett liegt, nicht bereit, einzuschlafen. Auch das wird von den Eltern brav abgenickt. Soll es ruhig die ganze Nacht wach bleiben…

Allein in Gedanken versunken, fühlt sich das Mädchen in all die Tiere ein, die ihren Schlafgewohnheiten nachgehen. Besonders vorlesefreundlich ist dabei die wiederaufgenommene Chronologie, bei der die Kinder die zuvor vorgestellten Tiere wiedererkennen. Das motiviert müde Augen, noch ein Stück mitzulesen. Je mehr das Mädchen in ihrer Fantasie mit den Tieren verschmilzt, desto mehr beginnt ihr innerer Tiger nach Schlaf zu schnurren.

Hinweis: Ein Kinderbuch, das ebenfalls mit der Erzähl-Chronologie und Tiergewohnheiten spielt, ist Kleiner Dreckspatz Aurelia.

Ausgezeichnetes Buch

Zur Visualität: Bunte Häuser, diverse Größen und verspielte Muster sowohl im Hintergrund als auch im vorderen Geschehen zieren die Bilder von Pamela Zagarenski, die mit dem Caldecott Honor Medal ausgezeichnet wurde. Das Zusammenspiel verschiedener Elemente und zahlreicher Details lassen erahnen, wie viel Kreativität in der Illustratorin strotzt.

Besonders deutlich wird dieses artistische Talent bei der Visualisierung der kindlichen Fantasie: Aus dem Bett wird ein Meer für Otter. Aus der Stadt eine Unterwasserwelt und aus dem Kuscheltier ein großer Tiger. Für Kinder, die noch nicht schlafen wollen, sind solch detailreiche Illustrationen ideal, um der Entdeckungswut noch einmal Raum zu geben, um anschließend der Müdigkeit das Zepter zu übergeben.

Leseprobe gefällig? Einen Blick ins Buch bietet der Knesebeckverlag an. 

Fazit zu Schlaf wie ein Tiger

Das Kinderbuch von Mary Logue mit den wunderschönen und fantasievollen Illustrationen von Pamela Zagarenski ist eine in sich harmonische, geschlossene und liebevoll erzählte Gute-Nacht-Geschichte für Kinder ab 3 Jahren. Mit der Kombination aus Alltagsnähe und Märchenwelt sowie fabelhaften Bildern stimmt die Story die Kinder auf die sensible Schlafensphase ein. Ich vergebe 10 Sterne.

Titel
Schlaf wie ein Tiger
Erscheinungsjahr2014
Autorin/IllustratorinMary Logue/ Pamela Zagarenski
Verlag
Knesebeck
Umfang
40 Seiten
Altersempfehlung
ab 3 Jahren
Thema
Schlafen, Tiere

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FERNSTUDIUM, ist das was für mich? | Vorteile, Nachteile http://www.blogvombleiben.de/fernstudium-vorteile-nachteile/ http://www.blogvombleiben.de/fernstudium-vorteile-nachteile/#respond Fri, 21 Sep 2018 07:00:27 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5535 Durch meinen Körper rollt eine Welle der Euphorie über die bestandene Prüfung von gestern. Dieses Gefühl…

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Durch meinen Körper rollt eine Welle der Euphorie über die bestandene Prüfung von gestern. Dieses Gefühl will ich mal zum Anlass nehmen, über das fesche Trendthema »Fernstudium« zu schreiben. Denn ist die Welle erst abgeflaut und der Alltag zurück, dann kommt mir das Thema so seltsam langweilig vor, als würde das niemanden jucken, als wäre jede meta-mäßige Auseinandersetzung damit die reinste Zeit- und Zeilen-Verschwendung. Und ist erst die nächste Lernphase da, dann hab ich für so einen Rummel eh keine Zeit mehr. Aber jetzt, da die Freude hoch ist und das Vakuum zwischen Lernphase und Alltag noch besteht, da offenbart sich mir das Thema »Fernstudium« in all seiner Relevanz und Geilheit. Ja, Geilheit. Ein schlaueres Wort hab ich grad nicht. Nachteil Nr. 1 eines Fernstudiums: Es macht dich nicht wirklich schlauer. Nur in-so-dumm.

Wissensdurst auf hoher See

Kurze Erklärung zum »In-so-dumm«

Was heißt »in-so-dumm«? Zunächst ein kleiner Schwank aus der Kindheit – wer darauf keinen Bock hat, einfach direkt zum Abschnitt »5 Gründe« scrollen.

Drei Geschwister-Kinder laufen zum Strand

Meine kleinen Geschwister und ich, wir haben unsere Kindheit in den 90er Jahren verbracht. Also ohne Handy und Internet, dafür mit jeder Menge Langweile und dummen Ideen. In der Regel waren das Ideen für irgendwelche Spiele, meist Rollenspiele. Wann immer wir in unseren Kinder-Hirnen selber gemerkt haben, dass die eine oder andere Idee (nach Maßstäben der Erwachsenenwelt) dumm war, dann haben wir das natürlich entsprechend reflektiert. Wir spielten also »in-so-dumm«. Zum Beispiel eine Partie Mein Land:

Eine Partie Mein Land

Alle sitzen in verschiedenen Ecken einer Matratze (im Kindesalter hatte man zu dritt auf einer handelsüblichen Bettmatratze noch jede Menge Platz) und diese Matratze ist ein Land. Aber nur »in-so-dumm« (mit diesem Zusatz haben wir das einander erklärt, um zu zeigen, dass wir selbstverständlich checken, dass die Matratze kein echtes Land ist). Im Folgenden ging es darum, die jeweils anderen Geschwister mit reichlich Gerangel von der Matratze zu schubsen, um diese für »Mein Land« zu erklären. Dämliches Spiel, wenn man bedenkt, dass der junge Mozart in unserem Alter schon seine ersten Auftritte gab. Kann man noch weiter vom Genie entfernt sein, als beim begeisterten Sich-Gegenseitig-vom-Bett-schubsen?

Ein paar Jahre später (okay, 20 Jahre später) habe ich gemerkt, dass unser kindisches »in-so-dumm« in der Erwachsenenwelt gang und gäbe ist. Wenn wir ein Stück Papier hochhalten und behaupten, das sei jetzt so viel wert wie ein Fahrrad, dann natürlich nur »in-so-dumm« und solange alle mitspielen. Und wenn wir einen bestimmten Bereich abstecken und ein »Land« nennen, dann checken wir selbstverständlich, dass es ein Land gar nicht gibt. Es gibt vielleicht das Land, wenn man dem Trockenen zwischen den Wassermassen, die wir als »Meer« bezeichnen, auch einen Namen geben möchten.

Aber »ein Land« (neben anderen Ländern) gibt es nur in der Vereinbarung sehr vieler Menschen, die sich irgendwie miteinander arrangieren wollen. Denn das tun Menschen, wenn sie zu alt sind, um zu spielen. Sie »arrangieren« sich miteinander. Ist man einmal in einem ehrwürdigen Alter, wie etwa, sagen wir, 69 Jahre (Glückwunsch nachträglich, Horst! Und jetzt geh mal in Rente), dann hat »Mein Land« als Spiel seinen Charme eingebüßt. Es gibt nur noch Verlierer*innen.

Was ist denn schon »wirklich«?

2015 war’s, als ich mich zunehmend fragte, was noch alles »in-so-dumm« ist, also nur in-den-Köpfen. Ist dafür einmal das Bewusstsein geschärft, dann wird die Dummheit riesengroß. Sie ist überall und laut und bedrohlich. Wie kann man sich vor diesem Monstrum schützen? Wie kann man Wirklichkeit von Dummheit unterscheiden? Gibt es Wirklichkeit überhaupt? Und wenn ja (oder nein), was ist wirklich wichtig im Leben?

Aus dieser Verzweiflung heraus habe ich mich Anfang 2016 nach einer Möglichkeit der Weiterbildung umgeschaut. Denn der Impuls »weg von der Dummheit« führt im logischen Umkehrschluss erstmal »hin zum Wissen« (wo oder was das auch immer sein mag).

Klarstellung: Wenn ich hier von »Dummheit« spreche, ist dieser Begriff nicht als Beleidigung gemeint. In diesem Blogbeitrag benutze ich »dumm« in Anlehnung an oben erläuterten, unbewussten Neuwort-Schöpfung »in-so-dumm« aus Kindheitstagen. In diesem Sinne heißt »dumm«: von nicht zureichender Intelligenz, um mit Gewissheit sagen zu können, was Wirklichkeit ist.

Fixe Entscheidung zum Fernstudium

Im Jahr 2016 war ich noch fest angestellt in einer Redaktion und habe von montags bis freitags meine 35 Stunden geschoben. Nine to Five. Damals hatte ich noch nicht den Arsch in der Hose, diese solide Wochenstruktur aufzugeben. (Der Arsch fehlt mir heute noch – was okay ist, wenn man den Gürtel enger schnallt. Ha ha. Witze aus dem Leben eines frisch gebackenen Selbständigen; da kann man nur selbst drüber lachen, und zwar ständig.) Jedenfalls hätte mein Arbeitgeber mich damals bei einer Weiterbildung sicher unterstützt, wenn ich A) gefragt hätte und es B) ein Bezug zum Verlagswesen gegeben hätte. Aber da ich Letzteres nicht wollte, konnte ich mir Ersteres auch sparen. Wie also dann weiterbilden, neben dem Beruf?

Brille, Stifte, Studienzeugs, dazu der Text: Fernstudium, Vorteile & Nachteile

Private Fernlehrgänge: Schon früher hatte ich mal – andere Stadt, andere Arbeit – das Bedürfnis, nebenbei noch was zu lernen. Da war meine Wahl auf den ILS-Fernlehrgang »Filmproduktion – professionell gemacht« gefallen. Der schneidet im Fernstudium-Check richtig gut ab, ist aber inhaltlich mager. Mit Blick aufs Preis-Leistungs-Verhältnis kann man die Kohle besser in ordentliche Lektüre zum Thema Film investieren. Wann immer ich mich heute auf irgendetwas im Bereich Film bewerbe, lasse ich diesen Fernlehrgang aus meinem Lebenslauf raus, weil es mit professioneller Filmproduktion nichts zu tun hat. Ist ein bisschen so, als würde man in einer Bewerbung als Architekt*in angeben, welche Anwesen man in SimCity gebaut hat.

Die Fernuniversität in Hagen

Kurzum: Weder wollte ich berufsbezogene Möglichkeiten der Weiterbildung wahrnehmen, noch etwaige Programme privat-wirtschaftlicher Fernschulen, auf den Verdacht hin, dass man da mehr Geld als Grips investiert. Eine Alternative fand ich in der einzigen staatlichen Fernuniversität in Deutschland, die gleichzeitig mit rund 76.000 eingeschriebenen Student*innen die größte Uni Deutschlands ist.

Die Zahl entspricht etwa der Bevölkerungszahl meiner Heimatstadt, was mich anfangs ziemlich beeindruckt hat. Aber man muss einfach bedenken, dass das quasi nur »der große Rest« derjenigen ist, die nicht schon sonstwo irgendwas studieren. Und gemessen an den Zugangsvoraussetzungen und der deutschen Bevölkerungszahl ist 76.000 angesichts der Zahl der Menschen, die dort ein Fernstudium machen könnten, eher erstaunlich gering. Dieses Staunen nimmt bei mir über die Semester hin immer weiter zu, weil die Qualität dieser Universität – in so ziemlich jeder Hinsicht – echt stark ist. Allerdings, klar, muss man halt ein Interesse an den Inhalten eines Fernstudiums haben.

Zulassungsvoraussetzungen für Bachelor-Fernstudiengänge an der FernUniversität in Hagen:

  • Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife, oder
  • Zeugnis der fachgebundenen Hochschulreife, oder
  • Gleichwertiger Schulabschluss, oder
  • Gleichwertige berufliche Qualifikation, oder
  • Gleichwertige ausländische Qualifikation
Das Studienangebot

Interesse an den Inhalten also… das sagt sich so leicht. Als ich mich erstmals durch das Angebot der Bachelor-Fernstudiengänge scrollte, da dachte ich noch: nö, nö, nöhöhööö! Informatik, Mathematik, Politik- oder Wirtschaftswissenschaft? Warum nicht gleich Jura? Fuck. Ich hab in Mathe damals aus Sinus-Kurven Dinosaurier gemacht und im Computerraum nur mit Paint gespielt und über Google die Earth bewundert. Und Wirtschaft? In meiner Ausbildung zum Kaufmann dienten mir T-Konten eher dazu dazu, die Vor- und Nachteile vom Berufsschulunterricht aufzulisten. Vorteile: Die Lehrer*innen sind weniger streng. Du bist jetzt erwachsen. Nachteile: Die Lehrer*innen sind weniger streng. Du bist jetzt erwachsen. Ach, wer braucht schon Buchhaltung? Konnte ich doch nicht wissen, dass ich mich mal selbständig mache.

Selbständige brauchen Buchhaltung.

Existenzgründung 101

Ja, ich habe in meinen Interessen (oder Desinteressen) oft geirrt. Dass meine Wahl für ein Bildungsangebot letztendlich auf den Studiengang B.A. Kulturwissenschaften fiel, das war die Folge von zu viel Desinteresse. Ausschlussverfahren. Das eine, das noch übrig war, nachdem ich den Rest der Liste von Studiengängen für ein mögliches Fernstudium im Geiste noch durchgestrichen hatte. Und Kulturwissenschaften war zunächst nur deshalb vor dem Rotstift sicher, weil ich ehrlich gesagt nicht wusste, »wat dat is«, wie man in der Heimat so schön sagt.

Der Studiengang B.A. Kulturwissenschaften

Der Studiengang B.A. Kulturwissenschaften umfasst an der FernUniversität verschiedene Module aus 3 Fachrichtungen: Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie. In Letzterer geht es zuweilen ganz ausdrücklich darum, was eigentlich Wirklichkeit und was nur in unseren Köpfen ist. Riesenthema. Und genau das, was ich suchte. Na endlich, gefunden.

Einige Themen, mit denen man (je nach eigenem Interesse) durch diesen Studiengang in Berührung kommen kann – nur eine winzige Auswahl, für einen ersten Eindruck:

  • Die griechische Antike, Anfänge unserer Demokratie
  • Das Mittelalter in all seiner Ungerechtigkeit
  • Die Entdeckungsreisen großer Seefahrer*innen
  • Die Französische Revolution
  • Literarische Vorlagen zu Filmklassikern (siehe: Traumnovelle / Eyes Wide Shut)
  • Das Theaterwesen in Deutschland 
  • Sprachen und was sie bewirken
  • Affen, Menschen, Cyborgs und was sie unterscheidet

Das weiß ich wohlgemerkt erst jetzt – also, dass Kulturwissenschaften das ist, was ich 2016 suchte. Anfangs dachte ich nur: Joa, Geschichte interessiert dich und hilft bestimmt bei dem Hobby »Geschichten schreiben«. Und zack, hatte ich mich für ein Fernstudium eingeschrieben. Was genau Philosophie ist und alles dahintersteckt, das entfaltet sich mir seit nunmehr zwei Jahren, learning by doing. Worauf ich mit dem ganzen Blah hinaus möchte:

Auch wenn dein Interesse an Weiterbildung eher vage ist und du besser sagen kannst, was du alles nicht willst, als was du eigentlich willst – gib einfach Irgendetwas die Chance, dieses »eigentlich« zu sein. Denn man kann sich nur für Dinge interessieren, von denen man weiß. Und man weiß verdammt wenig, solange das Desinteresse überwiegt. Und danach eigentlich auch. Aber dazu gleich mehr, Stichwort: Land der Wahrheit…

Jetzt geht’s erstmal ans Eingemachte! Im Folgenden habe ich 5 Gründe für ein Fernstudium aufgeführt – und 5 Gründe dagegen (am Beispiel der Kulturwissenschaften, aber auch übertragbar auf andere Studiengänge):

Buntstifte bilden eine 5, dazu der Text: Gründe dafür & dagegen, Thema Fernstudium

5 Gründe für ein Fernstudium (und 5 dagegen)

Vorteil 1: Mehr Zeit für dich

Klingt ein bisschen nach Wellness-Werbung. Bei »Mehr Zeit für dich« denkst du vermutlich an eine Badewanne, Sonnenstunden und Rumlümmeln auf der Couch. Das kannst du auch. Stell dir einfach nur ein Buch dazu vor (oder über welches Endgerät auch immer du zu lesen bevorzugst). Die meiste Zeit in einem Fernstudium der Kulturwissenschaften verbringt man mit Lesen – und das Gelesene zusammenfassen, und über das Zusammengefasste nachdenken. Lesen, Schreiben, Denken, das ist – Inhalte hin oder her – Zeit für dich.

Ob man es als quality time oder Verschwendung betrachtet, ist Einstellungssache, aber das Fernstudium zwingt dich regelrecht dazu, mehr Zeit mit dir selbst zu verbringen. Ohne Spiegel, ohne Selfie-Stick. Keine Likes für jede gelesene Seite. Kein Interesse an dem, was du gerade tust, von irgendwem. Nur du, das Weltwissen und deine Gedanken dazu.

Die Leere auffüllen

Diese althergebrachte Art der Einsamkeit kann ganz schön bedrückend sein, in Tagen wie diesen, in denen wir gerne 24/7 interconnected sind. Zumindest mir geht’s so, dass ich dann manchmal eine schreiende Leere in mir fühle. Nicht selten flüchte ich in soziale Medien, wo eh alle schreien und man weniger allein ist. Wenn es mir hingegen hin und wieder gelingt, der Einsamkeit mit mir selbst Stand zu halten, einfach nur zu lesen, zu notieren, zu grübeln, dann spüre ich, wie sich die Leere mit Inhalten füllt. Blumige Sprache, ich weiß. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass »mehr Zeit für dich« etwas Gutes sein kann.

Es geht nicht darum, »mehr Zeit mit sich« zu verbringen, damit, sich nur um die eigene Achse zu drehen, in Selbstzweifel oder Narzissmus zu zergehen. Es geht vielmehr darum, mehr Zeit damit zu verbringen, etwas für sich als Person zu tun. Für den Geist, der deinem Körper innewohnt (auch wenn das in der Philosophie ein streitbares Thema ist, das mir manche*r jetzt um die Ohren hauen würde).

Nachteil 1: Weniger Zeit für alles Andere

Dazu braucht man kein Mathe zu studieren: Mehr Zeit für dich = weniger Zeit für alles Andere. Ein Tag hat nur 24 Stunden und du kannst deine Schlafzeiten nicht allzu sehr reduzieren. Vielleicht willst du das auch gar nicht, weil Schlafen großartig ist. Am Ende sind die meisten von uns 14 bis 18 Stunden zwischen zwei Sonnenaufgängen wach und haben ehrlich gesagt immer genug zu tun.

Als 90er-Jahre-Kind bei ländlicher Wohnlage hatte man quasi keine andere Wahl, als sich eigene Spiele auszudenken, um irgendwie die ganze Zeit »zu vertreiben« (schrecklicher Ausdruck eigentlich). Die 3 Videokassetten waren schnell mal durchgeguckt. Die Gameboy-Batterien regelmäßig leer. Das Wetter manchmal schlecht. Und unterwegs im Internet konnte man während dem Aufbau einer Seite das Alphabet rülpsen, vorwärts und rückwärts und die Bilder waren immer noch nicht zu sehen.

Von wegen Badewanne

Heute kann man nicht an einem Nachmittag Netflix durchschauen. Dafür muss man sich schon mehr Zeit nehmen. Und Entdeckungsreisen in den Tiefen des World Wide Web fressen auch mehrere Menschenleben. Die Schlaumeier*innen aus vergangenen Jahrhunderten, die über jede Wissenschaft ihrer Zeit genau Bescheid wussten, die hatten ja keine Ahnung. Charles Darwin würde heute vielleicht weniger Tiere auf den Galapagosinseln finden – aber der Junge soll nur mal ne Runde mit Pokémon Go drehen. Die Welt ist irre geworden, irre vielfältig.

Als Einzelne, mit unseren je eigenen Expertisen und Erfahrungen, wissen wir zu viel und zu wenig; also überlassen wir uns der Verzweiflung oder der Hoffnung, obwohl weder das eine noch das andere eine kluge Haltung ist. Weder Verzweiflung noch Hoffnung sind auf Sinnlichkeit, auf von Geist erfüllte Materie, […] oder auf sterbliche Erdlinge in dichter Kopräsenz gestimmt.

Donna Haraway, in: Unruhig bleiben (2018), S. 13

Brauchst du wirklich noch etwas, das dir deine Zeit wegfrisst? Und selbst wenn du xy Wochenstunden zur Verfügung hättest, würdest du sie wirklich mit Studieren verbringen wollen? Denn machen wir uns nichts vor: Du kannst bei einem Fernstudium natürlich in der Badewanne oder auf der Couch lesen. Aber viel öfter wirst du dich vermutlich am Schreibtisch wiederfinden. Hurra.

Vorteil 2: Man kann Geld sparen

Na ja, also erstmal gibt man Geld aus, natürlich. Bei einem Fernstudium bezahlt man die Studienhefte, die man halbjährlich zugeschickt bekommt. Das sind, je nach dem, ob man in Teilzeit oder Vollzeit oder in Teilzeit mit Vollzeitpensum studieren möchte, etwa 200-350 Euro im Halbjahr. Gegenüber privaten Fernlehrgängen ist das günstig. Und kaum beginnt das Semester, beginnt die fröhliche Challenge, die Ausgaben durch Vergünstigungen wieder reinzuholen. Es gibt etliche Möglichkeiten, insbesondere bei kulturellen Veranstaltungen, mit einem Studierenden-Ausweis günstiger »reinzukommen«.

Außerdem hat man freie Zugänge zu Online-Archiven und -Datenbanken voller interessanter Inhalte sowie Lernplattformen, über die man sich alles Mögliche beibringen lassen kann. Ich nutze diese zum Beispiel, um mit meinen Adobe-Programmen fitter zu werden (Lightroom, Photoshop, Premiere) – aber es gibt auch Lehrmaterial zu Social Skills, anderen Computerfragen, oder Dingen, die man eher im Hobby-Bereich verorten würde. Solche Lerninhalte sind oft (weil aufwändiger und mehr in die Tiefe gehend als viele YouTube-Videos) hinter Bezahl-Schranken versteckt. Fernstudierende können über manche drüber hopsen. Allein: Zeit müsste man wieder investieren…

Nachteil 2: Man gibt mehr Geld aus

Vorweg: Geld wird überbewertet. Meist versuchen wir, an mehr davon zu kommen, als wir festhalten können. Oder wie Uwe Seeler einst sagte:

Ich kann ja doch nicht mehr als ein Schnitzel am Tag essen.

Andererseits ist das natürlich First-World-Gelaber. Bezeichnenderweise kursieren von Uwe Seelers Aussage zwei Versionen im Internet. Die andere lautet: »Mehr als ein Steak am Tag kann man nicht essen.« Ach was?

Ich sehe was das du nicht sieht und das ist Geld! […]
Keine Schwielen an den Händen – das ist Geld!
Sagen »Geld ist nicht alles« – das ist Geld!

K.I.Z.

Aber trotzdem, verarschen wir uns nicht selbst. Überall, wo man »vergünstigt reinkommt«, gibt man im Endeffekt zusätzlich Geld aus. Hinzukommt, dass Fernstudierende dazu neigen, sich viel mehr Bücher anzuschaffen, als man normalerweise kaufen oder leihen würde. Das kommt auf die Semestergebühren nochmal oben drauf. Dann die Fahrtkosten zu den Prüfungen und manchen Präsenz-Seminaren plus die Teilnahme-Gebühren für besondere Praxis-Seminare. Nicht zu vergessen: das Budget für die Nervennahrung. Ein paar Kilo Nüsse sind in der Prüfungsphase rasch verdrückt.

Allerdings, wenn du wirklich mit dem Gedanken spielst, hey, so ein Fernstudium, das könnte eine sinnstiftende Maßnahme sein – dann ist Geld offenbar nicht deine größte Sorge im Leben. Ist doch gut so. Zurück zum Wesentlichen:

Vorteil 3: Es erweitert den Horizont…

Warum Geschichte studieren? Anders als in Physik oder Chemie geht es nicht darum, Vorhersagen zu treffen. Wir beschäftigen uns mit der Vergangenheit, um unseren Horizont zu erweitern und zu erkennen, dass unsere gegenwärtige Situation weder unvermeidlich noch unveränderlich ist, und dass wir mehr Gestaltungsmöglichkeiten haben, als wir uns gemeinhin vorstellen.

Yuval Noah Harari, in: Eine kurze Geschichte der Menschheit (2013), S. 294

Unser Vorstellungsvermögen, das kann man leicht unterschätzen. Meist reicht schon die Vorstellung von »Ideen« als etwas, das uns unseren Hirnen irgendwie  magisch entspringt, in der sich dieses Vermögen erschöpft. Nach dem Motto: »Man hat halt Fantasie oder eben nicht«. Stattdessen sind alle großen Ideen der Menschen die kleinen Babys verschiedenster Einflüsse und Inspirationen. Vor denen kann man sich gar nicht wehren – aber je weniger Übung, desto eher verpufft eine Inspiration, ohne neue Ideen hervorzubringen.

Wir können gar nicht anders

Der umgekehrte Weg ist die gezielte Suche nach Einflüssen und Inspirationen in einem gigantischen, Jahrtausende alten Kulturkosmos, aus dem wiederum Ideen fürs Hier und Jetzt hervorgehen. Dazu ist so ein Fernstudium fantastisch, in Kulturwissenschaften auf jeden Fall. Da kommen immer wieder Themen auf den Tisch, die heute »im öffentlichen Diskurs« (wenn man die eigene Social-Media-Bubble denn überhaupt so bezeichnen mag) völlig untergehen. Es ist gut, zuweilen mit solch unscheinbaren oder unpopulären Themen konfrontiert zu werden – das rückt manche Phänomene der Gegenwart in Relation und eröffnet einen zuversichtlicheren Blick in die Zukunft.

Zuletzt habe ich mich mit Helmuth Plessner und dessen Hauptwerk beschäftigt, das sich um das Wesen des Menschen dreht. Plessner kommt zu dem Schluß, dass die fortwährende Beschäftigung mit Kultur (als unsere zweite Natur) für uns Menschen ganz grundlegend ist, um die Welt um uns herum überhaupt wahrnehmen zu können – und zwar nie unmittelbar, sondern immerzu vermittelt durch unser Bewusstsein. Deshalb sei es auch, dass jede Generation auf ein Neues kulturelle Schöpfungen hervorbringen muss. Weil wir gar nicht anders können. Das ist vielleicht nicht der Grund für den x-ten Spider-Man-Film (das ist Geld), aber der Grund, warum überhaupt noch Bücher geschrieben werden.

»Die Welt ist voller Bücher. Warum um Himmels willen musst du da mit einem weiteren ankommen?«

Louise Doughty zitiert einen Buchhändler, in: Ein Roman in einem Jahr (2007), S. 10

Die Antwort auf die Frage, warum neue Bücher, neue Filme, neue Apps und Ideen uns immer wieder auf Trab halten, ist so kindisch wie wundervoll: Darum. Wir können nicht anders. Es ist ein Wesensmerkmal von uns Menschen.

Nachteil 3: …auf einer Insel im Unwissen

Doch jede unserer Errungenschaften, jedes Kulturgut und jede Antwort ist bestenfalls nur eine Schaufel Sand an dem Strand, der unsere Insel umgibt. Immanuel Kant beschrieb sie als »Land der Wahrheit«. Es sei…

[…] umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane […], indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann.

Immanuel Kant, in: Kritik der reinen Vernunft, Kapitel 68
Auf hoher See verloren gehen

Wir mögen den Strand mit schaufelweise Sand anhäufen und die Insel vergrößern. Doch damit wächst nur die Uferlinie entlang des Ozean dessen, was wir nicht wissen. Ausflüge hinaus auf hohe See eröffnen bloß immerzu neue Horizonte, keine neuen Ufer. Im Studium wird Leser*innen diese Tatsache immer wieder eindrucksvoll vor Augen geführt, wenn sie in einem x-beliebigen Buch die Literaturhinweise aufschlagen. Jedes große Werk ist nur ein Nadelöhr zu einem neuen Universum an Wissen… das kann faszinieren oder deprimieren, je nach dem, ob man sich gerade abenteuerlich oder einfach nur klein und dumm fühlen möchte.

[Insbesondere bei einem Fernstudium, da man mit einer Lektüre oft alleine ist und nicht sieht, dass andere Student*innen auch hart daran zu knacken haben, überwiegt zuweilen dieses »klein und dumm«-Gefühl. Der vielleicht spürbarste Nachteil eines Fernstudiums.]

Vorteil 4: Es schult wichtige Skills

Bei kaum einem Fach wird man wohl so häufig mit der Frage konfrontiert: »Wozu brauchste das später mal?« Gemeint ist natürlich Philosophie (also das große Gedankenspiel der vergangenen Jahrtausende, aus dem nur so Pillepalle wie unsere Demokratie und unser Rechtsstaat hervorgegangen sind). Doch selbst, wenn du dich für ein Studienfach entscheidest, dessen konkrete Inhalte du in seiner Relevanz manchmal anzweifelst: Ein Fernstudium schult weit mehr als die Expertise in einem bestimmten Fach.

Man hat zum Beispiel kaum eine andere Wahl, als sich mal bewusst mit dem Thema »Zeitmanagement« zu beschäftigen, um so ein Studium mit Arbeits- und/oder Familienalltag unter einen Hut zu kriegen. Was diese Beschäftigung konkret bringt, muss jede*r für sich selbst sehen. Mir persönlich hat das Thema »Zeitmanagement« den Weg gebahnt zu neuen Workflows und Perspektiven – und unterm Strich eben: mehr Zeit.

Worauf es im 21. Jahrhundert ankommt

Struktur in Alltag und Arbeitsweise; die Fähigkeit, sich auf neue Inhalte mit vertrauten Methoden und Mitteln zu stürzen; Übung darin, Internet und Bücherwelt nach relevanten Informationen (also Daten, dem Gold des 21. Jahrhunderts!) zu durchforsten – all solche Skills schult ein Fernstudium jenseits der eigentlichen Studieninhalte.

Vorbei sind die Zeiten, in denen man einen Beruf lernt und drei bis vier Jahrzehnte lang ausleben kann. Selbst neue Berufsbilder mögen eine vergleichsweise kurze Halbwertszeit haben und wieder in Bedeutungslosigkeit versinken. »Times are changing, Kitty« – das stellte schon Red Forman in den Wilden Siebzigern fest…

Der rassistische, sexistische Amerikanische Traum hat ausgedient, das ist begrüßenswert. Was am ehesten gefragt sein wird, in den kommenden Jahrzehnten, das sind keine konkreten Kenntnisse, sondern spezielle Skills – vor allem die Fähigkeit, in Bewegung zu bleiben. Wer Übung darin hat, sich Neues beizubringen, ist gut aufgestellt in unruhigen Zeiten.

Nachteil 4: Es bringt mächtig ins Schwitzen

Ständig in Bewegung bleiben, das heißt: ins Schwitzen geraten. Auch mal außer Puste sein. Keine Lust mehr haben. Und zu viel Druck. Gerade in Leistungsphasen, wenn man zu einem bestimmten Termin, für eine schriftliche oder mündliche Prüfung unverhältnismäßig viel Wissen in den eigenen Schädel stopfen soll. Vier Klausur-Stunden lang über wissenschaftliche Themen schreiben oder 40 Minuten lang ein fachspezifisches »Frage-Antwort-Spiel« durchstehen – das sind Ausnahmesituationen, die man eigentlich nicht braucht. Das Wissen verpufft danach eh wieder.

Andererseits… eine mündliche Prüfung ist die beste Übung für Vorstellungsgespräche oder andere Situationen im Leben, in denen man eine gute »Live-Performance« machen möchte. Und das Hochgefühl nach einer bestandenen Prüfung ist wie ein Kick, der alle sechs Monate mal eine sehr schöne Abwechslung im Alltag sein kann. Leistungsdruck vs. Erfolgsgefühle.

Vorteil 5: Neue Leute kennenlernen

Gibt es irgendeine neue Aktivitäten, die du aufnehmen kannst, ohne neue Leute kennenzulernen? Selbst beim Angeln gehen trifft man hin und wieder andere kauzige Seelen… wenn du dich aber in die größte Uni Deutschlands einschreibst, dann lernst du unweigerlich jede Menge neuer Leute kennen. Dabei ist der Querschnitt der Leute in einer Fernuniversität mindestens so bunt, wie an Präsenz-Universitäten. Natürlich trifft man sich, physisch, seltener.

Aber was sind heutzutage schon Distanzen? Die Student*innen kommen aus verschiedensten Städten und Ländern zusammen – und aus unterschiedlichen Lebenslagen: Menschen, die gerade eine Familie oder ein Unternehmen gegründet haben, oder deren Kinder just aus dem Haus sind, oder deren Ruhestand begonnen hat. Andere wiederum, die mittendrin stehen, im Geschäfts- und/oder Familienleben, die einfach noch ein bisschen Rest-Energie kanalisieren wollen. Interessante, aufgeweckte Individuen. Kontakt hält man via Mails und Messengern. Und ist man zufällig in derselben Stadt, geht man zusammen Mittagessen.

Nachteil 5: Alte Leute vergraulen

Nichts ist ätzender, als irgendwelche Schlaumeier*innen, die glauben, Anderen die Welt erklären zu müssen. Außer vielleicht, wenn man sich selbst als solch ein Schlaumeier überführt. Zu Beginn eines Philosophie-Seminars hat es ein Dozent mal geradeheraus gesagt: »Sie werden den Leuten auf die Nerven gehen, mit dem, was Sie tun…« – jepp. Selbst die eigene Familie erkundigt sich höflich nach Prüfungsergebnissen, solange man bloß nicht loslegt mit irgendwelchen poststrukturalistischen Gender-Theorien – für dich gerade der neuste Shit und superduper spannend. Für Andere das, was doch schon seit Jahren in irgendwelchen drögen Büchern steht und da ganz gut aufgehoben ist.

Das Problem bei einem Fernstudium ist, dass du öfter mal Gesprächsbedarf zu Themen hast, die Menschen aus deiner unmittelbaren Umgebung gerade eher nicht so vom Hocker hauen. Schön und gut, dass man jederzeit mit aller Welt schreiben und skypen kann. Doch das Offline-Leben ist meist immer noch das wichtigere Leben – und da will man nicht die Nervensäge sein, die dauernd über ihre neuesten Erkenntnisse blubbert. Dafür gibt’s doch Blogs.

Fazit zum Fernstudium

Während dem Schreiben dieses Blogbeitrags habe ich eine Pause eingelegt. Ein Tag ist vergangen, die Welle der Euphorie über jene Prüfung ist abgeflaut… während sich auf meinem Schreibtisch neue Studienhefte türmen. Manche davon tragen echt langweilige Titel. Und ich weiß jetzt schon, dass die paar Monate bis Februar oder März wie im Flug vergehen werden. Dann reißt mich das Studium wieder für ein paar Wochen ein bisschen raus aus der Routine, woraus auch immer die dann gerade bestehen mag. Ich bin jetzt gerade erst knapp über die Hälfte, was das Fernstudium betrifft – ein bisschen früh dran für den Lobgesang hier.

Insofern bezieht sich mein Fazit auf ein sehr situatives, gegenwärtiges Gefühl: Das Fernstudium der Kulturwissenschaften, das ich vor zwei Jahren begonnen habe, bereichert seither mein Leben. Natürlich möchte ich es ausnahmslos allen ans Herz legen, aus dem impulsiven Gedanken heraus, dass es unsere Gespräche spannender, unsere Stimmung optimistischer, unser Miteinander vielseitiger machen würde. Gut möglich, dass eben diese Dinge aber auch auf tausend anderen Wegen zu erreichen sind.

Und weiter gedacht, wenn wirklich alle das Gleiche täten, ob sich daraus ein vielseitigeres Miteinander ergäbe? Vielseitiger als unsere Welt hier und heute, mit ihren technologischen Tentakeln und sozial-medialen Spektakeln? Den Vorwärts- und Rückwärts-Gewandten, den Felsenfesten und den völlig Verdrehten? Natürlich nicht. Alles gut so, wie es ist. So unendlich quirlig.

Kleine Leseliste

Ein paar Schriften, die ich im Rahmen des Fernstudiums gelesen und auf diesem Blog besprochen habe:

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ANOUK UND HERR BÄR von Mascha Wolfram | Kinderbuch 2017 http://www.blogvombleiben.de/buch-anouk-und-herr-baer-2017/ http://www.blogvombleiben.de/buch-anouk-und-herr-baer-2017/#comments Sun, 09 Sep 2018 07:00:59 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5100 Vorurteile sind klebrig. Haben sich einmal einige angesammelt, wird es anstrengend, sie wieder wegzubekommen. Umso wichtiger,…

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Vorurteile sind klebrig. Haben sich einmal einige angesammelt, wird es anstrengend, sie wieder wegzubekommen. Umso wichtiger, schon früh ein Gefühl für das Wesentliche zu entwickeln und manch Vorurteilen ihre Anziehung zu stehlen. Mit Anouk und Herr Bär lernen die Kleinen, dass nicht alles so düster ist, wie es zunächst scheint.  

Mascha und der Bär

Zum Inhalt: Die kleine Anouk geht mit ihren beiden großen Schwestern Pilze sammeln. Als sie sich auf einmal schwesterseelenallein im Wald wiederfindet, trifft sie auf den großen Bären, der von allen gefürchtet wird. Auch Anouk bekommt Angst, spürt aber schnell, dass der Bär anders ist, als alle glauben.

Bloggerin Sonia Lensing mit dem Kinderbuch Anouk und Herr Bär

Zur Wirkung des Buchs

Die Urangst als Leseköder

Anouk kann ihre Schwestern im Wald nicht finden und ist somit allem ausgeliefert, was im Wald ein- und ausgeht. Unter dieser Prämisse kreiert die Kinderbuch-Autorin Mascha Wolfram ein Szenario, welches an die Urangst des Verlassen-Werdens andockt und jedem Menschen – ob groß oder klein – ein vertrauter Begleiter ist. Damit bietet das Kinderbuch Anouk und Herr Bär eine gewisse Nähe zur kindlichen Lebenswelt und unterstützt die (Vor-)Lesemotivation.

Ein Motiv für gespitzte Kinderohren

Bei der Erinnerung, wie sich mein Vater einst einen Spaß daraus machte, sich während eines Waldspaziergangs heimlich zu verstecken, überkommt mich immer noch ein flaues Gefühl. Als mein Bruder und ich uns vom unbekümmerten Spiel umsahen – und niemanden erblicken konnten – rieb sich die Panik die Hände und kroch unter unsere Haut. Zwar kannten wir nicht die Geschichte des Herrn Bären, aber doch die von Hänsel und Gretel. Und abgesehen von den Süßigkeiten war die Geschichte bitterböse. Unser Vater hat seinen Streich schnell aufgelöst, uns aber seitdem wachsamer durchs Laub streunen lassen. Das literarische Motiv des Alleinsein im Wald eignet sich demnach bestens, damit Kinder mit gespitzten Ohren der Erzählung lauschen.

Kindgerechtes Storytelling

Einen großen Buckel soll er gehabt haben und Krallen so scharf wie Messerklingen. In sein gewaltiges Maul soll er sich zum Frühstück kleine Kinder mit Salz und Pfeffer gestopft haben.

Mascha Wolfram, in: Anouk und Herr Bär

Keine Angst, Ihr Kind hält das aus. Denn, was uns gegenwärtige Kindermedien mit niedlichen Figuren und Wohlfühl-Glitzer schonmal vergessen lassen, ist der oftmals brutale Kern zugrunde liegender Märchen. Der wird für heutige Zeiten von Medienproduzent*innen und Eltern großzügig übersprungen, von manchen für Erziehungszwecke aber auch gesucht. So verkauft sich der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann noch heute und gilt »als das am längsten kontinuierlich verlegte deutsche Kinderbuch« (Walter Sauer).

Im Gegensatz zu dieser schwarzen Pädagogik erwartet Kinder- und Jugendbuchautorin Sylvia Englert für die jüngsten Leser*innen auf jeden Fall ein Happy End (nachzulesen in ihrem Handbuch für Kinder- und Jugendbuchautoren) . Schließlich reagieren Kindergarten- und Vorschulkinder auf Konflikte und zu steilen Spannungsbögen empfindlich, insbesondere vor dem Schlafengehen. Doch, um die Zeilen, die ich aus einer provokanten Laune heraus als Lesepröbchen oben platziert habe, nochmals zu entschärfen: Das Bilderbuch Anouk und Herr Bär versorgt Kinder mit der richtigen Dosis an spannenden Elementen, die auch für Kleine gut bekömmlich sind.

Buchtipp: Statt ein Bär im Wald lieber eine Katze in Paris? Hier geht es zur Buchkritik von Angelika Glitz’s Mit einer Katze nach Paris (2017).

Kinderfiguren mit Charakter

Das erste, was mir bei Anouk und Herr Bär auffiel, ist die Parallele zu meiner aktuellen Lieblings-KiKA Serie: der russische YouTube-Hit Mascha und der Bär. Es handelt von einer Geschichte über die Freundschaft zwischen einem häuslichen Bären und einem kleinen, mutigen Mädchen namens Mascha. Nicht ganz so naiv und nervtötend wie Mascha ist die kleine Anouk aus dem Kinderbuch.

Durch die wenige wörtliche Rede wirkt Anouk eher zurückhaltend als zappelig. Zudem zeigt sie ein intuitives Gespür, als sie sich ihrer misslichen Lage im Angesicht des Bären bewusst wird und erst einmal in Tränen ausbricht. Das kindliche Ass im Ärmel, um vom Monster-Bären womöglich Mitleid zu erhaschen. Zum Glück ist das gar nicht nötig, wie sich schnell herausstellt – und Kinder aufatmen lässt. Durch den Kontrast zwischen der physischen Kraft des Bären und dessen piepsiger Stimme sickert in die vermeintlich bedrohliche Situation ein guter Tropfen Humor. Dieser verdunstet allerdings in dem Moment, als Anouk sieht, dass der Bär im Grunde einsam und traurig ist.

Indem Anouk dem Herrn Bär selbstverständlich vorschlägt, zu ihr zu ziehen, greift die Autorin in Anouk und Herr Bär die unbefangene Kinderperspektive auf. Logisch, dass man diese Gastfreundschaft einem neuen Freund anbietet. Auf diese Weise wäre der Einsamkeit des Bären ein Ende gesetzt und Anouk hätte einen neuen Spielpartner. So ähnlich einfach und positiv endet auch das Kinderbuch für Anouk und ihren felligen Freund. Ob der am Ende tatsächlich bei Anouk einzieht, überlässt die Kinderbuch-Autorin jedoch der kindlichen Fantasie…

Kein Wiedersehen

Zum Ende: Ein wenig schade an der Story ist, dass das Wiedersehen mit Anouks Schwestern nicht thematisiert wird und stattdessen die unbekannten Bewohner*innen des Dorfes auftreten. Durch den Begriff der »Bewohner« baut sich sprachlich eine Distanz zu den Figuren und dem Geschehen auf, so dass die innere Anteilnahme der kleinen Leser*innen nur oberflächlich erfolgt. An dieser Stelle besteht Potenzial, dem Kind die Freude über das gemeinsame Wiedersehen zwischen den Geschwistern emotional miterleben zu lassen. Somit wäre Anouk wie auch den Leser*innen geholfen, diese unangenehme Angst des Verlassen-Werdens abzuhaken und sich aufs neue Zusammensein zu freuen.

Zur Visualität: Mascha Wolfram, Grafikdesignerin und Master-Studentin der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim, verfolgt in ihrem Bilderbuch-Debüt einen minimalistischen und aufs Wesentliche fokussierten Zeichenstil. Die gradlinigen und kurvigen Formen erinnern mich an die Pariser Illustratorin und Animatorin Agathe Sorlet.

Jedenfalls enthält dieses sympathische Grafikdesign in Anouk und Herr Bär eine ideale Informationsdichte, an der auch kleine Kinder ab 3 Jahren Vergnügen haben. Ohne zu lang nach dem eigentlichen Handlungsstrang suchen zu müssen, kann sich das kindliche Auge entspannt auf die klar gezeichneten Figuren, deren eindeutige Mimik und die elterliche Stimme richten. Die kühle Farbgebung erzeugt eine winterliche Atmosphäre, die umso mehr zum Einkuscheln einlädt.

Fazit zu Anouk und Herr Bär

Wer Mascha und der Bär mag, wird auch Anouk und Herr Bär mögen. Etwas weniger actionreich, emotional und in langsameren Tempo erzählt das Bilderbuch in punktgenauen Illustrationen und einfacher Sprache eine märchenhafte und melancholisch angehauchte Geschichte über den Mut, Vorurteile abzubauen und die Chance, die daraus entsteht. Mascha Wolfram hat ein Kinderbuch geschaffen, das ermutigt, sich sein eigenes Bild über andere zu machen. Ich vergebe 8 Sterne. 

Titel
Anouk und Herr Bär
Erscheinungsjahr2017
Autorin, IllustratorinMascha Wolfram
Verlag
Edition Pastorplatz
Umfang
52 Seiten
Altersempfehlung
ab 3 Jahren
Thema
Mut, Vorurteile

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KLEINER DRECKSPATZ AURELIA über Hygiene | Kinderbuch 2017 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/buch-kleiner-dreckspatz-aurelia-2017/ http://www.blogvombleiben.de/buch-kleiner-dreckspatz-aurelia-2017/#respond Sun, 26 Aug 2018 07:00:11 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5150 Wie sagt man einem Kind, dass es stinkt? Auf jeden Fall nicht so. Eine Freundin und…

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Wie sagt man einem Kind, dass es stinkt? Auf jeden Fall nicht so. Eine Freundin und Grundschullehrerin von mir stand einmal vor dieser heiklen Aufgabe… Hier sind Fingerspitzengefühl, aber auch Deutlichkeit gefragt. Wie der Zufall es wollte, bin ich einen Tag später auf das Kinderbuch Kleiner Dreckspatz Aurelia gestoßen. Ein Buch, das ich Dreckspatz-Hütern wärmstens empfehlen kann.

Kinderbuch-Bloggerin Sonia Lensing mit dem Buch Kleiner Dreckspatz Aurelia

Lieber Schlamm als Schwamm

Zum Inhalt: Die kleine Aurelia findet Baden und Duschen doof. Viel lieber spielt sie draußen im Schlamm und Dreck, so wie das Abenteurer machen. Doch bei so viel Schmutz am Leib muss sich selbst Aurelias Papa die Nase zu halten. Seine Kleine muss sich mal waschen. Denn sogar Dreckspatzen machen sich sauber. Was erzählt Papa da? Aurelia wird neugierig. Wie wäscht sich denn ein Spatz, eine Katze, ein Bär oder ein Eichelhäher? Ihr Papa kennt sie alle, die speziellen Putzrituale der Tiere. Das muss sie dringend alles selbst ausprobieren… allerdings, bei all der Putzwut im Dreck flüchtet selbst Aurelia zu einem besonderen Ort.

Dorothea Flechsig – Kinderbuchautorin, Geschichtenschreiberin für KiKAninchen und Prinzessin Lillifee und auch noch Verlegerin des Glückschuh Verlags (ich bin beeindruckt!) – gelingt mit Kleiner Dreckspatz Aurelia ein rund um kindgerechtes Lesevergnügen. Das liegt zum einen sicher am Alltagsthema. Mit dem Schwerpunkt Hygiene nähert sich die Autorin der Lebenswelt der Kleinen und der Erziehungsberechtigten an.

Zur Wirkung des Buchs

Vor allem bei den Jüngsten löst das regelmäßige Putzen eher wenig Euphorie aus. Umso höher ist das Identifikationspotenzial für die kleinen Leser mit der quirligen Hauptfigur Aurelia. Denn dass sich das Mädchen viel lieber in der Natur suhlt, als mit dem Schwamm geschrubbt zu werden, können kleine Dreckspatzen gut nachvollziehen. Diese Vertrautheit zum Geschehen und zur Kinderfigur ist für die jungen Leser von besonderer Bedeutung. Zumal Kinder bis zum 7. Lebensjahr noch nicht in der Lage sind, andere Perspektiven einzunehmen und hier dementsprechend Unterstützung brauchen (sagt Piaget). Diese Unterstützung liefert Dorothea Flechsig, indem sie die Kleinen in Kleiner Dreckspatz Aurelia mit nur reduziertem Text konfrontiert und kindgemäße Bilder von Suse Bauer einsetzt, die für sich alleine stehen und auch leseschwache Kinder abholen.

Ein weiterer Kniff von Dorothea Flechsig für ein kindgemäßes Storytelling ist das Wieder-Aufgreifen von Elementen, wie der Tierreihenfolge. So tauchen die Tiere, von denen Aurelias Papa in Kleiner Dreckspatz Aurelia erzählt, in der gleichen Reihenfolge bei Aurelias animalischer Waschaktion auf. Der rote Faden hilft den Kindern, das Mini-Universum von Aurelia abzustecken und zu einem harmonischen Abschluss zu kommen.

Zur Visualität des Buchs

Huch, das Buch ist ja dreckig! So mein erster Gedanke, als ich das Hardcover zu Kleiner Dreckspatz Aurelia in den Händen halte. Dann ein näherer Blick. Ah! Wenn der Titel mit dem Coverbild inhaltlich verschmilzt, hat die Illustratorin etwas richtig gemacht. Ich bin jedenfalls auf die Schmutzflecken reingefallen. Und das obwohl Suse Bauer in diesem Werk eher minimalistisch als realistisch zeichnet.

Dieser grobe Zeichenstil entspricht dem empfohlenen Lesealter von 3 Jahren. So besinnen sich die Bilder im Grundschulstil auf das Wesentliche. Ohne mit zu vielen Details zu überfordern, sondern mit einigen zu überraschen, bleibt somit genug Raum für die eigene Fantasie. Welche putzeifrigen Tiere könnte Aurelia noch nachmachen? Hier lädt die Geschichte zur Anschlusskommunikation mit Eltern und Kindern ein.

Buchtipp: Wer auf den groben Zeichenstil steht, dem kann ich das Bilderbuch Überraschung (2014) von Mies van Hot empfehlen.

Fazit zu Kleiner Dreckspatz Aurelia

Das Buch Kleiner Dreckspatz Aurelia eignet sich hervorragend, um Kindern auf spielerische und deutliche Weise die Wichtigkeit von Hygiene zu vermitteln. Durch die ideale Kombination aus klarem Storytelling und kindlichen Illustrationen bietet das Werk Anlass, gemeinsam mit Kindern Aurelias Welt zu erkunden und sich eigene Gedanken über das Putzverhalten zu machen. Ein unterhaltsames Lesevergnügen, das ohne den pädagogischen Zeigefinger auskommt. Ich vergebe 9 Sterne.

Eckdaten im Überblick

TitelKleiner Dreckspatz Aurelia – Wasch dich doch mal
Erscheinungsjahr2017
Autor/IllustratorDorothea Flechsig (Autorin) Suse Bauer, (Illustratorin)
VerlagGlückschuh Verlag
Seiten38 Seiten
AltersempfehlungAb 3 Jahren
ThemaKörper, Tiere

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FINDET NEMO, FINDET DORIE, findet den Fehler | Filme 2003, 2016 http://www.blogvombleiben.de/film-findet-nemo-findet-dorie-2003-2016/ http://www.blogvombleiben.de/film-findet-nemo-findet-dorie-2003-2016/#respond Fri, 10 Aug 2018 07:00:42 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4854 »Du hattest mich bei Fisch«, so reagierte Pixar’s Chief Creative Officer gegenüber Andrew Stanton, nachdem dieser…

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»Du hattest mich bei Fisch«, so reagierte Pixar’s Chief Creative Officer gegenüber Andrew Stanton, nachdem dieser ihm lang und breit sein Herzensprojekt gepitcht hatte: Der Fisch-Film, aus dem später Findet Nemo (2003) werden würde. Als sich Stanton sein Werk mit 7 Jahren Abstand noch einmal ansah, da machte er sich Sorgen um Dorie: Sie weiß ja immer noch nicht, wo sie herkommt! »Sie könnte Marlin und Nemo schon am nächsten Tag vergessen, während sie herumstreunt, und wäre wieder am Ausgangspunkt – das gefiel mir nicht.« So kam es, dass der Schöpfer von Dorie ihr schließlich einen eigenen Film schuf: Findet Dori (2016).

Vorweg: Hier werden die Filme Findet Nemo und Findet Dori als Animationsfilme aus der Erwachsenen-Perspektive besprochen. In ihrem Dasein als Kinderfilme wird Sonia die beiden Pixar-Abenteuer in Zukunft nochmal näher unter die Lupe nehmen.

Marlin und Dorie in Findet Nemo

Im Meer der Möglichkeiten

Inhalt: Im ersten Film geht es darum, wie ein Familienvater erst zum Witwer wird und dann seinen Sohn verliert. Das Kind wird von einem unbekannten Mann gekidnappt und verschleppt, während sich der Vater auf der Suche nach ihm mit einer vergesslichen Freundin verirrt und in allerlei Gefahren begibt. Im zweiten Film erinnert sich diese vergessliche Freundin daran, dass sie ja auch eine Familie hat, von der sie als Kind getrennt wurde. Später findet sie heraus, dass ihre Eltern seither gefangen gehalten und zur Schau gestellt werden. Klingt gar nicht nach Kinderfilmen? ABER ES SIND DOCH NUR FISCHE! Na schau, dann ist alles nur noch halb so grausam…

Hinweis: Dieser Text enthält keine Spoiler. Bei JustWatch finden sich aktuelle Streaming-Möglichkeiten zu Findet Nemo und Findet Dorie.

Totale: Nemo & Dorie im Zusammenhang

Cineastischer Kontext

Es war nach Der Herr der Ringe III – Die Rückkehr des Königs der erfolgreichste Film des Jahres 2003. Und obwohl Pixar bereits eigene und sehr gute Erfahrungen mit Sequels hatte (Toy Story 2 wurde 1999 trotz turbulenter Produktionsphase von Publikum und Kritik gefeiert), dauerte es satte 13 Jahre (!) ehe Findet Nemo mit Findet Dorie eine Fortsetzung bekam. Regisseur Andrew Stanton gestand seine große Nervosität vor einem solchen Sequel mit all den Erwartungen, die Fans des Originals daran hätten – doch er und sein Team taten, was Dorie tun würde: Sich optimistisch ins Risiko stürzen! Und vergessen, dass es sich um ein Sequel handelt.

Was würde Dorie tun?

Um eine Chance zu haben, eine anständige Fortsetzung zu drehen, muss man vergessen, dass es eine Fortsetzung ist – und versuchen, den Film so eigenständig wie möglich zu machen. Als hätte es keinen Film davor gegeben. 

Andrew Stanton

Persönlicher Kontext

Als Findet Nemo ins Kino kam, war ich 14 Jahre alt – und ich habe diesen Film vielleicht etwas öfter gesehen, als es für 14-Jährige cool ist. Ich hatte sogar eine Findet-Nemo-DVD mit virtuellem Aquarium im Bonusmaterial. Und das hab ich benutzt. Stundenlang blubberten die animierten Fische über meinen alten Computer-Monitor, der auch die Ausmaße eines Aquariums hatte – die Illusion war perfekt (man muss dazu sagen, das ich ein Fisch-Nerd war, mit über einem Dutzend echter Aquarien in der Garage).

Als Findet Dorie dann ins Kino kam, da war ich natürlich schon viel zu alt für solche Filme. Also nahm ich die einmalige Chance wahr, 4 Kinder von befreundeten Familie sozusagen als »erwachsene Begleitung« mit ins Kino zu nehmen (wie gesagt: einmal, alle 4 Kids auf einmal – ich war nicht 4 Mal im Kino… das wäre ja total verrückt…) | Kurz die eigene statistische Erhebung: Die LKW-Szene in Findet Dorie kam bei den Kindern, gemessen an der Lach-Lautstärke, definitiv am besten an.

Schnuppe ob geschuppt oder gefiedert

Zu der Zeit hatte ich die Aquaristik als Hobby längst aufgegeben und der Fisch-Nerd war dem Film-Nerd gewichen. Aber so ein Herz für diese schuppigen, flossigen, quirligen Tiere, das hört wohl nie wirklich auf zu schlagen. 

Vögel sind im Übrigen auch echt in Ordnung. An dem Pixar-Kurzfilm Piper (2016), der als Vorfilm zu Findet Dorie im Kino gezeigt wurde, hatte ich jedenfalls meine Freude. Hier ein kleiner Einblick in dieser beeindruckend detailliert animierte Werk:

Close-up: Nemo & Dorie im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt der Filme

Findet Nemo beginnt mit einem Prolog, der die »Nachbarschaft« und Lage des neuen Zuhauses am äußeren Rand des Korallenriffs behandelt. Die anfängliche Harmonie wird, ziemlich abrupt, von einem Barracuda unterbrochen. Dieser Zwischenfall hat zur Folge, dass der kleine Clownfisch Nemo ohne Mutter und 399 Geschwister aufwächst. Dafür mit einem umso besorgteren Vater namens Marlin.

Die Auftaktszene nach dem Prolog zeigt die beiden an Nemos erstem Schultag. Der kleine Fisch hat, vermutlich aufgrund der Barracuda-Attacke von damals, eine unterentwickelte Brustflosse – seine »Glücksflosse«, wie Vater Marlin sie nennt. Nemo schwirrt so aufgedreht umher, als würde er durch Kaffee statt Salzwasser schwimmen – und sein Vater ist sehr bedrückt darüber, sein einziges Kind gehen lassen zu müssen. Nemo könne mit dem Schuleinsteig doch noch warten, meint Marlin, »so 5 bis 6 Jahre…«

Glücksflosse und Siebgedächtnis

Findet Dorie hat eine ähnliche Ausgangssituation: Ohne düsteren Prolog geht’s direkt zur kleinen Dorie. Ein Palettendoktorfischchen, das quasi nur aus Augen besteht. Riesigen, putzigen Kulleraugen. Dahinter ist nicht mehr viel Platz für ein vollausgereiftes Gedächtnis, so scheint es. Denn Dorie leidet, zur großen Sorge ihrer Eltern, an Amnesie. Sie vergisst sehr vieles sehr schnell. Und so wie Nemo im ersten Film seinem Vater entrissen wird, kommt Dorie ihren Eltern abhanden. Die Fischkinder müssen, mit Glücksflosse und Siebgedächtnis, ohne ihre Familien klarkommen.

Filmfehler gefunden? Wäre Findet Nemo wissenschaftlich korrekt, hätte es ein ziemlich kurzer Film werden können. Erstmal leben Clownfische nicht in monogamen Beziehungen, wie sie im Film zwischen Marlin und Coral (Nemos Mutter) gezeigt wird, sondern in Polyandrie: ein Weibchen, mehrere Männchen. Wenn das Weibchen stirbt (weil es zum Beispiel von einem Barracuda gefressen wird), verwandelt sich das stärkste Männchen – innerhalb von einer Woche! – in ein Weibchen. Denn Clownfische sind Hermaphroditen (siehe Blogbeitrag: Bio mit Beauvoir). Marlin hätte sich also, noch bevor Nemo aus dem Ei schlüpft, in ein Weibchen verwandeln und eine Bande verantwortungsvoller Männchen um sich versammeln können. Bei so viel Obacht wäre Nemo bestimmt nicht verloren gegangen. Und der Film hätte geheißen: Nemo – ein Leben ohne Abenteuer.

Hier noch weitere Filmfehler oder Logiklücken in Findet Nemo, informativ zusammengefasst von CinemaSins (auf Englisch):

Bleibender Eindruck | zur Wirkung der Filme

Findet Nemo ist ein Film, der überfürsorglichen Eltern einen Spiegel vor die Nase hält und Kinder dazu ermutigt, ihren Weg zu gehen. Vor allem aber führt der Film vor Augen, dass Behinderungen nicht gleich Einschränkungen sind.

Findet Dorie führt diese Idee noch einen Schritt weiter, mit einer ganzen Geschichte rund um das Meistern einer Benachteiligung. 

Aus dem Leben mit Behinderungen

Die Hauptfigur in Findet Nemo hat eine zu kleine Flosse und kann damit nicht so gut schwimmen. Doch in der Not und mit ähnlich ungleich-flossigen Vorbildern [der Halfterfisch namens Khan] findet Nemo zu Selbstbewusstsein. Findet Dorie hat eine Hauptfigur mit einem hemmenden Handicap (das schwache Gedächtnis), für das sie bestimmte Mechanismen entwickelt, die ihr in der Not helfen.

Dorie kämpft sich voran, wenn keine Hilfe in Sicht ist, und hat auf ihre eigene Weise Erfolg. (…) Die meisten Zuschauer*innen werden diese besondere Message des Films nicht bemerken – wohl aber diejenigen, die sie am ehesten brauchen, und die sich am meisten mit den Charakteren identifizieren werden können.

Tasha Robinson (The Verge)

Hier je eine kleine Vorschau zu den Filmen, via YouTube:

Bechdel-Test bestanden

Den Bechdel-Test hat Findet Dorie übrigens in allen 3 Kategorien bestanden: Kommt mehr als eine Frau (hier: Charaktere mit weiblicher Geschlechterrolle) vor? Check. Haben sie Namen? Check. Sprechen die Frauen miteinander über etwas anderes als Männer? Check.

Neben Dorie kommen etwa deren Freundin Destiny oder ihre Mutter Jenny vor – und sie quatschen über Themen wie Freundschaft und Familie. Doch selbst in einem so klaren Fall lädt das Gender-Thema immer gern zu einer Diskussion ein. Hier eine kleine Perle aus der Kommentarspalte zum Bechdel-Test:

Gender einfach streichen

Steve: Dori ist ein Fisch, keine Frau. Ein Fisch.

Arc: Es geht um Kontext. »Frau« meint hier nicht »Frauen«, sondern schlicht weiblich. Wenn man diesen Kontext nicht berücksichtigt, würden sich die meisten Animationsfilme und die Filme, in denen Kinder die Hauptrollen spielen, nicht für diesen Test qualifizieren. […]

Jake: Es sind wortwörtlich verdammte Fische in einem verdammten Kinderfilm! Wie um alles in der Welt kann irgendwer denken, dass deren Geschlecht irgendeine Tragweite für den Film haben sollte? Man könnte sämtliche Geschlechterrollen aus diesen Charakteren streichen und es würde keinen Unterschied für die Handlung machen!

Powers: Ja, Jake, das könnte man – das ist der ganze Sinn dieser Website. Der Punkt ist, dass die Filmemacher*innen diese Rollen weiblich gemacht haben, obwohl sie hätten männlich sein können. Und damit haben sie qualitativ wertvolle, weibliche, interagierende Figuren in einen Mainstream-Film platziert.

Fazit zu Findet Nemo und Findet Dorie

Ein vegetarischer Hai, »Meins«-schreiende Möwen, der 7-armige Octopus und die Popcorn-liebende Becky – das Universum von Nemo und Dorie ist voll von liebenswerten Ideen und Details. Technisch für ihre jeweilige Zeit perfekt umgesetzt und dramaturgisch gekonnt zu in sich geschlossenen Abenteuern verpackt, sind Findet Nemo und Findet Dorie heute schon Klassiker, die aus dem immer größer werdenden Meer der animierten Filme herausstechen.

Und hier nochmal für alle: Ein Aquarium! Nicht mehr virtuell, von einer verpixelten DVD, sondern in 4K und direkt aus dem Netz – 3 Stunden Fische gucken! Allein dafür hat sich die Erfindung des Internets schon gelohnt.

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VERÓNICA mit Sandra Escacena + wahre Geschichte | Film 2017 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/film-veronica-sandra-escacena-2017/ http://www.blogvombleiben.de/film-veronica-sandra-escacena-2017/#respond Thu, 09 Aug 2018 07:00:40 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4508 Ein spanischer Horrorfilm von Paco Plaza, jenem Regisseur, der mit REC (2007) vor rund 10 Jahren…

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Ein spanischer Horrorfilm von Paco Plaza, jenem Regisseur, der mit REC (2007) vor rund 10 Jahren einen der wohl spannendsten spanischen Horrorfilme überhaupt abgeliefert hat. Andererseits war er auch für REC 2 (»a bit of a w[rec]k«, David Edwards) und REC 3 (»the nail in the franchise’s coffin«, Ed Gonzalez) beteiligt. Die Erwartungen an Plazas neusten Streich, Verónica, waren also mittelhoch bis mäßig – und wurden mehr als erfüllt: Fans und Kritiker*innen feiern ihn als extrem atmosphärischen Horrorstreifen. Schauen wir mal genauer hin…

So wahr mir Plot helfe

Schauspielerin Sandra Escacena in dem Horrorfilm Verónica

Zum Inhalt: Im Jahr 1991 lebt die 15-jährige Verónica mit ihrer Mutter und drei kleinen Geschwistern zusammen in einem Apartment in Valleca, einem Stadtteil der Arbeiterklasse im Süden Madrids. Der Vater ist vor kurzem gestorben. Die Mutter schiebt Überstunden, um die Familie zu ernähren. Verónica trägt die Verantwortung für ihre Zwillingsschwestern sowie ihren kleinen Bruder Antoñito. Die Haupthandlung beginnt am Tag der Sonnenfinsternis. Während alle Schüler*innen mit den Lehrenden auf dem Schuldach zur Sonne starren – durch (zuweilen provisorische) Schutzbrillen – schleichen sich Verónica und zwei Freundinnen in den Keller, um mit einem Hexenbrett (Ouija) die Geister der Verstorbenen zu beschwören… mit dramatischen Folgen.

Ja, so eine Art von Film ist das: Gläserrücken und Dämonen aus dem Jenseits, Schatten und Geräusche und durchdrehende Leute – diese ganz bestimmte, überquellende Horrorfilm-Schublade, in der das Diesseits vom Jenseits terrorisiert wird. Was Verónica aus der Masse ein wenig hervorstechen lässt: Der Film »basiert auf wahren Begebenheiten«, wobei das auch jeder dritte Vertreter dieses Genres von sich behauptet. Was ist da Wahres dran?

Hinweis: Im Absatz »Historischer Kontext« werden die wahren Begebenheiten besprochen – mit Spoilern! Bis dahin, entspanntes Lesen!

Close-up: Verónica im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Verónica beginnt mit einem Notruf. Noch vor dem ersten Bild hören wir aus dem Off die Stimmen. Tipp, um den Effekt eines Horrorfilms zu verstärken: Originalsprache mit Untertitel schauen. Erst recht bei Filmen, die auf ihre »wahren Begebenheiten« pochen, bleibt damit mehr von der Authentizität bestehen.

– Hier spricht die Polizei.
– Hilfe! Bitte helfen Sie!

Mit diesen Worten beginnt der Film. Das erste Bild: zwei Streifenwagen, die mit Blaulicht, durch Gewitter, Regen, Nebel rasen. In der Bildecke tauchen die Eckdaten auf: Madrid, 15. Juni 1991, 01:35 Uhr nachts. Bis auf die Minute genau datiert, diese herannahenden Streifenwagen. Schwarzblende.

– Bitte beruhigen Sie sich. Was ist passiert?
– Bitte, Sie müssen kommen! Er ist drinnen!

Die Anruferin klingt nach einer Teenagerin, die panisch ins Telefon schreit. Im Hintergrund wimmert ein Kind. Es folgen Detailaufnahmen von den Einsatzwagen. Schwarzblende. Wieder die Stimme der Polizistin am Hörer:

– Bitte beruhigen Sie sich. Sagen Sie mir, was Sie sehen. Ist jemand in Ihrem Haus? Hallo?

Chaos in der Wohnung

Ein Schrei, ein Knacken in der Leitung. Schnitt auf einen Kommissar, der seine Zigarette weg schnippt und aus dem Auto steigt. Im strömenden Regen geht er um den Wagen rum. Im Hintergrund ist – von den Blitzen effektvoll beleuchtet – das Wohnhaus zu sehen, aus dem der Notruf kam.

Es erinnert an jenes hohe Apartmenthaus aus REC, in dem sich 2007 ein klaustrophobischer Alptraum bis ins oberste Stockwerk abgespielt hat. Doch REC war ein handfester Zombiefilm. Verónica behauptet, wahr zu sein. Wir erfahren die genaue Adresse, den genauen Namen des Kommissars. Wir begleiten ihn in eine verwüstete Wohnung. Im Chaos liegt ein Jesuskreuz, das von einem Polizisten aufgehoben wird. Blutspuren führen vom Bad in ein verschlossenes Zimmer… was die Einsatzkräfte darin erwartet, schreibt ihnen den blanken Schrecken ins Gesicht. Ein grauenhafter Schrei von irgendetwas, das nicht gezeigt wird, geht über…

…in die Großaufnahme eines Mädchens mit Zahnspange, das mit weit aufgerissenem Mund ganz genüsslich gähnt. Das Mädchen liegt im Bett, die Sonne scheint ins Zimmer. Rückblende, »Drei Tage zuvor«. Ab jetzt wird erzählt, wie es zu der Schreckensnacht kam, die der Prolog anteaserte. Jene Sonnenfinsternis im Jahr 1991, die in Wirklichkeit am 11. Juli stattfand, wurde für den Film also – ob schlecht recherchiert oder dramaturgisch bedingt – in den Juni vorgezogen.

Totale: Verónica im Zusammenhang

Historischer Kontext

Am frühen Morgen des 15. Juni 1991 erhielt die Polizeiwache 02-12 in Madrid einen Notruf. Diese Geschichte basiert auf dem Polizeibericht, den der für den Fall verantwortliche Polizist einreichte.

Texttafel aus dem Prolog von Verónica

Es gibt tatsächlich einen Polizeibericht. Kopien davon finden sich – in spanischer Sprache – online und sind insbesondere zum 20. Jubiläum des Falls vielfach diskutiert worden, von spanischen Websites, die sich um Paranormalität drehen. In diesen Kreisen ist der »Valleca Fall« sehr bekannt. Der Name leitet sich von jenem Stadtteil Madrids ab, in dem eine 18-jährige Frau namens Estefania Gutiérrez Lázaro (im Film: Verónica, 15 Jahre alt) eine Séance (also eine spiritistische Sitzung, oder: Gläserrücken) in ihrer Schule durchführte. Eine Nonne zerbrach schließlich ihr Hexenbrett und beendete damit die Sitzung (im Film zerbricht es wie von Geisterhand). Während Verónica im Film während dieser Séance ihren toten Vater zu beschwören versucht, waren Estefanias Eltern beide noch wohlauf – soweit die ersten Unterschiede zwischen Fakten und Fiktion.

In der Folgezeit erlitt Estefania Gutiérrez Lázaro mehrere Krampfanfälle und hatte Halluzinationen von Schatten und Wesenheiten, die sie umgeben. Später ist sie – wie die Verónica im Film – in ihrem jungen Alter gestorben.

Tragisches und »Paranormales«

Allerdings nicht wirklich »wie im Film«. Während Verónica in einem spektakulären Finale daheim gegen einen Dämon kämpft, von diesem malträtiert wird und auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt, war Estefania zum Zeitpunkt des Todes längst im Krankenhaus. Die Umstände ihres Todes vor rund 30 Jahren sind nicht geklärt. Wenn aber eine 18-Jährige an Krampfanfällen und Halluzinationen leidet, gibt es eine Reihe von Krankheitsbildern, die den tragischen Tod eines so jungen Menschen verursachen können. Ohne dämonischen Einfluss.

In dem Polizeibericht, auf dem dieser Film angeblich basiert, geht es nicht wirklich um Estefania Gutiérrez Lázaro . Deren Familie hat die Polizei nach dem Tod ihrer Tochter erstmal gar nicht kontaktiert. Erst ein Jahr später waren Polizist*innen bei Estefanias Eltern daheim. In ihrem Bericht ist von Geräuschen auf einer Veranda die Rede, und der geschlossenen Tür eines Kleiderschranks, die plötzlich und in unnatürlicher Weise aufging. Außerdem fiel eine Jesus-Figur von ihrem Kreuz und ein brauner Fleck breitete sich aus.

Das ist alles. Drei durchaus ungewöhnliche Beobachtungen, die man als »paranormal« bezeichnen kann. Sie wurden auf jeden Fall als paranormal interpretiert – und die Tatsache, dass diese Beobachtungen in einem offiziellen Polizeibericht festgehalten sind, das macht den »Valleca Fall« so berühmt. Zumindest bei Menschen, die an Paranormales (im »Geister aus dem Jenseits«-Sinne) glauben.

Persönlicher Kontext

Ich persönlich glaube nicht an Paranormalität, wie sie mir in unzähligen Filmen nun schon auf verschiedenste Herangehensweisen näher gebracht wurde. Und selbst, wenn in einem Polizeibericht von paranormalen Beobachtungen die Rede ist, ist mein erster Reflex die Annahme, dass eventuell die zuständigen Polizist*innen ihrerseits an Paranormales glaubten (man »sieht, was man sehen will«). Oder, dass es doch eher natürliche Erklärungen für vermeintlich unnatürliche Beobachtungen wie eine sich öffnende Schranktür, einen vom Kreuz fallenden Jesus und einen brauen Fleck gibt.

Das »sehen, was man sehen will«, gilt selbstverständlich auch für mich. Ich mag rationale Erklärungen – und das Verhalten von Dämonen oder anderen Jenseits-Wesenheiten in Filmen erscheint mir maximal irrational. Liegt vermutlich daran, dass sie »nicht von dieser Welt« sind und ich damit ungültige Ansprüche stelle. Aber dann erstaunt mich doch die innere Logik, mit der all die irrationalen Aktionen von Dämonen ganz gezielt – wie Arsch auf Eimer – zu unseren Ängsten passen. Auf rationale »Horrorfilm bedient Furchtvorstellungen« Art und Weise.

Fakten und Fiktion

Was die Unterschiede zwischen »Fakten und Fiktion« angeht, so berufe ich mich mit der Erläuterung der »wirklichen Begebenheiten« wohlgemerkt auch nur auf Internetseiten, keine amtlichen Dokumente. Newsweek hat die Geschichte über Estefania Gutiérrez Lázaro in Gegendarstellung zu dem Film in Form gebracht, die seriöseste Aufarbeitung, die ich auf Englisch finden konnte (wobei manche Links von diesem Artikel auf wiederum gar nicht seriöse Seiten verlinkt sind). Es ist anzunehmen, dass man im spanisch-sprachigen Internet bessere, detailliertere, fundierte Auseinandersetzungen mit dem Fall finden würde.

Andererseits: Vielleicht auch nicht. Vor rund 30 Jahren ist in einem Krankenhaus eine junge Frau gestorben – und alles, was heute noch in ihrem Namen passiert, ist Kunst, Kult und Kommerz, angereichert mit all den urban legends, die in der jahrzehntelangen Rezeption des Falls hinzugedichtet wurden. Ich verstehe, dass Dämonen-Horrorfilme besser »funktionieren«, wenn man dem (wohlwollenden) Publikum glauben machen kann, die Handlung basiere auf wahren Begebenheiten. Das ist eben viel gruseliger – und der Regisseur Paco Plaza macht keine halben Sachen: Er stellt seinen Film inklusive Abspann-Fotos vom »Tatort« als geradezu dokumentarisch dar (die Fotografie mit dem ausgebrannten Gesicht Estefanias hat es beispielsweise tatsächlich gegeben). Beim Toronto International Film Festival sagte Plaza zum Wahrheitsgehalt seines Films:

Was wir erzählen, wird Geschichte

Ich denke, wenn wir etwas erzählen, dann wird daraus eine Story, selbst wenn es Nachrichten sind. Man muss nur verschiedene Zeitungen lesen, um zu wissen, wie unterschiedlich die Realität sein kann, je nach dem, wer sie erzählt. Ich wusste, dass wir die realen Begebenheiten verfälschen würden. Ich wollte es bloß zu einer in sich geschlossenen Vision machen […] Also die ganze Geschichte von Veronica und ihren Schwestern und Antoñito, diesem kleinen Marlon Brando mit Brille, das ist alles eine Vision.

Paco Plaza, Regisseur von Verónica

Kurzum: Mit dezenter Anlehnung an den gefallenen Jesus aus dem Polizeibericht, hat man einen mit christlicher Symbolik und dämonischem Schauer aufgeladenen Plot gebastelt, der nicht auf diesem Bericht »basiert«, sondern von ihm inspiriert ist – das wäre die ehrlichere Wortwahl gewesen. Mal wieder. Wie immer.

Ein Teil in mir findet es immer etwas respektlos, wenn sich Horrorfilme nur um des Grusel-Effekts willen auf echte Menschen (mit echten Familien und Angehörigen) beziehen. Aber was weiß ich, wie die Betroffenen dazu stehen? Einen Kommentar etwaiger Familienmitglieder zu dem Film Verónica konnte ich nicht finden.

Traumatische Erfahrungen?

In dem Q&A auf besagtem Festival beantwortet Paco Plaza übrigens auch eine Frage dazu, wie man die Kinder am Set betreut hat – angesichts doch recht krasser Szenen, in denen sie von einer gruseligen Gestalt bedroht werden oder Fleisch aus dem Körper ihrer Schwester beißen. Plaza beantwortet diese Frage ab Minute 00:50 (auf Englisch):

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Ich stolperte über diesen Film, als ich zu Pascal Laugiers Ghostland (2018) recherchierte, einem anderen aktuellen Horrorfilm, der zuweilen mit Verónica verglichen wurde (obwohl die Filme unterschiedlicher kaum sein könnten). Über Verónica – der am 26. Februar 2018 erstmal bei Netflix veröffentlicht wurde – las ich dann immer häufiger die Phrase »scariest movie ever«, was mich leicht zum ködernden Filmfisch gemacht hat. Zack, Netflix aufgemacht, her mit dem Bissen!

Also, ist Verónica »der gruseligste Film aller Zeiten«? Also aus inzwischen über 120-jähriger Filmgeschichte, die Werke wie William Friedkins Der Exorzist (1973) und Werner Herzogs Nosferatu (1979) hervorgebracht hat? (Um nur zwei von unzähligen Klassikern zu nennen.) Natürlich absolut nicht. Verónica ist nicht einmal der gruseligste Film von Paco Plaza (wie gesagt: REC!).

Läuft bei Netflix

Heißt, ich bin wiedermal auf etwas reingefallen, was entweder eine gelungene PR-Kampagne oder ein glücklicher Selbstläufer war: Ein paar Internet-User, die ihr Grauen über Verónica bei Twitter dokumentiert haben. Dabei hätte ich es besser wissen müssen. Ich, der ich so gerne Bill Maher zitiere, aus: New Rule: That’s Not News. In diesem YouTube-Video beschreibt der amerikanische Late-Night-Moderator zur Bauchbinde »charlatan’s web« das Phänomen, das Medienportale irgendwelche Stimmen aus dem Internet aufgreifen und ihnen Relevanz andichten, selbst wenn sie es mit gegebener Vorsicht tun. Beispiel:

Das Netz streitet über Verónica – laut Netflix „der gruseligste Horrorfilm aller Zeiten“, den angeblich kaum ein Zuschauer bis zum Ende durchhält. 

Britta Bauchmüller (Kölnische Rundschau), 19.03.18

»Das Netz« = ein paar Twitter-User
»laut Netflix« = PR-Texter*in
»kaum ein Zuschauer« = noch ein paar Twitter-User

Unterm Strich beruft sich dieser Satz auf vielleicht 2 Dutzend Tweets von Netflix-Usern (stellvertretend für »das Netz«) und eine Person, die dafür bezahlt wird, Netflix-Filme ins Gespräch zu bringen. Das Ganze verpackt unter der Schlagzeile »Verónica und Co. Diese Horrorfilme auf Netflix hält kaum jemand bis zum Ende aus«. Werbung vom Feinsten. Läuft bei Netflix.

Fazit zu Verónica

Wer auf Dämonen-Filme steht, wird an Verónica seine Freude haben. Der Film ist handwerklich gut gemacht, wenn auch (von ein paar visuellen Ideen mal abgesehen) sehr konventionell. Er fügt dem Genre nichts Neues hinzu, bedient sich an dessen Zutaten aber sehr geschickt – und Sandra Escacena trägt die Zuschauer*innen als Heldin, der man nichts Böses wünscht, gut durch die Handlung. Grusel-Atmosphäre kommt auf, selbst wenn man Gläserrücken und Dämonen für Hokus Pokus hält, deshalb: ja, okay, guter Film…

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MIT EINER KATZE NACH PARIS von Angelika Glitz | Kinderbuch 2017 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/buch-mit-einer-katze-nach-paris-2017/ http://www.blogvombleiben.de/buch-mit-einer-katze-nach-paris-2017/#respond Sun, 05 Aug 2018 07:00:00 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4478 Ein kleiner Mäuserich wird von einer Miezedame nach Paris verschleppt. Damit die Katze bloß nicht hungrig…

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Ein kleiner Mäuserich wird von einer Miezedame nach Paris verschleppt. Damit die Katze bloß nicht hungrig wird, gilt es ihr das Maul mit Leckereien zu stopfen. Doch irgendwie scheint ihr Hunger nach dieser süßen Maus nicht abzuklingen. Über das Bilderbuch Mit einer Katze nach Paris von Angelika Glitz und Illustratorin Joëlle Tourlonias.

Was sich liebt, das frisst sich

Meine Eltern haben seit Kurzem Katzenbabys. Für mich ein triftiger Grund, sie mal wieder zu besuchen. Gedacht, geschehen, geflasht. Diese kleinen flauschigen Knutschkugeln hätte ich fressen können. Ein sonderbares, obsessives Gefühl, das eine gewisse Katzendame dazu verleitet, ihr Objekt der Begierde (in diesem Fall eine Maus) nach Paris zu entführen.

Bloggerin Sonia Lensing mit dem Kinderbuch Mit einer Katze nach Paris

Die Liebe ist niemals satt

Zum Inhalt: »Baguette kaufen geht pupsieinfach«, denkt der kleine Mäuserich Ronald. Doch dazu kommt er erst gar nicht. Denn die Dame Miezekatze hat andere Pläne mit dem Mäusezahn. Um sie von ihrem Hunger nach Mauseschmaus abzulenken, kauft Ronald ihr eine Ladung saftiger Sauerkirschen. Das müsste den Katzenmagen erstmal stopfen.

Doch zu früh gefreut. Miezekatze Rosalie verspürt einen unbändigen Löwenhunger nach Delikatessen und süßer Mäuseliebe. Ehe sich Ronald versieht und seine Schwestern alarmieren kann, entführt sie den Kleinen in die Stadt der Liebe, Paris. Kein glücklicher Zustand für Ronald. Doch als sich ihm eine Möglichkeit bietet, der hungrigen Katze zu entkommen, entscheidet er sich anders und überrascht damit nicht nur seine Schwestern. Über Ronalds Reise zwischen Bangen und Hoffen und dem Auskosten der Liebe.

Zur Wirkung des Buchs

Ohne Konflikt kein Drama, kein spannendes Storytelling, kein Spaß. Und Kinder lieben, ja brauchen Spaß. Syd Fields Konflikt-Regel, die wir uns im Fachseminar Drehbuchschreiben für Kinder- und Jugendfilme hinter die Ohren schreiben durften, befolgt auch Angelika Glitz in ihrem neuen Bilderbuch Mit einer Katze nach Paris. Denn was könnte die Luft mehr zum Brutzeln bringen, als die Figuren Katz und Maus, das Traumpaar für Gegensätze. Tom und Jerry ist nicht ohne Grund die meist-ausgezeichnete Trickfilmserie weltweit. Somit gelingt es der Autorin, bereits durch das Buchcover die Kinder neugierig aufs Lesen zu machen. Der erste Schritt zur Leseförderung.

Geschwisterliebe

Ob Geschwister oder dominante Freund*innen, jedes Kind kommt einmal in die Situation, sich behaupten zu müssen. Hätte ich als Kind nicht so einen lieben und verständnisvollen Bruder gehabt, hätte ich jetzt vermutlich auch ein dickeres Fell. (Dafür haben wir jetzt einen Psychologen in der Familie – mit Elefantenhaut.) Dass sich Ronald in Mit einer Katze nach Paris gegenüber seinen älteren Mäuse-Schwestern beweisen will, indem er sich ohne dämliche Warn-Tröte zum Bäcker aufmacht, passt zur kindlichen Lebenswelt. Jüngere Geschwister möchten ernst genommen werden, nicht unter den Scheffel gestellt. So bietet die Eröffnungsszene Identifikationspotential für all jene Kinder, die mit (älteren) Geschwistern aufwachsen.

So geht kindgerechtes Storytelling

Neben dieser lebensnahen Einleitung punktet das Kinderbuch Mit einer Katze nach Paris durch schnelles und kindgerechtes Storytelling. Obwohl das Werk in der Autor*innen-Zeitschrift Federwelt (August 2018) als »Bilderbuch mit viel Text« beschrieben wird, schreibt Angelika Glitz nicht um den heißen Brei herum, ohne langweiliges Blah oder schwierige Wortakrobatik. Stattdessen inszeniert sie den ehrfürchtigen Auftritt der Katzendame direkt auf den Anfangsseiten und treibt beide Figuren zur Aktion an. Ronald muss handeln, sonst könnte Rosalie noch auf die Idee kommen, ihn womöglich zu verspeisen.

Drum lässt die Autorin die beiden Fellwesen in Mit einer Katze nach Paris gemeinsam Kirschen essen, eine Spritztour machen und Paris mit seiner Mona Lisa, dem Eiffelturm und Käse erkunden. Und zwischen den Zeilen hämmert das kleine Mäuseherz, denn Rosalie hat Ronald immer noch zum Fressen gern. So spielen die Emotionen in dem Kinderbuch zwischen Fürchten und Freude ebenfalls das Katz- und Mausspiel. Ein Storytelling und einfacher Sprachstil, bei dem Kinder ihre Lesefreude haben.

Zur Visualität von Mit einer Katze nach Paris

Die Illustrationen von Joëlle Tourlonias sind für mich wahre Buchöffner. Der Blick aufs Cover und ihr Name haben mich in der Bücherei dazu gebracht, noch ein 9. Kinderbuch auf den schon schweren Stapel zu legen. Und habe ich es bereut? Pustekuchen. Joëlle Tourlonias überzeugt auf ganzer Buntstiftlinie. Etwas Anderes hätte ich auch nicht erwartet. Ihr bekannter, niedlicher und sanfter Zeichenstil ist für Kinderherzen wie geschaffen. Und wenn man genau hinsieht, entzückt sie mit solch einer Präzision wie etwa die feinen Katzenhaare, dass sich das Können dieser Künstlerin zweifellos nicht auf Kinderbücher beschränken lässt.

Auch der Stilmix zwischen liebreizenden Tierzeichnungen und detailreichen Architekturen lässt Groß und Klein staunen. Das Einzige, das den Glanz der Panoramabilder etwas schmälert, ist die Text-Bild-Integration. Nach meinem ästhetischen Empfinden wäre ein visuell harmonischerer Text-Bild-Übergang in Form eines verspielteren Schriftsatzes wünschenswert gewesen. Aber das ist sicher eine Geschmacksfrage und wird als Extrawurst verbucht.

Fazit zu Mit einer Katze nach Paris

Mit ihrem neuesten Kinderbuch hat Angelika Glitz eine unterhaltsame und spannende Liebesgeschichte zwischen Katz und Maus erschaffen, die den Kindern kindgemäß nahelegt, Vorurteile über Bord zu werfen und erst einmal mit jemanden Kirschen zu essen. Mit wunderbaren Illustrationen von Joëlle Tourlonias erzählt die Autorin von der Angst vor dem Fremden, die besser klein und klug wie eine Maus sein, und die Chance auf Freundschaft und Liebe offenhalten sollte. Für so eine runde Kindergeschichte, die sich auch gut zum Vorlesen eignet, vergebe ich 9 Sterne.

TitelMit einer Katze nach Paris
Erscheinungsjahr2017
Autor*in, Illustrator*inAngelika Glitz (Autorin)
Joëlle Tourlonias (Illustratorin)
VerlagS. Fischer Verlag
Umfang32 Seiten
Altersempfehlungab 4 Jahren
ThemaFreundschaft, Liebe, andere Länder

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Das schwache Geschlecht: Schicksal oder Mythos? | Bio mit Beauvoir http://www.blogvombleiben.de/das-schwache-geschlecht-schicksal-oder-mythos/ http://www.blogvombleiben.de/das-schwache-geschlecht-schicksal-oder-mythos/#respond Wed, 01 Aug 2018 07:00:42 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4607 Wie viele Geschlechter gibt es? Zwei. Welche beiden? Männlein, Weiblein. Welches ist stärker? Männlein. Alles klar!…

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Wie viele Geschlechter gibt es? Zwei. Welche beiden? Männlein, Weiblein. Welches ist stärker? Männlein. Alles klar! Jetzt könnte man mit kindlicher Neugier noch weiter stochern: Warum ist das denn so? Und ist das wirklich so? Gibt es das »schwache Geschlecht«? Erwachsene Skepsis funkt dazwischen: Ob Kinder im 21. Jahrhundert diese Verunglimpfung überhaupt noch kennen, »das schwache Geschlecht«? Doch für Kinder hat der folgende Beitrag ohnehin zu wenig Bilder. Und zu viel versaute Sprache. Also bitte, liebe erwachsene Leser*innen, muntere Ein- und Mehrzeller da draußen, lasst uns über Geschlechter sprechen.

Ein Porträt von Simone de Beauvoir und die Frage: Gibt es das schwache Geschlecht?

Von Einfältigkeit und Entfaltung

Ich ziehe für die etwas plakative Frage – Gibt es das schwache Geschlecht? – ein Buch zurate, das schon ein wenig in die Jahre gekommen ist. Das andere Geschlecht (1949) von Simone de Beauvoir. Eine französische Philosophin und ihr monumentales Standardwerk über die Rolle der Frau von Anbeginn der Menschheitsgeschichte bis heute. Ja, okay, heute vor rund 70 Jahren – doch vieles von dem, was Beauvoir schreibt, hat nicht an Gültigkeit verloren.

Doch vorweg: Wer war Simone de Beauvoir? Zu dieser Frage hat ARTE einen amüsanten Film produziert – eine Art »Beauvoir kompakt«, 3 Minuten knackig kurzes Kennenlernen jener Frau, aus deren Werk hier fleißig zitiert wird:

In einem Meer vor unserer Zeit…

Wie es sich für ein Standardwerk gehört, fängt Beauvoir mit ihrer Untersuchung der Geschlechter-Verhältnisse ganz vorne an. Oh nein, nicht bei Adam und Eva – noch weiter vorne: Bei den namenlosen Einzellern, die sexlos durchs urgeschichtliche Meer wabern und lange vor Darwin denken: könnt‘ langsam mal weitergehen, die Evolution…

Ungeschlechtliche Fortpflanzung

Einzellige Lebewesen sind zur selbständigen Teilung fähig, da geht die Vermehrung ganz ohne Sex vonstatten. Diese ungeschlechtliche Fortpflanzung nennt man auch Schizogonie.

Vielzellige Lebewesen können sich ebenfalls ungeschlechtlich vermehren. Dazu gehören etwa die Süßwasserpolypen, winzige Nesseltiere, an denen Knospen wachsen, aus denen dann neue Nesseltiere entstehen.

Beobachtungen haben gezeigt, daß die ungeschlechtliche Vermehrung sich unbegrenzt fortsetzen kann, ohne daß irgendeine Form von Degeneration auftritt. 1

Mit diesem Kommentar möchte Beauvoir der naheliegenden Reaktion entgegenwirken, evolutionären Fortschritt per se mit Überlegenheit gleichzusetzen. Die ungeschlechtliche Fortpflanzung »primitiver« Organismen nutzt sich nicht ab, schadet nicht den Individuen oder ist irgendwie »schlechter« als geschlechtliche Fortpflanzung. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, die Denkkategorien »besser« und »schlechter« mal für eine Weile abzuschalten. Das Leben ist erstmal nur.

Eingeschlechtliche Fortpflanzung

Unter dem Fachbegriff Parthenogenese (oder auch: Jungfernzeugung) fällt die eingeschlechtliche Fortpflanzung. Dabei gehen etwaige Nachkommen aus unbefruchteten Eizellen hervor. Die Parthenogenese ist bei manchen Pflanzen zu beobachten. Ebenso bei Blattläusen (die häufig über mehrere Generationen nur Weibchen hervorbringen), sowie gewissen Schnecken, Fischen, Schlangen und Eidechsen. Bestimmte Hormone sind es, die deren Eizellen vorgaukeln, sie seien befruchtet. Darauf folgt die Teilung und ein neuer Organismus entsteht – ohne, dass andersgeschlechtliche, befruchtende (von Menschen gemeinhin als »männlich« bezeichnete) Artgenossen dazu beigetragen hätten.

Es sind immer zahlreichere, immer kühnere Experimente mit Parthenogenese durchgeführt worden, und bei vielen Arten hat das Männchen sich als vollständig unnütz erwiesen. 2

Zweigeschlechtliche Fortpflanzung

Kommen wir zum nächsten Szenario: 2 Gameten verschmelzen miteinander. Gameten sind in einem Körper diejenigen Zellen, die der geschlechtlichen Fortpflanzung dienen – auch Geschlechtszellen genannt. Es gibt Algen, bei denen diese miteinander zu einem Ei verschmelzenden Gameten äußerlich nicht voneinander zu unterscheiden sind. Das nennt man Isogamie. Es zeigt, dass Gameten (die wir später »männlich«, »weiblich« differenzieren) grundsätzlich gleichwertig sind. Das schwache Geschlecht? Bis hierher: keine Spur.

Nun sind im Laufe der Evolution aus ursprünglich identischen Zellen voneinander zu unterscheidende hervorgegangen: Eizellen (Oozyten, auch »weibliche Geschlechtszellen« genannt) und Samenzellen (Spermatozyten, oder »männliche Geschlechtszellen«).

Zwei in Eins

Doch Achtung! Hier leitet uns die Sprache bereits auf naheliegende Irrwege. Tatsache ist, dass es verschiedenartige Gameten gibt, aus deren Verschmelzung ein Ei entsteht. Diese verschiedenartigen Gameten jedoch unterschiedlichen Geschlechtern (»weiblich«, »männlich«) zuzuordnen, mutet etwas voreilig an. Beide Ausprägungen von Gameten, also sowohl Ei- als auch Samenzellen, können gemeinsam in ein- und demselben Lebewesen vorkommen. Das kennt man zum Beispiel von bestimmten Pflanzen oder auch Ringelwürmern. Wenn Individuen  mehrere Arten von Geschlechtsausprägungen haben, die verschiedenartige Gameten hervorbringen (jene Eizellen und Samenzellen), dann sprechen wir von Zwittrigkeit.

Hermaphroditismus ist ein Fachbegriff für Zwittrigkeit, die sich aus der griechischen Mythologie ableitet – genauer: Aus Ovids Metamorphosen. Darin erzählt der Dichter die Geschichte vom gemeinsamen Sohn der Liebesgöttin Aphrodite und des Götterboten Hermes, nach seinen Eltern Hermaphroditos benannt. Dieser wurde eines Tages von einer Nymphe derart fest umarmt, dass ihre Körper miteinander verschmolzen. Fortan trug Hermaphroditos seine eigenen Geschlechtsmerkmale sowie die der Nymphe – auch, wenn er schlief, wie diese großartige Skulptur zeigt (sie geht auf eine Bronzeplastik aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. zurück):

Schlafender Hermaphrodit

Statue des »Schlafenden Hermaphrodit«

Intersexuell statt »unecht«

Zwar kommt es beim Menschen vor, dass ein Körper unterschiedliche Geschlechtsmerkmale (etwa einen Penis und Brüste) offensichtlich ausprägt. Nicht jedoch, dass in einem Menschen verschiedenartige Gameten (also Ei- und Samenzellen) produziert werden. Deshalb spricht man bei Menschen mit unterschiedlichen Geschlechtsmerkmalen von »Pseudohermaphroditen« oder »unechten Zwittern«. »Pseudo« respektive »unecht« sind jedoch sehr wertende Begriffe, in denen eine Vorstellung von richtig und falsch mitschwingt, die nicht von der Natur, sondern von uns Menschen kommt. Wir sind es, die diese Ausprägung eines Körpers als »Störung« klassifizieren und behandeln.

Menschen, die solch unterschiedliche Geschlechtsmerkmale haben, empfinden solche Begriffe – verständlicherweise – als diskriminierend. Viele bevorzugen die Bezeichnung intersexuell. Und ja, intersexuelle Menschen können schwanger werden (siehe: Diskussion bei Quora), je nach dem, wie die jeweiligen Geschlechtsmerkmale ausprägt sind. Das ist Tatsache. Doch von der Möglichkeit zur Fortpflanzung auf einen »erfüllten Sinn« zu schließen, der eine etwaige Störung wettmacht, das ist wieder der Mensch. Die Natur ist irgendwie und wir Menschen deuten sie. Wie ein Kunstwerk. (Wobei wir bei einem Kunstwerk gerne mal hinnehmen, dass es einfach keinen Sinn macht.)

Was mit Sicherheit behauptet werden kann, ist, daß beide Fortpflanzungsmodi [Getrenntgeschlechtlichkeit und Zwittrigkeit] in der Natur nebeneinander vorkommen, daß einer wie der andere die Arterhaltung sichert und daß die Verschiedenartigkeit der gonadentragenden Organismen [Gonaden sind die Geschlechtsorgane, in denen die Ei- oder Samenzellen gebildet werden] ebenso wie die der Gameten akzidentell [also zufällig] scheint. Die Trennung der Individuen in Männchen und Weibchen stellt sich also als eine unreduzierbare und kontingente Tatsache dar. 3

Platon, Hegel und Konsorten

Mit »kontingent« meint Simone de Beauvoir »beliebig« im Sinne einer möglichen aber nicht notwendigen Trennung. Zu Beginn ihres Buchs Das andere Geschlecht (1949) führt die Autorin beeindruckend vor Augen, wie namhafte Denker diese Trennung zwischen »männlich« und »weiblich« seit jeher entweder erklärungsfrei hingenommen oder logisch zu begründen versucht haben. Dabei schlägt sie den Bogen von der griechischen Antike (Platon, Aristoteles) vor rund 2500 Jahren über das Mittelalter (Thomas von Aquin) bis in die Neuzeit (Hegel) und ihre unmittelbare Gegenwart (Merleau-Ponty, Sartre).

Auch die Ansichten über die jeweiligen Rollen der Geschlechter beleuchtet Beauvoir im Wandel der Zeit. Angefangen mit frühgeschichtlichen Mythen bis hin zur ersten Beobachtung einer Samenzelle, die in die Eizelle eines Seesterns eindringt – im Jahr 1877. Damit war die Gleichwertigkeit dieser verschiedenartigen Geschlechtszellen, die zu einem Ei verschmolzen, eigentlich bewiesen. Und doch wurde das quirlige Verhalten der Spermien und die geruhsam wartende Eizelle vielfach von altklugen Köpfen interpretiert: Als Zeichen für männliche Aktivität und weibliche Passivität. Beauvoir erlaubt sich hier noch einmal einen Verweis auf die eingeschlechtliche Fortpflanzung (Parthogenese), bei der Eizellen durch bloße Einwirkung körpereigener Hormone beginnen, neues Leben hervorzubringen.

Es hat sich gezeigt, daß bei manchen Arten die Einwirkung einer Säure oder eine mechanische Reizung ausreichen kann, um die Eifurchung und die Entwicklung des Embryos auszulösen. Vielleicht wird die Mitwirkung des Mannes an der Fortpflanzung eines Tages überflüssig: das ist anscheinend der Wunsch zahlreicher Frauen. Nichts aber berechtigt zu einer so gewagten Vorwegnahme, denn nichts berechtigt zu einer Verallgemeinerung spezifischer Lebensprozesse. 4

Von der Eizelle zum heimischen Herd

Eine Verallgemeinerung wie die vom Verhalten unserer Geschlechtszellen auf die Verhaltensnormen unserer Geschlechtsrollen, wenn man sagt: »Eizellen sind passiv, also gehören Frauen an den Herd.« Beauvoir warnt überhaupt vor der Freude an Allegorien, während sie auf die genauen biologische Vorgänge bei der Befruchtung eingeht. (Und bevor sich jemand räuspert: ja, ich weiß, ich stelle in diesem Blog selbst eine unverhohlene Vorliebe für Allegorien zur Schau…). Im Moment der Zeugung, so die Quintessenz von Beauvoirs Ausführungen jedenfalls, stellt sich keines der Geschlechter als dem jeweils anderen überlegen dar. Aber ab wann gibt es das schwache Geschlecht denn dann?

Aus befruchteten Eiern gehen beim Menschen – wie bei den meisten Tieren – in etwa gleich viele Individuen zweier verschiedenartiger Geschlechter hervor, von uns »Männchen« und »Weibchen« genannt. Für beide vollzog sich die embryonale Entwicklung identisch, bis zu einem Reifestadium, da sich Hoden oder Eierstock zu bilden begannen. Bis zur neunten Woche hat ein Embryo einen sogenannten Genitalhöcker, aus dem sich Penis oder Vagina bilden. Was beim Penis größer wächst und zur Eichel wird, rutscht bei der Vagina weiter hoch und heißt Klitoris. Quasi das gleiche Ding, etwas anders positioniert. Etwaige Zwischenformen – wie eine zu große Klitoris oder ein zu kleiner Penis, wie sie die Natur manchmal hervorbringt – werden von uns als Störungen bezeichnet und zuweilen operativ angepasst.

Die Sexualtheorie zu Zeiten Beauvoirs ging bereits davon aus, dass das Einwirken bestimmter Hormone auf den Zellhaufen Mensch dazu führt, dass dieser Zellhaufen diese oder jene Geschlechtsmerkmale bekommt. Hormonelles Ungleichgewicht hat dabei Formen der oben beschriebenen Intersexualität zur Folge. Wie genau die Gewichtung zustande kommt? Der Titel von Beauvoirs erstem Kapitel sagt es schon: Schicksal.

»Das schwache Geschlecht« bei Tier und Mensch

Die Philosophin klettert im Folgenden die evolutionäre Stufenleiter des tierischen Lebens hinauf, mit Blick auf das schwache Geschlecht. Wir passieren Stechmücken, von denen das Männchen nach der Befruchtung stirbt, und Schmetterlinge, deren Weibchen nicht einmal Flügel haben, während Männchen mit Flügeln, Fühlern und Scheren ausgestattet sind, sowie allerlei anderes Getier.

Sehr häufig legt [das Männchen] bei der Befruchtung mehr Initiative an den Tag als das Weibchen: es sucht das Weibchen auf, greift es an, betastet es, packt es und zwingt ihm die Paarung auf; […]

Auch wenn das Weibchen provozierend oder willig ist, ist es in jedem Fall das Männchen, das es nimmt: es wird genommen. Das trifft oft buchstäblich zu: entweder weil das Männchen entsprechende Organe hat oder weil es stärker ist, packt es das Weibchen und hält es fest; ebenso vollführt es aktiv die Kopulationsbewegungen. Bei vielen Insekten, bei den Vögeln und den Säugetieren dringt es in das Weibchen ein. Dadurch erscheint das Weibchen als eine vergewaltigte Interiorität. 5

Die Fortpflanzungsfunktion

Zu dieser äußerlichen Fremdherrschaft kommt eine innere Entfremdung durch das befruchtete Ei, dass sich im Uterus festsetzt und zu einem anderen Organismus heranwächst. Simone de Beauvoir beleuchtet die vorwiegend belastenden Auswirkungen von Schwanger- und Mutterschaft, von Zyklus und Wechseljahren auf den weiblichen Körper und kommt zu dem Schluss:

[…] von allen weiblichen Säugern ist die Frau am tiefsten sich selbst entfremdet, und sie lehnt diese Entfremdung am heftigsten ab; bei keinem ist die Unterwerfung des Organismus unter die Fortpflanzungsfunktion unabwendbarer, und bei keinem wird sie mit größeren Schwierigkeiten angenommen. 6

Wir werdende Wesen

Die in Beauvoirs Buch ausführlich beschriebenen Gegebenheiten des Körpers sind deshalb so wichtig, weil der Körper als »Instrument für unseren Zugriff auf die Welt« maßgeblich ist. Trotzdem lehnt Beauvoir die Vorstellung ab, dass all die Belastungen für den weiblichen Körper mit einem festgelegten Schicksal einhergingen. Das bringt uns zu unserer Ausgangsfrage:

Gibt es das schwache Geschlecht?

Diese Frage stelle sich für die Frau nicht in derselben Weise, wie für andere Weibchen irgendwelcher Tierarten, die beobachtet und einigermaßen statisch beschrieben werden könnten. Denn, so betont Beauvoir: Menschen sind stetig im Werden begriffen, niemals fertige Wesen. Beauvoir schreibt in den späten 1940er Jahren:

Die Frau ist keine feststehende Realität, sondern ein Werden, und in ihrem Werden müßte man sie dem Mann gegenüberstellen, das heißt, man müßte ihre Möglichkeiten bestimmen: was so viele Diskussionen verfälscht, ist, daß man die Frau, wenn man die Frage nach ihren Fähigkeiten stellt, auf das beschränken will, was sie gewesen ist, was sie heute ist. Tatsache ist doch, daß Fähigkeiten nur sichtbar werden, wenn sie verwirklicht worden sind. 7

Und eben, dass eine Untersuchung der Fähigkeiten niemals abgeschlossen wäre. Fähigkeiten, die beim Mensch nicht von körperlichen Gegebenheiten abhängig sind.

Die Weltreisende und Journalistin Nellie Bly, hier im Alter von etwa 26 Jahren (1890)

Beauvoir appelliert an den Kontext:

Schwäche zeigt sich als solche nur im Licht der Ziele, die der Mensch sich setzt, der Instrumente, über die er verfügt, und der Gesetze, die er sich auferlegt. […] Wo die Sitten Gewaltanwendung verbieten, kann die Muskelkraft keine Herrschaft begründen: existentielle, ökonomische und moralische Bezüge sind nötig, damit der Begriff Schwäche konkret definiert werden kann. 8

Mit Tiefgang gegen den Mythos

Diese Bezüge stellt Simone de Beauvoir her. In ihrem 900 Seiten umfassenden Werk Das andere Geschlecht nimmt sie die Kunst- und Kulturgeschichte unter die Lupe, die kindliche Entwicklung und Erziehung. Sie untersucht etablierte Argumente und Klischees und liefert damit eine Lektüre, die über Jahrzehnte Bestand hat und noch heute Antworten auf Fragen gibt, die manchmal eben nicht in einem 30-sekündigen Facebook-Video zu beantworten sind. Es sei denn, man heißt Frauke Petry. Das schwache Geschlecht? Abgenickt.

Ich habe nichts dagegen, dass Frauen weiterhin das schwache Geschlecht sind, weil wir objektiv anders sind als Männer.

Frauke Petry (Quelle)

»Das schwache Geschlecht« ist ein Mythos. Eine polemische Formel, die helfen soll, eine Autorität zu etablieren, wo es an Rechtfertigung für diese Autorität fehlt. »Objektiv anders« ist jeder Mensch von seinem Nächsten, »anders« mit »schwach« gleichzusetzen ist irgendwie absurd, für eine Partei, die sich selbst als »Alternative« (also: anders!) bezeichnet – und in dieser Absurdität schon wieder passend. Doch bevor ich mich dazu hinreißen lasse, hier auf den letzten Zeilen das Thema zu wechseln, überlasse ich die Kommentierung von Frauke »weiterhin das schwache Geschlecht« Petry dieser YouTuberin:

Das schwache Geschlecht spricht:

Ebenso lesenswert:

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Als Kinder aus römisch-katholisch geprägten Familien lernten wir die Ehe als »die normale Verbindung zwischen Frau und Mann« kennen. Das, was man ab einem gewissen Alter so macht: Beruf suchen, Heiraten, Kinder kriegen (bestenfalls in dieser Reihenfolge). Als Heranwachsende war uns die »Kein Sex vor der Ehe«-Floskel bekannt, aber da hing nicht die Familienehre dran. Man ahnte als Teenager*in bereits, dass es dabei weniger um Gottes Zorn als einen weltlichen Grund ging. Vermutlich derselbe, aus dem man im Bio-Unterricht Gummi über Bananen zog (obwohl die Kirche was gegen die Gummidinger hat – nicht der einzige Widerspruch zwischen Glaubens- und Lebenswelt junger Menschen im Deutschland um die Jahrtausendwende). Als Erwachsene, die sich schließlich dafür entschieden hatten, Ehepartner zu werden, fragten wir uns schließlich: Kirchliche Trauung oder freie Trauung?

Gemeinsam einen Weg finden

Sonia: In Polen geboren und in einer römisch-katholischen Familie aufgewachsen, habe ich die Etappen Taufe, Kommunion und Firmung zeremoniell und traditionell durchlaufen. Zum Stolz meiner Verwandten. Doch je älter ich wurde und je seltener wir in die Kirche gingen, in der ich Kirchenfenster wie Schäfchen zählte, desto mehr befasste ich mich mit anderen Welt- und Glaubensanschauungen: Reinkarnation, Engel und Lichtwesen. Menschen, die als Medien zwischen den Welten vermitteln. Nahtoderfahrungen verschiedenster Art.

Was am Ende blieb, war der Gedanke, dass wir unter diesem Himmel alle gleichen Ursprungs sind und mit unseren Gedanken, Worten und Taten unser Leben und das unseres Planeten gestalten. Und dass wir nicht unbedingt eine institutionalisierte Religion brauchen, um zu glauben und gut zu sein. Und geht es nicht letztendlich darum, gut zu sein, um am Ende seiner Tage zufrieden zurück und nach vorne zu blicken?

Braut und Bräutigam im Wald, reden über das Thema Freie Trauung

Eine gute Idee, wo auch immer sie steht

David: Was ist denn »gut«? Als im Familiengottesdienst damals vom »guten Gott« erzählt wurde, der das Meer hinter Moses schloss, damit all die bösen Ägypter im Wasser umkamen, da flüsterte mein Paps mir zu, dass er sich da auch nicht ganz sicher sei, ob das »gut« ist. Ich habe auch früh gelernt, nicht unbedingt jedes Wort des Papstes »gut« zu heißen – und das sowas wie das Zölibat nicht »gut«, sondern Tradition war. »Man kann ja nicht alles ändern.« Zumal gewisse Werte der römisch-katholischen Kirche sich ja nicht überholen oder so wichtig und sinnvoll sind, wie eh und je: Nächstenliebe, um das prominenteste Beispiel zu nennen. Immer eine gute Idee.

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Das Zitat kommt aus dem Evangelium nach Markus, Neues Testament. Und es kommt aus der Tora, der hebräischen Bibel. Diese hat das Christentum auch für sich übernommen, als Altes Testament, in etwas anderer Anordnung.

Im Islam nennt man die gelebte, soziale Wohltätigkeit Zakat und im Buddhismus hat Karuna als Mitgefühl und Erbarmen eine ähnlich hohen Stellenwert, ist da jedoch nicht an eine Gottesvorstellung geknüpft. Die Verhaltensbiologie beobachtet Moral-ähnliches Verhalten im Übrigen zwar auch bei Tieren, doch in der neuzeitlichen Philosophie appelliert Immanuel Kant explizit an den menschlichen Verstand:

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.

Das finde ich »gut« – ein Maßstab, der in meinem Kopf geschlossen Sinn ergibt. Mit mir selbst als Verantwortung tragende Instanz, ohne Berufung auf ein Höheres Wesen oder etwaigem Aberglauben.

Im Glauben wankelmütig

Sonia: Zugegeben, ich habe einen Hang zum Aberglauben. Auf Holz klopfen, das Brautkleid vor dem Bräutigam verstecken, oder den Rosenkranz meiner Oma bei Prüfungen in der Tasche verstauen. Mach. Ich. Alles. Doch ich mogele, wenn’s mir nicht passt, was ein wenig an meiner Seriosität kratzt. Wenn mein Glaube ein Tier wäre, dann wohl ein Vogel.

Zwei Tauben fliegen gen Himmel

Etwas flatterhaft, aber himmelsnah. In einer Sache aber bin ich umso geerdeter: Dem Universum oder dem Höheren ist es, denke ich, ganz gleich, ob wir am Strand, in der Kirche oder sonst wo und wie heiraten. Solange man seine Liebe so bekennt und besiegelt, wie man es auch meint.

Was ist eine freie Trauung?

So zu heiraten, wie man es meint, das war mir wichtig. Was ist nun, wenn die eigenen Wurzeln nicht mehr ganz zu den Flügeln passen? Um unsere traditionellen Hintergründe und meine spirituellen Einflüsse mit den jeweils individuellen Überzeugungen zu verbinden, entschieden wir uns für die freie Trauung. Was ist das eigentlich?

…aber vorweg: Kleiner Exkurs

David: Wann immer wir in binären Gegensätzen denken, also solchen mit zwei klaren Positionen, da sollten wir hellhörig werden. Wir Menschen. Die Studien des Völker-Forschers Claude Lévi-Strauss haben das menschliche Denken schon vor Jahrzehnten als universell und uniform entlarvt. Überall auf der Welt, egal ob in New York City oder dem Amazonasgebiet, denken die Menschen in Gegensatzpaaren. Sowas wie »heiß – kalt«, »oben – unten«, »hell – dunkel«, soweit, so gut. Weiter: »Natur – Kultur«, »wild – zivilisiert«, »Frau – Mann«, und vielleicht am gewichtigsten: »schlecht – gut«. Denn beim Denken in Gegensatzpaaren geht eine Gewichtung dieser Paare in »gut« oder »schlecht« oft automatisch mit einher, bewusst oder unterbewusst.

Das Eine oder das Andere?

So haben sich Denkweisen, die »Kultur über Natur« oder »Mann über Frau« erhoben, über Jahrhunderte fortgesetzt. Wie auch immer du zur Kirche oder freien Trauung stehst: Wenn du dir das Gegensatzpaar »Kirche – freie Trauung« denkst, findest du vermutlich eines besser, eines schlechter. Ich persönlich assoziere »Kirche« etwa mit einer nicht mehr zeitgemäßen Institution mit arg verbrecherischer Historie (die nicht abgeschlossen ist). Andere assoziieren mit »freie Trauung« ein beliebiges Wunschkonzert, das sich an den schönsten Ritualen der kirchlichen Liturgie bedient und daraus ihr eigenes Ding dreht. Mal abgesehen davon, dass viele Religionen ihre Rituale auch nicht originär selbst erdacht und patentiert haben, liegt ein weiteres Problem mit dem Denken in Gegensatzpaaren darin, dass damit suggeriert wird, es gäbe nur zwei Kategorien.

Oder die Vielfalt?

Gibt es nur »männlich – weiblich« als mögliche Geschlechtsidentitäten? Nein. Es sind nur die einzigen beiden Möglichkeiten, auf die uns unser Hirn und unsere Sprache festlegt, wenn wir nicht daran rütteln. Und ebenso sollte man freie Trauung nicht als das einzig mögliche Gegenstück zur kirchlichen Trauung verstehen. Das Adjektiv »frei« macht es unserem Denken hier immerhin leichter, die eigentliche Vielfalt zu sehen: Eine freie Trauung kann alles sein, was ihr euch wünscht. Auch in Verbundenheit zu einem Gottesbild, wie es in der Bibel beschrieben wird.

Träume wahr werden lassen

Sonia: Eine freie Trauung kann frei nach den Vorstellungen des Brautpaares gestaltet werden. Dabei sind der Zeremonie keine Grenzen gesetzt (außer natürlich denen des Rechtsstaates). Die gute Nachricht an alle Pinterest-Suchtis: Ablauf und Ort der Trauung könnt ihr euch selbst überlegen – mithilfe von tausenden Inspirationen da draußen. Hier eine kleine Pinnwand zur Gestaltung unserer Hochzeit.

Blumen als Hochzeitsdekoration

Dank der freien Trauung konnten wir die standesamtliche (bürokratisch gehaltene) Eheschließung um eine Komponente ergänzen, die weit aus romantischer und feierlicher war. In der Zeremonie bekannten wir im Kreise unserer Lieben und Verwandten unsere Werte, unsere Liebe und Entscheidung füreinander, nach unseren Vorstellungen. Sogar nach meinen Mädchentraum, einmal wie Forrest und Jenny unter freiem Himmel zu heiraten, in der Geborgenheit der Bäume, wurde wahr.

Was kostet eine freie Trauung?

Der Vorteil einer kirchlichen Trauung – rein pragmatisch betrachtet – ist die per se feierliche Kulisse, der romantische Orgelmusikeinsatz, die geringeren Kosten. Für Paare, die sich jedoch weniger mit der Kirche und/oder dem Glauben identifizieren, bedeutet dies eine Trauung unter dem Mantel der Kirche und deren Vorstellungen der Ehe, Familienplanung, Kindererziehung. Hier gibt es deutliche Unterschiede in der katholischen und evangelischen Zeremonie, wobei Letzteres mehr Gestaltungsraum für das Brautpaar bietet.

Ein Wort zu Hochzeitsredner*innen

Die Kosten einer freien Trauung hängen natürlich ganz von der Trauung selbst ab. Dafür müsst ihr euch überlegen, wen und was ihr gerne integrieren möchtet. Der erste Kostenfaktor, der den Kern jeder freien Trauung darstellt, ist der oder die Zeremonienmeister*in respektive freie*r Hochzeitsredner*in. Natürlich gibt es auch die Option, freie Theolog*innen anzufragen, die unabhängig von der Kirche arbeiten und ebenfalls ein Honorar erhalten (hier eine Übersicht freier Theolog*innen).

Wie hoch die Honorare sind, hängt stark von den Redner*innen ab. Diese bieten in der Regel Vorab-Gespräche mit dem Brautpaar an, wo die persönliche Geschichte und die eigenen Vorstellungen kommuniziert werden. Mit Kosten ab 500 Euro sollte man für professionelle Hochzeitsredner*innen wohl rechnen.

Alternativ bietet sich auch die Friends-Variante an: Gibt es einen Menschen, der euch gut kennt und gerne und gut vor Publikum spricht (muss nicht in Soldatenuniform sein)? Dann ab dafür!

Wir hatten das Glück, den Theater- und Film-Schauspieler Jesse Albert in unserem Bekanntenkreis zu haben, der sich gerne bereit erklärte, uns durch die Trauung zu führen. Die Herausforderung bei semiprofessionellen Hochzeitsredner*innen: Den Text zur freien Trauung muss das Brautpaar selbst austüfteln. Wer selten schreibt und textet, kann hier ebenfalls im Bekannten- und Freundeskreis fragen, ob es helfende Hobbyschreiber*innen-Hände gibt? Denn wie gesagt, fragen schadet nicht. Und dann ladet eure Schreiberling-Freund*innen zu einem Essen ein und lasst euer Herz sprechen.

Ort und Austattung

Ein weiterer Kostenfaktor ist die Ausstattung. Je nachdem wie ihr euch trauen lasst und in welcher Location ihr dies vollzieht, könnt ihr auf Stühle, Bänke, Heuballen und vieles mehr zurückgreifen. Unsere Location (die Gaststätte Wintergarten in Bocholt) hatte zum Glück alles parat und übernahm die Aufstellung der Stuhlreihen. Für das Rednerpult stellten wir ein eigenes auf, samt selbst gehäkelter Gardine meiner Großmutter. Als kleinen Hingucker stellte uns die Blumenbinderei Flores für den Flur ein paar schöne Blumentöpfchen auf. Hier liegt es wieder ganz an euch, was ihr euch wünscht.

Freie Trauung im Garten unter freiem Himmel, mit Blumen dekoriert

Freie Trauung mit Gitarrenspiel und Blumendeko

Der musische Rahmen kann auch all denen Tränen in die Augen treiben, die sonst eher keine Miene verziehen. Nicht, dass bei einer Hochzeit geweint werden muss (muss es nicht 😊). Manche Brautpaare lassen sich professionelle Musiker*innen einfliegen, andere über die Anlage ihre Lieblingssongs abspielen, nur Sänger*innen singen oder befreundete Musiker*innen spielen. Hier müsst ihr entsprechend Angebote einholen. Da wir es irgendwie mit Friends haben, freuten wir uns riesig, dass Davids Schwester und ihre Freunde mit Engelstrompeten, Gitarre, Keyboard und Sheeran-Gesangsstimme sowohl den Einzug als auch die Zeremonie in rührende Atmosphäre tauchten.

Wie organsiert man eine freie Trauung?

Nehmt ihr Profis für die freie Trauung in Anspruch (freie Theolog*innen, Hochzeitsredner*innen), müsst ihr nichts weiter tun, als euch ein- bis zweimal mit dieser Person zu treffen und dort alles Wichtige zu besprechen (etwa Symbole, die ihr einsetzen möchtet, eure persönliche Geschichte oder Musikwünsche). Falls ihr euch zutraut, die Zeremonie aus eigener Feder zu verfassen, dann ist es hilfreich, sich zunächst eine kleine »Dramaturgie« zu überlegen. Diese könnte für eine freie Trauung so aussehen:

  • Begrüßung
  • Liebesgeschichte
  • Fürbitten/Wünsche
  • Eheversprechen
  • Ringtausch
  • Abschluss/Glückwünsche

Dann könnt ihr ein paar Kerndaten sammeln, die euch wichtig erscheinen. Bei uns waren es das erste Kennenlernen und die Meilen- und Stolpersteine unserer Freundschaft, aus der im verflixten siebten Jahr mehr wurde. Inhaltlich habt ihr also viel Spielraum, was vielleicht die Krux ist. Um es nicht steif ablesen zu lassen, ist es hilfreich, dem oder der Hochzeitsredner*in nicht Wort für Wort in den Mund zu legen und ihm oder ihr durchaus auch eigene Ideen oder Formulierungen zuzutrauen.

Zittern und Zaubern: Das Eheversprechen

Etwas, das für uns das Highlight war, und weshalb wir so derart nervös waren: unsere beiden Eheversprechen. (Wieder so ein Brauch aus Friends – ja, vielleicht sind wir dieser Sitcom ein bisschen zu sehr erlegen.) Die persönlichen Worte, aneinander gerichtet, vor den Augen und Ohren unserer Liebsten und Nächsten, waren das Herzstück unserer Trauung. Sicherlich nicht jedes Brautpaars Sache. Aber für mich war es der schönste Moment, meine Liebe so offen preiszugeben und zu bekennen.

Ihr allein entscheidet, was ihr euch sagen und versprechen wollt, so dass es auch da kein Richtig oder Falsch gibt. Um keine Peinlichkeiten entstehen zu lassen, haben wir uns abgesprochen, wie lang unsere Versprechen werden sollen. Bei Paaren mit sehr unterschiedlichem Redebedarf eine sinnvolle Angelegenheit. Mein Tipp: Setzt euch hin und schreibt einfach eine Minute darauf los, ohne eine Pause zu machen. Einfach herunterschreiben, welche Gedanken euch gerade durch den Kopf schießen, wenn ihr an euren Partner denkt.

David: Mein Tipp: Das Eheversprechen auf einem Spickzettel in der Trauung bei sich tragen. Mal drauf lünkern heißt ja nicht, dass man vergessen hat, warum man mit dieser Person da gegenüber sein Leben verbringen möchte. Nur, dass einen das Publikum arg nervös macht und die wenigsten Menschen viel Übung darin haben, ein Eheversprechen vorzutragen.

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GATTACA über Designer-Babys und Gentechnologie | Film 1998 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-gattaca-1998/ http://www.blogvombleiben.de/film-gattaca-1998/#respond Fri, 27 Jul 2018 07:00:35 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4397 Der Neuseeländer Andrew Niccol war noch keine 30 Jahre alt, als er das Drehbuch zu Die Truman…

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Der Neuseeländer Andrew Niccol war noch keine 30 Jahre alt, als er das Drehbuch zu Die Truman Show (1998) schrieb und an einen Produzenten verkaufte. Der junge Mann bekam »extra money« dafür, dass er von seinem Wunsch, auch die Regie zu führen, zurücktrat und einen erfahreneren Regisseur walten ließ. Niccol stimmte zu, zog sich zurück und schrieb das Drehbuch zu Gattaca. Dieses Mal ließ er sich die Regie nicht nehmen und setzt sein Skript selbst um. Schließlich kam Gattaca sogar noch ein Jahr vor Die Truman Show in die amerikanischen Kinos.

Mutter Natur und ihre Beta-Babys

Die Truman Show entpuppte sich als cineastisches Verbindungsglied zwischen orwellschen Überwachungsdystopien und dem Big-Brother-Realitätsfernsehen der 2000er Jahre. Inzwischen, im Jahr 2018, hat sich Die Truman Show überholt. Die Vorstellung, dass wir von Geburt bis Tod als Teil eines medialen Spektakels mit globalem Publikum geworden sind, ist gelebte Wirklichkeit geworden. Mit YouTube-Kanälen, auf denen Eltern die ersten Schritte ihrer Kinder dokumentieren, zelebrieren und für höhere Klick- und Abo-Zahlen inszenieren.

In den 2010er Jahren können wir sagen, dass auch Gattaca zur Gegenwart wird. In seinem jüngsten Report hat das Nuffield Council of Bioethics – eine renommierte, britische Organisation, die sich mit bioethischen Fragen beschäftigt – der Einflussnahme auf das Genmaterial menschlicher Embryos grünes Licht gegeben, es sei »moralisch zulässig«.

Die Schauspieler Uma Thurman und Ethan Hawke in dem Film Gattaca

Inhalt: Gattaca handelt von einem natürlich gezeugten Baby, Jungen, Mann (gespielt von Ethan Hawke) in einer »nicht allzu weit entfernten Zukunft«, in der natürlich Gezeugte bereits die Unterschicht der Gesellschaft darstellen. Unter falscher Identität versucht dieser unperfekte Mensch, seinen Traum zu erfüllen.

Hinweis: Diese Kritik enthält keine konkreten Spoiler zu Gattaca. Allein im vorletzten Absatz, »Zur Position des Films«, wird ein Hinweis darauf gegeben, in welche Richtung das Filmende tendiert.  Aktuelle legale Streamingangebote gibt’s wie gehabt bei JustWatch.

Totale: Gattaca im Zusammenhang

Historischer Kontext

Manche Filme kommen also ins Kino, um vom Tag ihrer Veröffentlichung an immer aktueller zu werden. Manche über die Jahre – das Zukunftsszenario aus Her (2013) von Spike Jonze nähert sich rasant unserer alltäglichen Realität. Andere über die Jahrzehnte. Als Gattaca im Jahr 1997 in die amerikanischen Lichtspielhäuser kam, floppte er an den Kinokassen. Obwohl von Kritiker*innen unmittelbar gut aufgenommen, brauchte es seine Zeit. Bis sein Thema für ein immer breiteres Publikum eine immer größere Toleranz bekam. Heute, 20 Jahre nach seinem Kinostart in Deutschland, genießt der Film Gattaca einen gewissen Kultstatus.

Inzwischen leben wir in einer Zeit, da die Kreation von Designer-Babys keine Frage des »Ob«, kaum einmal mehr des »Wann« ist. Sondern nur noch die »Wie genau«. Und die ethischen Bedenken, von denen es jetzt noch abhängt, haben den Menschen in seiner Geschichte auf lange Sicht noch nie am Fortschritt gehindert.

Weil […] Alter und Tod die Folge von nichts anderem als eben spezifischen Problemen sind (Organversagen etc.), gibt es keinen Punkt, an dem Ärzt*innen und Forscher*innen aufhören und erklären: »Bis hierher und keinen Schritt weiter. Wir haben die Tuberkulose und den Krebs besiegt, aber wir werden keinen Finger krümmen, um Alzheimer zu bekämpfen. Die Menschen können weiterhin daran sterben.« | Yuval Noah Harari, Homo Deus

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spreche nicht davon, die Menschen hätten ein »Recht auf Leben bis ins Alter von 90 Jahren.«

Sie spricht davon, der Mensch habe ein Recht auf Leben. Punkt. Dieses Recht hat kein Verfallsdatum. | s.o.

Persönlicher Kontext

Mag sein, dass ich zu viel Harari und Haraway gelesen habe oder meine Vorstellungen von Dataismus und Transhumanismus naiv sind. Selbst beim Betrachten eines Films wie Gattaca spüre ich eine angenehme Aufregung im Anbetracht des Potentials, das solch gentechnologischer Fortschritt entfesselt. Unsere Ängste und Sorgen machen Sinn in dieser Übergangsphase, die vielleicht noch 100 Jahre dauern mag (und somit die Lebenszeit von uns und unseren unmittelbaren Nachkommen umfasst) – da wird es gesellschaftliche Konflikte und ethische Verwerfungen geben. Ungerechtigkeiten ohne Ende – aber wenn wir zurückschauen, sehen wir denn ihren Anfang?

Ungerechtigkeit (und damit: Ungleichheit) haben das Leben immer begleitet. Wenn überhaupt, dann stecken in den gentechnologischen Fortschritten die Möglichkeiten, Ungleichheit zu überwinden. Ob das gut oder schlecht ist, steht als Frage nicht wirklich zur Diskussion, sondern eher als abzuwartende Aussicht im Raum, die von jedem Standpunkt zu jeder Zeit unterschiedlich erscheinen wird.

Close-up: Gattaca im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Betrachte das Werk Gottes; wer kann begradigen, was er krumm gemacht hat? | Buch Kolehet 7,13

Ich glaube nicht nur, dass wir an Mutter Natur herumpfuschen werden. Sondern ich glaube auch, dass die Mutter es will. | Willard Gaylin, Gründer des bioethischen Recherche-Instituts The Hastings Center

Mit diesen beiden Zitaten beginnt Gattaca und schlägt damit noch vor seinem ersten Bild den Bogen über 2000 Jahre Entwicklungsgeschichte des Menschen: Von der gefühlten Ohnmacht, die in der Antike (das Buch Kolehet stammt aus dem 3. Jahrhundert vor Christus) wie zu jeder Zeit davor und lange danach im ehrfürchtigen Glauben ans Übermächtige mündete, bis in das Zeitalter, da der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Aus dem simplen Grund, dass Homo Sapiens es jetzt kann. Die Macht und damit des göttlichen wichtigste Eigenschaft – wenn nicht das Göttliche an sich – hat auf des Menschen Seite gewechselt. Homo Deus.

Die Essenz unserer Gene

Das erste Bild ist tiefblau, erinnert an einen Nachthimmel, den Blick ins Weltall – bis Fingernägel fallen und sich die Einstellung als Detailaufnahme entpuppt. In großformatigen Zeitlupenbildern sehen wir die frisch geschnittenen Fingernägel fallen, dann Haare, wuchtig wie gefällte Bäume. Dazu werden die Vorspanntitel eingeblendet, wobei bei den Namen der Schauspieler*innen gewisse Buchstaben hervorgehoben werden: A, C, G, T. Das sind Abkürzungen für Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, die vier Nukleinbasen, aus denen sich DNA zusammensetzt. In der menschlichen DNA kann sich eine bestimmte Abfolge dieser Basen besonders häufig wiederfinden lassen: GATTACA.

Als der Titel sich aus dem Nachtblau abhebt, setzt auch der epische Gänsehaut-Score von Michael Nyman ein. Mal reinhören? Here you go:

Gattaca geht so tief, wie ein Film nur gehen kann. […] Gibt es etwa eine perfektere Eröffnungssequenz? Das Abschaben des Körpers, seltsam, schauderlich und wunderschön. Hautpartikel wie Schnee, Haar wie fallende Zedern und Follikeln, die sich in einer Helix kräuseln. […] Diesen Film kann man über eine Lebensspanne immer wieder sehen, denke ich, und immer tiefer eintauchen. | Remy Wilkins mit Joshua Gibbs, in einer ausführlichen Diskussion über den Film Gattaca (aus dem Englischen übersetzt)

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Im Vorspann werden mit präziser Bildsprache die Vorbereitungs-Maßnahmen der Hauptfigur Gerome (Ethan Hawke) gezeigt, bevor sie morgens ihr Haus verlässt und zur Arbeit geht. Witziger Kontrast: Diese Maßnahmen bestehen unter anderem darin, dass sich Gerome einen falschen Fingerabdruck samt winzigem Blutpolster aufklebt. Denn beim Betreten der Arbeitsstelle wird eben keine Karte mehr in einen Schlitz gesteckt, sondern der Finger für einen DNA-Check ausgestreckt. Und dann nimmt Gerome an einem Computer Platz, dessen Tastatur-Tasten immer noch so säulenartig hoch hervorstehen, wie bei unseren klotzartigen PCs der Jahrtausendwende. Bemerkenswert, wie man scheinbar simple Ideen wie flache Tastatur so Vordenker*innen, wie sie definitiv hinter Gattaca stehen, nicht gekommen sind.

Doch von solchem Detail-Kram mal abgesehen liegt eine große Kunst darin, ohne gesprochenes Wort einen Charakter und sein Problem zu etablieren und eine Atmosphäre der Bedrohung aufzubauen, die den gesamten Film über gehalten wird. Auch nach 20 Jahren des Wandels, im Bereich der Gentechnologie, sowie hinsichtlich unserer Sehgewohnheiten, ist Gattaca ein Film geblieben, der die Zuschauer*innen zu packen weiß. Vielleicht heute mehr denn je, angesichts der zunehmenden Lebensnähe.

Vor knapp 10 Jahren hat der renommierte Filmkritiker A. O. Scott (The New York Times) sich dem Film im Rahmen eines Critics‘ Picks noch einmal aus Sicht der später Nuller Jahre angenommen. Hier zu sehen (in englischer Sprache):

Zur Position des Films

In dem Buch Angewandte Ethik und Film (2018) wird die Position des Films von Thomas Laubach als eindeutig auf Seiten der »Gotteskinder« beschrieben.

[Gattaca] ergreift Partei für die Unterprivilegierten, die in der grausam-schönen neuen Welt der genetischen Selektion scheinbar keine Chance und keine Perspektiven haben. Am Schluss, so lässt sich Gattaca zusammenfassen, triumphiert der autonome, willensstarke Mensch, und nicht das, was andere aus ihm machen wollen oder wozu sie ihn bestimmen. | S. 70

Fazit zu Gattaca

Ja, dieser Film der späten 90er Jahre zeichnet die Welt der Genmanipulation als beklemmende Sackgasse für alle Unperfekten. Ein abschreckendes Bild für uns schrecklich unperfekten Menschen des frühen 21. Jahrhunderts. All die gentechnologischen Entwicklungen unserer Zeit werden in Gattaca darin gezeigt, wo und wie sie Grenzen setzen, Wege versperren, Leben bedrohen. Man darf, während man einen solch fantastischen, dystopischen, rundum gelungenen Thriller wie Gattaca sieht, aber nicht vergessen, dass diese Entwicklungen auch eine andere Seite haben. Die Seite der Möglichkeiten, die diese Entwicklungen überhaupt erst anspornen und vorantreiben.


Weitere Filmkritiken:

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