Mensch – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de Kinderbücher, Kinofilme und mehr! Thu, 04 Oct 2018 10:18:48 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 http://www.blogvombleiben.de/wp-content/uploads/2017/03/Website-Icon-dark.png?fit=32,32 Mensch – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de 32 32 138411988 PHOTOKINA 2018 mit Laura Zalenga, Shawn Bu & Co. http://www.blogvombleiben.de/photokina-2018/ http://www.blogvombleiben.de/photokina-2018/#respond Sat, 29 Sep 2018 07:00:25 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5581 Die Revolution begann genau hier. Das hat der britische Filmemacher und Digital-Video-Trainer Philip Bloom vergessen zu…

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Die Revolution begann genau hier. Das hat der britische Filmemacher und Digital-Video-Trainer Philip Bloom vergessen zu erwähnen, als er die Frage ans Publikum richtete: Wann kam die erste video-fähige DSLR-Kamera heraus und brachte die DSLR-Revolution ins Rollen? Gemeint war die Nikon D90, eine klassische Spiegelreflex-Kamera mit der Funktion, Filme zu drehen. Ganze 10 Jahre ist es her, dass dieser Komet einschlug. Vorgestellt wurde die Nikon D90 der Öffentlichkeit 2008 eben dort, wo Bloom am Freitag, 28. September sprach. Auf der photokina 2018 in Köln, der internationalen Leitmesse für Fotografie – hier ein paar Eindrücke.

Mensch, Technik!

Ein paar Eindrücke wohlgemerkt, die ich aus der Not heraus mit dem Smartphone festgehalten habe… apropos:

Eine andere Revolution war es rückblickend, gegen den jener Komet im Jahr 2008 wie ein Hagelkorn wirkt. Pünktlich zur Jahrtausendwende kam das erste Handy mit integrierter Kamera auf den Markt. Diese Innovation entfaltet ihre volle Wucht erst seit einigen Jahren – nicht nur unter Menschen mit Film und Fotografie als Hobby, sondern sämtliche Smartphone-Nutzer*innen betreffend (= ziemlich viele). Das hat einen massiven Rückgang im Verkauf digitaler Kameras zur Folge und sorgt für Druck auf die Herstellerfirmen. Sie müssen abliefern, beeindrucken, Aufmerksamkeit heischen. 2018 soll vorerst das letzte Mal gewesen sein, in dem die photokina im 2-Jahres-Turnus die Fachwelt auf einem Fleck versammelt. Denn schon 2019 findet sie wieder statt – und fortan jährlich, so der Plan.

Models und Fotograf*innen auf der photokina 2018 in Köln
Models und Fotograf*innen auf der photokina 2018 in Köln

Totale: Die photokina im Zusammenhang

Historischer Kontext

In der Anfangszeit wurde die photokina noch unregelmäßig abgehalten – zum ersten Mal im Jahr 1950. Ursprünglich initiiert von Bruno Uhl, dem Präsidenten des Fotoverbandes, im Rahmen der »Bilderschauen«. So der Titel einer Foto-Ausstellung, die der Sammler und Publizist Leo Fritz Gruber viele Jahre lang kuratierte.

Neben den technischen Innovationen der Photoindustrie wurden in den Bilderschauen die kulturellen und gesellschaftlichen Leistungen des Bildmediums herausgestellt.

Deutsche Gesellschaft für Photographie e.V., in: Photokina – The Early Years 1950-1956

Diese Bilderschau erreichte zwischenzeitlich Rekordgröße, oder vielmehr: Rekordlänge. Vom Messegelände aus erstreckte sich die Bilderschau im Jahr 1988 über 1.300 Meter bis hin zum Museum Ludwig in Köln. Das reichte fürs Guinness-Buch der Rekorde. Um die Kölner Bevölkerung dann 20 Jahre später fotografisch verstärkt zu mobilisieren, ließ sich die Stadt Köln einiges einfallen.

Im September 2008 waren alle Besucher der Stadt eingeladen, sich mit dem Thema Bild zu beschäftigen oder selbst fotografisch aktiv zu werden. Der Erfolg gab den Veranstaltern recht: Nahezu alle in Kooperation mit Kölner Unternehmen und Institutionen durchgeführten Workshops, Foto-Shootings, Foto-Stadtführungen waren ausgebucht, die vielen Fotoausstellungen sehr gut besucht.

Photoindustrie-Verband, via Prophoto: 175 Jahre Fotografie – Geschichte der photokina

Hinweis: Eine ausführliche Chronik zur photokina in Köln findet sich auf der Website der Prophoto GmbH. 

Persönlicher Kontext

2008 war zufällig auch das Jahr, seit dem ich erstmals zur Kölner Bevölkerung zählte. In den ersten Monaten meines Köln-Kapitels schrieb ich eine Kolumne für die Tageszeitung meiner Heimatstadt, nach dem Motto »Landei trifft Großstadt«. Im Rahmen dieser Kolumne besuchte ich 2008 zum ersten Mal die photokina.

Zu der Zeit war ich schon angefixt in Sachen Filmemachen und besonders beeindruckt von den fetten DV-Camcordern, die Canon und Co vorstellten. High Definition Video war da gerade im Kommen, 4K noch ganz fern (möchte sagen: unscharf) am Horizont. Von besagter Revolution, der ersten video-fähigen DSLR-Kamera Nikon D90, bekam ich leider nix mit. Stattdessen knipste ich noch fröhlich mit meiner Nikon D50 herum und probierte erstmals eine Hasselblad aus dem H-System aus.

Impression von der photokina 2008:

Close-up: Die photokina 2018 im Fokus

Erster Eindruck 

Nach einem morgendlichen Filmemacher-Plausch im Kaffeesapiens marschierte ich am Freitag also bis Oberkante Unterlippe voll mit Koffein vom Charles-de-Gaulle-Platz rüber zum Haupteingang des Kölner Messegeländes. Lange nicht mehr dort gewesen, war mein erster Eindruck: Köln, ey, geht’s noch? Von dem gigantischen Bauprojekt MesseCity hatte ich bis dato nichts mitgekriegt. Soll mal richtig schön werden. Irgendwann. Gegenwärtig schlängelt man sich an einem Bauzaun entlang aufs Messegelände.

Auf Einladung von Canon überhaupt zur photokina 2018 gekommen, steuerte ich erst einmal pflichtbewusst deren Stand an – und landete mitten im Vortrag von Nicolai Brix, der seinen Weg von der Fotografie zur Filmerei schilderte. Damit sprach der Kameramann quasi zur direkten Zielgruppe, die Canon für sein neues spiegelloses Vollformat-System begeistern möchte, Canon EOS R. Auf der photokina konnte man die neue Kamera erstmals unter die Lupe nehmen. Doch in mir pumpt zu wenig Early-Adopter-Blut, als dass ich da hinterher war. Interessanter schien mir die Ausstellung zur abgerockten Canon-Ausrüstung gestandener Fotograf*innen in verschiedensten Gefilden. Von Vogelfotografie in der tiefsten Wildnis bis zur Sportfotografie am Spielfeldrand.

Shawn Bu behind the Scenes

Einziger fester »Termin« der photokina 2018 war für mich der Vortrag von Shawn Bu auf der Motion Stage. Den wollte ich gezielt sehen. Gerichtet an »die nächste Generation von Filmemachern«, tatsächlich aber vor einem erstaunlich grauhaarigen Publikum. (Und ja, ich hab selbst erste graue Härchen, aber ich zählte trotzdem zu den Jüngeren dort.) Shawn gab Einblicke in den Produktionsprozess einiger Projekte, die er in vergangenen Jahren mit verschiedenen Teams so umgesetzt hat. Am bekanntesten ist davon wohl Darth Maul: Apprentice (2016), mit inzwischen über 17,5 Millionen Views auf YouTube.

Während ich immer gerne predige, man solle sich Grenzen abstecken und innerhalb dieser (finanziellen oder sonstigen) Grenzen die eigene Kreativität austoben, war Shawns erste Ansage:

Setzt euch keine Grenzen.

ShAwn Bu

Massiv inspiriert vom George-Lucas-Universum hat der 32-jährige Filmemacher den eigentlichen Reiz am Medium voll verinnerlicht: Man kann eben alles möglich machen. Mit mehr oder weniger Aufwand. Genau wie die kreativen Köpfe hinter der Webserie Wishlist (2016-2018) ist Shawn durch die »Autodidakten-Schule« gegangen und hat das DVD-Bonusmaterial unzähliger Filme studiert.

Gut vorbereitet an die Arbeit

Wichtigste Lektion an sein Publikum auf der photokina 2018: Vorbereitung ist alles. Er zeigte Moodboards und Planskizzen aus verschiedenen Vorproduktions-Stufen seiner Projekte und pochte auf reaktionsfreudige Gemüter. »Filmemachen besteht zu 90 Prozent aus dem Lösen von Problemen«, so Shawn. Sympathisch. Hier geht’s zur Website seiner neuen Produktionsfirma RAW MIND Pictures.

Aus Rückfragen aus dem Publikum, wie er sein Team und die Drehgenehmigungen bei vergleichsweise kleinem Budget zusammenbekomme, war die Antwort bestechend simpel: Einfach fragen, schlimmstenfalls ein »Nein« kassieren und woanders nochmals fragen. Es helfe ungemein, schon Visuelles zum Projekt vorzeigen zu können – und seien es nur erste Skizzen. Shawn nutzte dazu Kontakte zu künstlerisch begabten Kommilitoninnen aus seinem Kommunikationsdesign-Studium an der FH Aachen.

Bleibender Eindruck

Überraschendes Highlight war für mich ein Vortrag des eingangs erwähnten Philip Bloom, dem Digital-Video-Trainer, den wohl jede*r Vimeo-User*in mit ein wenig filmischen Ambitionen kennen dürfte – von den Philip Bloom Reviews & Tutorials. Gerade noch hatte ich auf dem Messestand der Fotografin Laura Zalenga bei der Arbeit zugesehen (hier geht’s zu ihrem beeindruckenden Portfolio), dann wurde der Filmemacher Philip Bloom plötzlich angekündigt.

Die Fotografin Laura Zalenga mit dem Model Nadine.
Die Fotografin Laura Zalenga mit dem Model Nadine.
Kameramann Philip Bloom auf der photokina 2018
Kameramann Philip Bloom auf der photokina 2018

Die Umbaupause zu seinem Vortrag überbrückte eine Schwertkampf-Choreographie mit dem Samurai-Künstler Tetsuro Shimaguchi (bekannt als »Miki« aus Quentin Tarantinos Kill Bill: Volume 1). Philip Bloom ließ schließlich die digitale Revolution in Sachen Video-DSLR seit 2008 Revue passieren und schilderte seine Arbeitsweise, stets mit konkretem Equipment-Bezug. So dankbar ich Canon für den kostenlosen Eintritt zur photokina 2018 bin – am Ende hat mich der Messestand von Sony doch am meisten beeindruckt. Seit 5 Jahren bin ich zufrieden mit meinen Canon-Kameras unterwegs, überwiegend im Filmbereich. Nach diesem Messebesuch allerdings möchte ich jedoch gerne mal ein wenig Erfahrung mit Sonys Alpha-Reihe sammeln.

Menschen und Momente

Aber was soll der Nerdkram hier? Technik ist schließlich nur das Mittel zum Zweck. Was vor der Linse steht, das zählt. Zwischen den Messehallen landete ich in einer Ausstellung zu dem Projekt Atlas of Humanity – eine Reihe von Porträts aus aller Welt, die mich ziemlich gefesselt haben. Wie wundersam Gesichter doch sind, dachte ich mal wieder, und wie sehr so ein fremdes Augenpaar einen in seinen Bann ziehen kann.

Atlas of Humanity auf der photokina 2018

Am Abend und zum Ausklang meines Besuchs der photokina 2018 wohnte ich noch der Preisverleihung des Deutschen Jugendfotopreis bei – veranstaltet vom Deutsches Kinder- und Jugendfilmzentrum, als Pendant zum Deutschen Jugendfilmpreis, der dieses Jahr in Hildesheim verliehen wurde. Hier geht’s zu den Preisträger*innen des Jugendfotopreises samt ihrer Arbeiten, die auf der photokina ausgezeichnet wurden. Vorweg betonte die Staatssekretärin Juliane Seifert in ihrer Ansprache die Begabung, die darin liege, besondere Blickwinkel einzunehmen oder Momente einzufangen. Ein schönes Schlusswort, eigentlich, für diese bildgewaltige Messe.

Staatssekretärin Juliane Seifert bei der Verleihung des Deutschen Jugendfotopreises
Staatssekretärin Juliane Seifert bei der Verleihung des Deutschen Jugendfotopreises
Cosplayerin auf der photokina 2018
Wir wundersamen Menschenwesen – hier eine Cosplayerin auf der photokina 2018

Fazit zur photokina 2018

Auf der photokina verschmelzen Mensch und Technik miteinander. Es ist faszinierend, wie urtümlichste Gesichter dieselben staunenden Blicke auf sich ziehen, wie der modernste Kamerakram. Natur und Kultur in perfekter Symbiose. Wie schade wäre es um all die Schönheit, ließe sie sich nicht festhalten, wie schauerhaft der Schrecken, wenn er völlig im Dunkeln läge? Bilder sind wichtig. Die photokina 2018 hat einmal mehr neue Möglichkeiten aufgezeigt, solche Bilder aufzuzeichnen – von kleinsten Action-Cams bis hin zu wuchtigen Kinokameras.

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EIN MANIFEST FÜR CYBORGS von Donna Haraway | Essay 1985 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/essay-ein-manifest-fuer-cyborgs-1985/ http://www.blogvombleiben.de/essay-ein-manifest-fuer-cyborgs-1985/#respond Thu, 13 Sep 2018 07:00:59 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5363 »Cyborg« steht für cybernetic organism, oder: kybernetischer Organismus. Kybernetik ist die Wissenschaft der Steuerung, sei es…

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»Cyborg« steht für cybernetic organism, oder: kybernetischer Organismus. Kybernetik ist die Wissenschaft der Steuerung, sei es von Maschinen oder Organismen. Gemeint ist mit »Cyborg« ein Wesen, das teils organisch, teils technisch ist. Im engsten Sinne werden Menschen mit künstlichen Körperteilen Cyborgs genannt. Im weitesten Sinne kann man alle Menschen, die mit Technik interagieren, unter Cyborgs fassen. Demnach uns alle, die wir seit der kognitiven Revolution vor rund 70.000 Jahren die Werkzeuge nutzen, die unser Leben bequemer machen. Insofern geht es scheint uns alle etwas an, wenn Donna Haraway Ein Manifest für Cyborgs schreibt. Selbst dann, wenn das schon über 30 Jahre her ist.

Fantastischer Widerstand

Doch der Schein trügt. Donna Haraways Manifest aus dem Jahr 1985 – Untertitel: Feminismus in Zeiten der Technowissenschaften – richtet sich nicht unbedingt an uns alle. Die Ewiggestrigen dürfen wie gehabt ihren Hobbys frönen, lasst euch nicht stören. Auch nach 30 Jahren ist Haraways prophezeite Welt aus Ein Manifest für Cyborgs noch nicht eingetreten. Obwohl wir der Sache spürbar näher kommen.

Der Begriff »Cyborg« wird in Ein Manifest für Cyborgs auf zweierlei Weise verwendet. Zum Einen für die technologisch-organischen Wesen, die Wissenschaft und Technologie seit Jahrzehnten hervorbringen. Eher als ihre willenlose Objekte, denn als eigensinnige Subjekte. Zum Anderen sind Cyborgs in der Postmoderne lebende Menschen wie die feministische Erzählfigur, die Haraway in Ein Manifest für Cyborgs auftreten lässt.

Wann immer mit »Cyborg« nicht jenes Wesen, sondern diese Erzählfigur gemeint ist, heißt es in der mir vorliegenden Übersetzung1 »die Cyborg«. Eine schöne Idee, die deutsche Sprache in all ihrer Präzision zur Geltung kommen zu lassen. (Zumal eben diese Präzision in Gender-Fragen meist eher für Unbehagen sorgt, bei dem oder der Anwender*in unserer allzu phallogozentrischen Sprache.)

Ich plädiere dafür, die Cyborg als eine Fiktion anzusehen, an der sich die Beschaffenheit unserer heutigen gesellschaftlichen und körperlichen Realität ablesen läßt. | S. 342

3 Grenzen brechen zusammen

Donna Haraways Cyborg-Mythos handelt »von überschrittenen Grenzen, machtvollen Verschmelzungen und gefährlichen Möglichkeiten, die fortschrittliche Menschen als einen Teil notwendiger politischer Arbeit erkunden sollten« (S. 39). Sie beginnt ihr Essay Ein Manifest für Cyborgs mit der Erläuterung von 3 Grenzziehungen und deren Zusammenbrüchen im 20. Jahrhundert. Es geht um die Grenzen zwischen:

  • Mensch und Tier
  • Tier-Mensch (Organismus) und Maschine
  • Physikalischem und Nicht-Physikalischem
Affinität statt Identität

Ein Manifest für Cyborgs kritisiert traditionelle Vorstellungen des Feminismus, vor allem den feministischen Fokus auf Identitätspolitik (mehr dazu im Abschnitt »Donna Haraways Kritik am Feminismus«). Stattdessen ermuntert Haraway unter der Parole »Affinität statt Identität« (S. 41) zu einer Koalition von Wesensverwandten. Affinität steht hier für eine Beziehung auf Grundlage einer Wahl, nicht etwa einer Verwandtschaft. Insofern nutzt Haraway das Bild von »einer Cyborg«, um Feministinnen über den Horizont herkömmlicher Ideen von Gender-Fragen, Feminismus und Politik schauen zu lassen.

Hinweis: Ein Manifest für Cyborgs ist hier im Original nachzulesen (A Cyborg Manifesto, PDF). Die deutsche Fassung ist – in Auszügen – hier nachzulesen.

Die Maske des Maschinenmensch, dazu der Text: Ein Manifest für Cyborgs

Das Ergebnis von Donna Haraway ist ein virtuoses Essay über die Chancen und Risiken in Zeiten des Umbruchs. Ein Manifest für Cyborgs gilt in Sachen Theorienbildung als Meilenstein des posthumanistischen Feminismus.3 Ehe wir einen näheren Blick auf das Werk werfen, erst einmal zur Person: Wer ist eigentlich Donna Haraway?

Regalfach: Das Manifest im Zusammenhang

Historischer Kontext

Fragt man Donna Haraway selbst nach ihrem historischen Kontext, verortet sie sich, pragmatisch und präzise, »in einem weißen, weiblichen, radikalen, nordamerikanischen Körper der berufstätigen Mittelschicht mittleren Alters« (S. 41).

Ich bin mir der merkwürdigen Perspektive, die sich aus meiner historischen Situation ergibt, bewußt. Die Promotion in Biologie eines irisch-katholischen Mädchens wurde durch die Auswirkungen des Sputnikschocks auf das US-amerikanische Bildungssystem ermöglicht. | S. 60

Ein Mädchen für Amerika

Der Sputnikschock, darunter fasst man die Reaktionen der überrumpelten USA und Westeuropa auf den Start von Sputnik 1. Unter diesem Namen schoss die Sowjetunion den ersten künstlichen Erdsatelliten ins All – am 4. Oktober 1957. In Folge dessen wurde ein Bewusstsein dafür wach, verborgenes Potential in der Bevölkerung besser anzuzapfen. Selbst dann, wenn es gerade nicht in weißen, männlichen Köpfen schlummerte. Da war Donna, jenes irisch-katholische Mädchen, 13 Jahre alt und entwickelte gerade ihre »verkorkste Denkweise« (»screwed up mind«). So beschreibt sie es in diesem Video sehr schön, samt Einblick in ihre – wie gehabt: pragmatische – Arbeitsweise.

Hinweis: Bei diesem Video handelt es sich um einen Ausschnitt aus der Dokumentation Donna Haraway: Story Telling for Earthly Survival (2016) von Fabrizio Terranova. Der Film läuft am 30. September 2018 auf dem LUSTSTREIFEN queer film festival in Basel (Schweiz) und am 6. November 2018 in der University of Fine Arts in Linz (Österreich). 

Mein Körper und Geist sind gleichermaßen ein Produkt des Wettrüstens nach dem Zweiten Weltkrieg, des Kalten Kriegs und der Frauenbewegung. Ich halte es allerdings für aussichtsreicher, die widersprüchlichen Effekte einer Politik zu bedenken, die zwar dazu bestimmt war, loyale, amerikanische TechnokratInnen hervorzubringen, dabei aber gleichzeitig eine große Zahl von DissidentInnen in die Welt gesetzt hat, als sich in der Betrachtung gegenwärtiger Niederlagen zu verlieren. | S. 61

Ein Manifest für Sozialist*innen

Mit dem Schreiben von Ein Manifest für Cyborgs begann Donna Haraway im Jahr 1983. Es war eine Reaktion auf einen Aufruf des Kulturmagazins Socialist Review an amerikanische Feminist*innen. Diese sollten über die Zukunft des sozialistischen Feminismus nachsinnen – im Kontext der frühen Reagan-Ära und dem Rückgang linksgerichteter Politiker*innen. Doch dem Socialist Review war das Essay von Donna Haraway – das in seiner ursprünglichen Fassung einen stärkeren sozialistischen Einschlag hatte – zunächst zu kontrovers.

Veröffentlicht wurde Ein Manifest für Cyborgs letztendlich erst im Jahr 1985. Dem Todesjahr von Orson Welles, dem Veröffentlichungsjahr von Claude Lanzmanns Shoah und dem Oscar-Jahr von Amadeus. Ach, und apropos Filme: 1985 kam auch Zurück in die Zukunft in die Kinos. Einfach mal im Hinterkopf behalten, wenn es gleich um die weitsichtigen Zukunftsgedanken von Donna Haraway geht.

Persönlicher Kontext

Für meine mündliche Prüfung in Philosophie (Modul P3) – im Rahmen meines Studiums der Kulturwissenschaften an der Fernuniversität in Hagen – durfte ich aus einer Liste diverser Fachliteratur mit thematischem Bezug zum Modul insgesamt 3 Bücher auswählen. Diese 3 Bücher sollten für die Prüfung soweit aufbereitet werden, dass man zu den Inhalten Rede und Antwort stehen kann, im Rahmen eines »philosophischen Gesprächs« (ähnlich wie die philosophischen Gespräche aus Die wilden Siebziger, wann immer bei den Teens der Joint rumgeht – nur halt ohne Gras und nicht im Keller).

Ich habe, neben Helmuth Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) und Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter (1990) also das Buch Die Neuerfindung der Natur (1995) von Donna Haraway ausgewählt. Darin enthalten ist eben dieses Essay, Ein Manisfest für Cyborgs. Bei der Auswahl hatte ich natürlich keine Ahnung, was ich eigentlich tat. Es war eine klassische Ene-mene-Entscheidung, wie sie sich bei wichtigen Lebensfragen bewährt hat. Und siehe da: So kommt es, dass ich Donna Haraway kennengelernt habe! Was für ein tolle Storytellerin!

Unsere besten Maschinen sind aus Sonnenschein gemacht.

Donna Haraway über Solar-Energie

Leselupe: Das Manifest im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Essays

Donna Haraways Ein Manifest für Cyborgs (1985) war der erste viel-rezipierte akademische Text, der die philosophischen und soziologischen Auswirkungen von Cyborgs erkundete. Eine Interessengruppe innerhalb der American Anthropological Association (AAA) präsentierte auf deren Jahrestreffen 1992 ein Dokument mit dem Titel Cyborg Anthropology, das auf Haraways Manifest Bezug nahm. Diese Gruppe begründete die »Cyborg Anthropologie« unter anderem als die Untersuchung der Definitionen von »Menschlichkeit« in Relation zu Maschinen.

Enzyklopädie und mehr: Über diesen Link geht es zum englischen Wikipedia-Beitrag über Cyborg Anthropology, aus dem einige der hier zusammengefassten Informationen bezogen sind. Mehr über philosophische Anthropologie und die Frage »Was ist der Mensch?« gibt es in diesem Blogbeitrag.

Cyborg-Anthropologie in Zeiten des Posthumanismus

Die grundlegendste Definition von Anthropologie an sich ist die »Lehre vom Menschen«. Cyborgs sind jedoch, per definitionem, etwas nicht komplett organisch Menschliches. Insofern könnte eine »Lehre vom Menschen«, die sich auf den organischen Menschen allein beschränkt, ins Rudern geraten, je mehr die Technologie den Menschen erlaubt, über die »normalen Bedingungen des Lebens« hinaus zu transzendieren. Die Aussicht auf wer-weiß-wie-geartete posthumane Zustände stellt die Natur und Notwendigkeit eines Feldes wie Anthropologie mit einem versteiften Fokus auf Menschen in Frage.

Wo fängt Posthumanismus an? Die Techno-Soziologin Zeynep Tufekci argumentiert, dass jegliche symbolische Ausdrucksweisen unsererseits, selbst älteste Höhlenmalereien, als »posthuman« betrachtet werden können, weil sie »außerhalb« unserer Körper existieren. Dies bedeutet, dass Anthropologie immer auch Posthumanismus war, sofern sie über die menschliche Physis hinausreichte. 

Neil L. Whitehead und Michael Wesch weisen darauf hin, dass die Sorge, der Posthumanismus könne den Menschen aus dem Fokus der Anthropologie rücken, vernachlässigt, dass in der Geschichte der anthropologischen Disziplin, nicht-Menschliches (wie Geister, an welche die Menschen glauben) immer eine Rolle spielte.4 (siehe: das Buch Humans No More?)

Ähnlich sieht es Joshua Wells, der etwa betont, dass technologisch kommunizierte Werte die conditio humana immer begleitet haben. Siehe:  Keep Calm and Remain Human: How We Have Always Been Cyborgs and Theories on the Technological Present of Anthropology.

2 Blickwinkel auf das Cyborg-Universum

In der Ausgangslage kann man dem Aufstieg der Cyborgs nun eher pessimistisch oder zuversichtlich entgegensehen – so heißt es in Ein Manifest für Cyborgs.

Blickwinkel 1: Das Cyborg-Universum könnte dem Planeten ein endgültiges Koordinatensystem der Kontrolle aufzwingen, verkörpert in der Apokalypse eines im Namen der Verteidigung geführten Kriegs der Sterne – die restlose Aneignung der Körper der Frauen in einer männlichen Orgie des Kriegs.

Blickwinkel 2: Das Cyborg-Universum könnte eine gelebte soziale und körperliche Wirklichkeit bedeuten, in der niemand mehr seine Verbundenheit und Nähe zu seiner evolutionären Herkunft zu fürchten braucht und vor dauerhaft partiellen Identitäten und widersprüchlichen Positionen zurückschrecken muß.

Beide Blickwinkel gilt es einzunehmen, um die politischen Debatten und Kämpfe zu antizipieren, die uns bevorstehen. Denn beide Blickwinkel machen »sowohl Herrschaftsverhältnisse als auch Möglichkeiten sichtbar, die aus der jeweils anderen Perspektive unvorstellbar sind. Einäugigkeit führt zu schlimmeren Täuschungen als Doppelsichtigkeit oder medusenhäuptige Monstren« (S. 40).

Donna Haraways Ein Manifest für Cyborgs will zweierlei sein:

  • ein Plädoyer dafür, die Verwischung der Grenzen zwischen Organismus und Maschine zu genießen und Verantwortung bei ihrer Konstruktion zu übernehmen
  • ein Versuch, zu einer sozialistisch-feministischen Kultur und Theorie in postmoderner, nicht-naturalistischer Weise beizutragen
Dualismen in der westlichen Welt

Haraway hebt den problematischen Status westlicher Traditionen wie etwa Patriarchalismus, Kolonialismus, Essentialismus und Szientismus hervor (»und anderen -ismen, denen wir keine Träne nachweinen«, S. 42). Solcherlei Traditionen seien unter anderem verantwortlich für das, was Haraway als »antagonistische Dualismen« bezeichnet, die den westlichen Diskurs steuern.

Diese Dualismen, stellt Haraway klar, »haben sich in der westlichen Tradition hartnäckig durchgehalten, sie waren systematischer Bestandteil der Logiken und Praktiken der Herrschaft über Frauen, farbige Menschen, Natur, Arbeiterinnen, Tiere – kurz, der Herrschaft über all jene, die als Andere konstituiert werden und deren Funktion es ist, Spiegel des Selbst zu sein.« (S. 67) Die aufkommende High-Tech-Kultur könnte derartige Dualismen nun in ihren Grundfesten erschüttern. Dualismen wie:

  • Das Selbst und das Andere
  • Geist und Körper
  • Kultur und Natur
  • Mann und Frau
  • zivilisiert und primitiv
  • aktiv und passiv
  • richtig und falsch
  • Gott und Mensch

Ich möchte zeigen, daß wir, in dem gerade im Entstehen begriffenen System einer Weltordnung – die hinsichtlich ihrer Neuheit und Reichweite dem Aufkommen des industriellen Kapitalismus analog ist – darauf angewiesen sind, unsere Politik an den fundamentalen Veränderungen von Klasse, Rasse und Gender zu orientieren.  Wir leben im Übergang von einer organischen Industriegesellschaft in ein polymorphes Informationssystem […] | S. 48

Paradigmatische Verschiebungen

In einem Abschnitt führt Donna Haraway tabellarisch auf, wie sich die Gegenstände unserer Welt im Zuge dieses Übergang verschieben – hin zu einem neuen Weltbild. Dabei sind (für mich) viele Punkte nicht auf Anhieb einleuchtend und bedürfen einiges Grübelns. Man bedenke immer: Ein Manifest für Cyborgs stammt aus den 1980er Jahren. Hier eine Auswahl der paradigmatischen Verschiebungen vom War-/Ist-Zustand zum Wird-/Ist-Zustand:

RepräsentationSimulation
Bürgerlicher Roman, RealismusScience Fiction, Postmoderne
OrganismusBiotische Komponente
PerfektionierungOptimierung
EugenikGeburtenkontrolle
Dekadenz, Der ZauberbergObsoleszenz, Der Zukunftsschock
Familie / Markt / FabrikFrauen im integrierten Schaltkreis
FreudLacan
Sexualität / FortpflanzungGentechnologie
LohnarbeitRobotik
GeistKünstliche Intelligenz
Weißes kapitalistisches PatriarchatInformatik der Herrschaft

[Tabelle von S. 48-49]

Sexuelle Fortpflanzung ist nur eine Reproduktionsstrategie unter vielen, deren Kosten und Nutzen eine Funktion der Systemumwelt sind. | S. 49

Donna Haraway weist darauf hin, dass »gerade Playboyleser aus dem mittleren Management und radikalfeministische Pornographiegegnerinnen« ein eigenartiges Gespann (»strange bedfellows«) darin bilden werden, dass sie eine natürliche oder notwendige Verknüpfung von Sex und Fortpflanzung als irrational betrachten.

Vom Feind im eigenen Bett

An der »Super-Inklusivität« einer Autorin, die derartige »Bettpartner*innen« in einer amüsanten Randnotiz mit ins Boot holt, kann man sich stoßen. Das zeigt etwa die amerikanische Englisch-Professorin Christina Crosby.

Ich sehe die Logik – und die Ironie – von dieser Allianz, aber ich will eine Politik der Exklusion ebenso, wie eine der Inklusion. Eine Politik, die mich befähigt zu sagen, dass die Porno-Industrie im Allgemeinen, so wie sie aktuell besteht, und Playboy im Speziellen (wer auch immer die Leser sind) die (wie soll ich es sagen?) Feinde sind. Das ist schrecklich harsch, in diesem Fall, ich weiß, aber das Prinzip ist wichtig. Wir brauchen ein Prinzip der Exklusion, das keine nostalgische Rückkehr zu den Klarheiten vergangener Dualitäten ist – die im Übrigen immer komplizierter waren, als es scheint.

Christina Crosby, in: Coming to Term (RLE Feminist Theory): Feminism, Theory, Politics (1989), S. 208

In etwa so kompliziert, wie die Dualität von guten Absichten und schlechten Gewohnheiten. Oder um es mit Macklemore zu sagen:

I wanna be a feminist, but I’m still watchin‘ porno.

Macklemore, in: Intentions (2017)
»Wer auch immer die Leser sind« – da hätten wir diese beiden, zum Beispiel. Zeebo (Damon Wayans) und Wiploc (Jim Carrey) in dem Film Zebo, der Dritte aus der Sternenmitte (1989). Ähnlich unbekannt unter dem aus feministischer Sicht wohl eher bedenklichen Original-Titel Earth Girls Are Easy.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Essays

Haraways Theorie über Cyborgs weist die Vorstellung des Essentialismus zurück, dass bestimmte Wesenheiten notwendige Eigenschaften besitzen müssten. (Auch der Evolutionsbiologe Richard Dawkins schickt den Essentialismus in Rente, nur so am Rande.) Eine Welt voller Verschmelzungen von Tier/Mensch und Maschine ist es, für die Haraway ihre Leser*innenschaft letztlich begeistern will. In der konkreten, facettenreichen Ausgestaltung dieser Welt stecke ungeahntes Potential, altes Unrecht zu begleichen. Oder gar, wie sie schreibt: zu vergelten.

Das Gender der Cyborgs ist eine lokale Möglichkeit, die global Vergeltung üben wird. Rasse, Gender und Kapital bedürfen einer Cyborg-Theorie von Ganzheiten und Teilen. Cyborgs verspüren keinen Drang, eine umfassende Theorie zu produzieren, stattdessen verfügen sie über eine ausgeprägte Erfahrung der Begrenzung, ihrer Konstruktion und Dekonstruktion. Es gibt ein Mythensystem, das darauf wartet, eine politische Sprache zu werden, die eine andere Sichtweise auf Wissenschaft und Technologie begründet und die Informatik der Herrschaft zum Kampf herausfordert. | S. 70

Die Informatik der Herrschaft, siehe Haraways Tabelle, ist das, was nach der Verschiebung aus jenem weißen, kapitalistischen Patriarchat hervorgeht, das die Welt in starren Dualismen gefangen hält. 33 Jahre nach Haraways Essay ist der Sohn eines weißen Millionärs an der Spitze der größten Macht auf Erden – geradezu ein Sinnbild für das weiße, kapitalistische Patriarchat. Eigentlich.

Die Informatik der Herrschaft

Aber eigentlich auch nicht: Donald Trump in seiner strahlenden Inkompetenz als Präsident und als Komplettpaket der schlechtesten Eigenschaften des Menschen ist vielmehr ein Sinnbild dafür, dass der geisteskranke Raubaffe Homo sapiens ausgedient haben sollte. Zumindest als Machthaber über Millionen seiner Artgenossen. In Zeiten der Digitalisierung wird der künstlichen Intelligenz, die unser Weltwissen verknüpft und verfügbar macht, immer gerne vorgeworfen, dass  menschliche Gehirne trotzdem zu Höherem befähigt seien. Derweil twittert das Trumpeltier.

Mit diesem Tweet hat sich der amerikanische Präsident am 11. September vor wenigen Tagen an die Amerikaner*innen gewandt. Man muss dem notorischen Lügner natürlich allein dafür gratulieren, dass er sich an die Fakten hält. Aber es ist schon bemerkenswert, dass dieses Statement – statt von einem theoretisch der emotionalen Intelligenz fähigen Artgenossen – genauso gut von Siri hätte kommen können. Doch die Skepsis darüber, ob man Menschen über ihre natürliche Befähigung hinaus optimieren sollte, hält sich wacker. So las man im Dezember 2017 in DIE ZEIT, übrigens unter dem Titel Die Informatik der Herrschaft.

Heute wird der Mensch als Baukasten imaginiert, dessen Gesundheitscode man updaten und mit hochleistungsfähigen Nanobots und Computern zum Cyborg aufrüsten könne.

Adrian Lobe, in: Die Informatik der Herrschaft (DIE ZEIT), 29.12.2017

Dann wird Donna Haraway zitiert. Zwei Auszüge aus Ein Manifest für Cyborgs, insofern aus dem Kontext gerissen, als Haraways optimistische Sicht auf die Dinge dabei auf der Strecke bleibt. Der Artikel warnt vor »technodarwinistischen Herrschaftsansprüchen« und dass »der datengenerierende Körper […] im Internet der Dinge selbst zum Medium« wird. Eben Letzteres betrachtet Donna Haraway als ultimative Chance. Erst recht für die marginalisierten Minderheiten, wie sie ihrerzeit etwa die »Women of color« repräsentiert wurden. Als Cyborg-Identität, so Haraway, könnten diese »Women of color« als »machtvolle Verschmelzung aus marginalisierten Identitäten hervorgegangene Subjektivitität aufgefaßt werden«.

Moderne Mythologie

Und dann zieht Haraway die Science-Fiction-Literatur der »Women of color« heran. Sie stellt sie in Tradition mit Schriften der griechischen Mythologie wie Hesiods Theogonie.

Monster haben von jeher die Grenzen eines gemeinsamen sozialen Lebens in den Vorstellungen des Westens bestimmt. Die Zentauren und Amazonen des klassischen Griechenlands errichteten die Grenzen der auf ein Zentrum ausgerichteten Polis [Begriff für antike Stadtstaaten wie Athen] des griechischen Mannes, indem sie mit der Institution Ehe brachen und die Reinheit des Kriegers durch das Tier und die Frau befleckten. | S. 70

Spektakuläre Monstergeschichten und bildgewaltige Mythen haben sich, soweit wir es zurückverfolgen können, immer auch auf die gelebte Gegenwart ausgewirkt, in denen sie erzählt wurden. Der über Jahrhunderte tradierte Frauenhass wird begleitet von einer bruchlosen Kette literarischer Werke, die Misogynie manifestierten, rechtfertigen, weitertrugen. Geschichten sind ein starkes Machwerk des menschlichen Geistes. Sprache ist das Werkzeug, um solche Machwerke aufzubauen – und einzureißen.

Warum sollten nicht, statt griechischer Mythen über die »schadenbringende Frau« oder Hollywoodfilme über heldenhafte Männer, die Science-Fiction-Geschichten über eine weit vielgestaltigere Welt als die von »Frauen« und »Männern« einen ähnlich starken Einfluss auf die Wirklichkeit haben?

Die feministische Science Fiction ist bevölkert von Cyborgs, die den Status
von Mann oder Frau, Mensch, Artefakt, Rassenzugehörigkeit, individueller Identität oder Körper sehr fragwürdig erscheinen lassen. […] Die Cyborg-Monster der feministischen Science Fiction definieren politische Möglichkeiten und Grenzen, die sich stark von den profanen Fiktionen „Mann“ und »Frau« unterscheiden. | S. 68, 71

Feministische Science Fiction

Hier eine kleine Liste feministischer Science-Fiction-Literatur zur Bestärkung der Thesen aus Ein Manifest für Cyborgs – auf Empfehlung von Donna Haraway.

  • Octavia Butler: Mind of my Mind / Der Seelenplan (1977), Survivor / Alanna (1978), Kindred / Vom gleichen Blut (1979), Wild Seed / Wilde Saat (1980); 
  • Suzy McKee Charnaz: Motherliness / Aldera und die Amazonen (1978)
  • Samuel Delany: Tales of Nevèrÿon / Das Land Nimmerya (1979)
  • Anne McCaffrey: The Shop Who Sang (1969); Dinosaur Planet (1978, 1984)
  • Vonda McIntyre: Dreamsnake (1978), Superluminal (1983) | Haraway kommentiert: »Vonda McIntyres Superluminal [ist] besonders reich an Grenzüberschreitungen.«
  • Joanna Russ: The Female Man / Planet der Frauen (1975); Adventures of Alyx / Die Abenteuer von Alyx (1976) 
  • James Tiptree, Jr.: Star Songs of an Old Primate / Sternenlieder eines alten Primaten (1978); Up the Walls of the World (1978) | Haraway kommentiert: »Das Werk von James Tiptree Jr. galt als besonders männlich, bis das wahre Gender der Autorin bekannt wurde [hinter dem Pseudonym verbirgt sich Alice Bradley Sheldon]. Sie erzählt Geschichten über die Reproduktionsweisen von Nicht-Säugern, die auf Technologien wie Generationswechsel, Bruttaschen der Männchen und Brutpflege durch die Männchen beruhen.«
  • John Varley: Titan, Wizard, Demon (Gaea Trilogy, 1979-1984) | Haraway kommentiert: »John Varley konstruiert in seiner hyperfeministischen Auslegung des Gaia-Mythos eine überragende Cyborg. Gaia ist verrückte Göttin, Planet, Trickster, alte Frau und Großtechnologie zugleich, auf deren Oberfläche sich eine außergewöhnliche Ansammlung von Post-Cyborg-Symbiosen ausbreitet.« [Gaia ist auch in der griechischen Mythologie, wie sie Hesiod niederschrieb, als die »personifizierte Erde« eine der ersten Gottheiten]
Gegen die Neue Rechte

Die Metaphorik der Cyborgs kann uns einen Weg aus dem Labyrinth der Dualismen weisen, in dem wir uns unsere Körper und Werkzeuge erklärt haben. Dies ist kein Traum einer gemeinsamen Sprache, sondern einer mächtigen, ungläubigen Vielzüngigkeit. Es ist eine mögliche Imagination einer Feministin, die in Zungen redet und dabei scharfzüngig genug ist, den Schaltkreisen der Super-Retter der Neuen Rechten Angst einzuflößen. | S. 72

Die »Super-Retter der Neuen Rechten« waren Mitte der 1980er Jahre – gemäß der damaligen Möglichkeiten, sich mitzuteilen – so lautstark, wie sie es heute sind. Ich finde die Idee, den engstirnigen Vertreter*innen dieser Neuen Rechten ein buntes Universum an Wesenheiten entgegenzuwerfen, ziemlich großartig. Ein fantastischer Widerstand!

Donna Haraways Kritik am Feminismus

Haraway stößt sich an einigen traditionellen Feministinnen. Deren Sichtweisen operierten unter der verallgemeinernden Annahme, dass alle »Männer« auf eine Weise seien, und alle »Frauen« auf eine andere. Eine »Cyborg-Theorie von Ganzheiten und Teilen« strebe hingegen nicht danach, Dinge in einer totalen Theorie zu erklären. Haraway deutet an, dass Feministinnen über Naturalismus und Essentialismus hinausdenken sollten.

Sie kritisiert feministische Taktiken als »Identitätspolitik«, die alle Ausgeschlossenen opfert. Besser wäre es, so Haraway, Identitäten strategisch durcheinanderzubringen – und kommt damit zu demselben Schluß, den auch Judith Butler in Das Unbehagen der Geschlechter (1990) vorschlägt, um an Gender-Stereotypen zu rütteln. 

Haraways Kritik richtet sich hauptsächlich gegen sozialistischen und radikalen Feminismus. Der sozialistischer Feminismus führe nicht zurück zu einem natürlicheren Zustand, sondern bilde eine zuvor nicht existierende Einheit, namentlich die der »Arbeiterinnen«. Der radikale Feminismus einer Catherine MacKinnon beschreibe Frauen als sozial konstruiert innerhalb der patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen – »Frauen« existierten nur, weil Männer sie existierend gemacht haben. Die Frau als »Selbst« existiere nicht. 

Da ich bereits gegen sozialistische/marxistische Standpunkte eingewendet habe, daß sie die in antikolonialen Diskursen und Praktiken sichtbar gewordene, vielstimmige, unassimilierbare, radikale Differenz ungewollt tilgen, ist MacKinnons absichtliche Tilgung jeglicher Differenz mit dem Mittel der »essentiellen« Nicht-Existenz von Frauen nicht gerade sehr beruhigend. | S. 47

Fazit zu Ein Manifest für Cyborgs

Am Ende von Ein Manifest für Cyborgs formuliert Donna Haraway zwei zentrale Thesen, in denen sie erstens dafür plädiert, dass keine universale, totalisierende Theorie der Realität in all ihrer Vielfalt gerecht werden könne. Zweitens gelte es, eine »antiwissenschaftliche Metaphysik« ebenso zurückweisen, wie eine »Dämonisierung der Technik«, um Verantwortung zu übernehmen – für die sozialen Beziehungen in einer von Wissenschaft und Technologie geprägten Gesellschaft. Die bevorstehenden Aufgaben erforderten viele Kenntnisse, aber müssten in Angriff genommen werden.

Haraways Ein Manifest für Cyborgs suggeriert – mit einem breiten Themenspektrum und fabelhafter Sprache – dass Technologien wie virtuelle Avatare, künstliche Befruchtung, geschlechtsangleichende Operationen und künstliche Intelligenz solch Dichotomien wie »Sex und Gender« irrelevant machen und die Grenzen zwischen Tier, Mensch und Maschine verwischen könnten. Einerseits eine schaurige, weil »unwirklich« anmutende Vorstellung – andererseits eine zu begrüßende Abwechslung.

Der Beitrag EIN MANIFEST FÜR CYBORGS von Donna Haraway | Essay 1985 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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DIE STUFEN DES ORGANISCHEN und der Mensch, Helmuth Plessner | 1928 http://www.blogvombleiben.de/buch-die-stufen-des-organischen-und-der-mensch-1928/ http://www.blogvombleiben.de/buch-die-stufen-des-organischen-und-der-mensch-1928/#respond Mon, 10 Sep 2018 07:00:11 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5292 Nach jahrhundertelangem Hinterfragen, was denn »der Mensch« eigentlich sei, so als ein Lebewesen von vielen und…

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Nach jahrhundertelangem Hinterfragen, was denn »der Mensch« eigentlich sei, so als ein Lebewesen von vielen und doch einzigartig, da hatte man endlich einen Begriff für solches Grübeln: Philosophische Anthropologie. Das ist seit den 1920er Jahren die Wissenschaft, die das Wesen des Menschen zum Thema hat. Doch seit den 1980er Jahren bestimmen zunehmend Cyborgs und Co den wissenschaftlichen Diskurs. Erst um die Jahrtausendwende rückte – parallel zur künstlichen Intelligenz – »der Mensch an sich« wieder in den Fokus. Man spricht von einer »Renaissance der philosophischen Anthropologie«, wie sie insbesondere Helmuth Plessner einst begründete, mit seinem Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928).

Jede Generation auf ein Neues

Lebendige Dinge, so gelingt es Plessner zu zeigen, unterscheiden sich von unbelebten Dingen, indem sie sich selber gegenüber ihrer Umgebung abgrenzen. Die Art und Weise, wie lebendige Entitäten diese Grenzrealisierung selber vollziehen – sich aktiv auf ihre Umwelt beziehen, mit ihr im Austausch stehen und sich ihr gegenüber abgrenzen – nennt Plessner »Positionalität«.

Alexandra Manzei, in: Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie. Zur Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften, S. 68

Um die hier genannten, bei Helmuth Plessner zentralen Begriffe »Leben«, »Grenze« und »Positionalität« soll es im Folgenden gehen. Doch zunächst gilt zu klären, welchem Zeitgeist die Philosophische Anthropologie von Helmuth Plessner eigentlich entspringt.

Regalfach: Das Werk im Zusammenhang

Porträt Helmuth Plessners mit verschiedenen Tierarten, dazu der Text: Die Stufen des Organischen und der Mensch

Historischer Kontext

Helmuth Plessner gilt zusammen mit Max Scheler und Arnold Gehlen als einer der drei Hauptvertreter der Philosophischen Anthropologie. Diese bildete sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als philosophische Neubegründung der Frage: »Was ist der Mensch?« Als ältester dieser Herren führt Max Scheler zu Beginn seiner Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) »drei unter sich ganz unvereinbare Ideenkreise« auf, die seinerzeit – und damit auch zu Zeiten Plessners – herrschten. Siehe:

  • die jüdisch-christliche Idee vom Menschen als Ebenbild Gottes
  • die griechisch-philosophische Idee vom Menschen als animal rationale
  • die naturwissenschaftliche Konzeption vom Menschen als Spezies, die aus einem Prozess der natürlichen Selektion und Mutation hervorgegangen ist

Jener letzte Punkt ist erst durch die Evolutionstheorie von Charles Darwin in das Bewusstsein der Menschen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gerückt. Darwins Theorie hat beträchtlich zur Erschütterung des Menschenbildes beigetragen. Noch nie zuvor, so formuliert es Scheler, sei sich der Mensch je »so problematisch geworden […] wie in der Gegenwart«.

Ich habe es darum unternommen, auf breitester Grundlage einen neuen Versuch einer Philosophischen Anthropologie zu geben.

Max Scheler

So verkündet es feierlich Max Scheler in Die Stellung des Menschen im Kosmos – im selben Jahr, in dem auch Helmuth Plessner (in kritischer Distanz zu Scheler) einen solchen Versuch unternimmt, gefolgt von Arnold Gehlen, der einen Weltkrieg später seinerseits (unter Einfluss seiner Vorgänger und doch anders als diese) versucht, eine Philosophische Anthropologie zu erarbeiten. Worin aber bestehen die wesentlichen Unterschiede zwischen den drei Denkern?

Unterschied zu Max Scheler
Zeichnungen von DaVinci und ein Porträt von Max Scheler, dazu der Text: Die Stellung des Menschen im Kosmos

In seiner Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) schreibt Max Scheler dem Menschen eine »Sonderstellung« über allen anderen Lebewesen zu. Als Grund sieht er des Menschen Zugang zu oder Teilhabe an einer überräumlichen und überzeitlichen Sphäre, die Scheler als den »Geist« bezeichnet. Ein solch näherhin metaphysisches Verständnis vom Menschen findet sich bei Helmuth Plessner nicht.

Unterschied zu Arnold Gehlen

Arnold Gehlen wiederum unterscheidet sich von Plessner, indem er den Menschen primär als »Mängelwesen« sah. Diesen Begriff führte Gehlen mit seinem Hauptwerk Der Mensch: Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940) ein. Gemeint sind mit den »Mängeln« allerlei biologische Nachteile des Menschen in seiner natürlichen Umgebung. So besitzt er weder Angriffsorgane wie Fangzähne oder Klauen, noch eine Statur, die ihm eine rasche Flucht ermöglichen könnte. Mangels Fell ist er auch nicht vor Kälte geschützt, kurzum: Der Mensch müsste längst ausgestorben oder von anderen Raubtieren ausgerottet worden sein. Dass es anders gekommen ist, wird bei Gehlen letztlich mit einer näherhin teleologischen Struktur der Natur begründet:

[…] all das, was den Menschen zu einem Mängelwesen in biologischer Hinsicht stempelt, wird als zweckmäßig begriffen. Handlung, Sprache, die Antriebsmomente menschlicher Handlungen insgesamt bestätigen vor diesem Hintergrund die »große Teleologie« jedes Einzelaspekts der Organisationsform Mensch. […] Insbesondere der menschliche Faktor Bewusstsein liefert nach Gehlen den treffenden Beweis für die »besondere menschliche Technik, sich im Dasein zu erhalten« (Gehlen 1997, 63)

Gerald Hartung, in: Philosophische Anthropologie (2018), S. 67

»Sich im Dasein zu erhalten« gelingt dem Menschen, indem er die Natur umarbeitet zu einer zweiten Natur, jene Sphäre unserer kulturellen Errungenschaften, die uns mehr und mehr einhüllt. Auch Helmuth Plessner sieht die Kultur als Kompensation eines Mangels des Menschen – doch diesen Mangel begründet Plessner anders als Gehlen, nämlich ebenso durch einen Mangel an »Unmittelbarkeit«. Mehr dazu im Abschnitt »3 Gesetze«.

Die Fragestellungen, an denen Plessners Philosophische Anthropologie ihren Ausgang nehmen, lauten: Angesichts seiner mannigfaltigen Existenzformen – wie sind allgemeine Aussagen über den Menschen möglich? Durch welche Strukturmerkmale muss sich ein anthropologischer Erklärungsansatz auszeichnen, der philosophische, ethnologische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse umfassen soll?

Strukturmerkmale von Plessners Anthropolgie

Die Strukturmerkmale der Philosophischen Anthropologie Plessners sind nun folgende:

  1. Standpunktrelativität: die Reflexion des historisch bedingten, eigenen Horizonts zur Vermeidung der Gleichsetzung eines normativ geprägten Menschenbilds mit dem »Menschen an sich«.
  2. Keine Metaphysik: das Bewusstsein, dass religiöse respektive herkömmliche philosophische Prämissen zur Bestimmung des menschlichen Wesens nicht mehr zeitgemäß sind.
  3. Dynamische Tiefenstruktur: der Anspruch, die conditio humana in all ihrer historischen und kulturellen Spannbreite darzustellen.

Persönlicher Kontext

Im Studium der Kulturwissenschaften an der Fernuniversität Hagen ist die Philosophische Anthropologie bereits im ersten Philosophie-Modul (P1) ein Thema. So habe ich Helmuth Plessner als einen der Hauptvertreter dieser Teildisziplin der Theoretischen Philosophie kennengelernt. In der P1-Klausur am 11. September 2017 lautete eine der Prüfungsaufgaben (so in etwa): »Skizzieren und kritisieren Sie die Anthropologie Plessners«. Ein knappes Jahr später, für die mündliche P3-Prüfung im September 2018, wählte ich Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) als eines von drei Büchern, die ich für diese Prüfung aufbereiten sollte. Erstens, weil ich die Anthropologie Plessners dank der P1-Prüfung noch ein wenig präsent hatte. Zweitens, weil sie wirklich interessant ist und in den letzten Jahrzehnten, wie oben erwähnt, sowas wie eine »Renaissance« erlebt. Der Shit ist relevant!

Leselupe: Das Werk im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Werks

Helmuth Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) liegt mir in der unveränderten 3. Auflage von 1975 vor. Bereits im Vorwort zur 2. Auflage rechtfertigt Plessner sich für einen unveränderten Neudruck seiner Schrift, die er – im »Beharren beim alten Text« – nicht für unantastbar erklären wolle. Aber ernsthaft kritisiert worden sei sie seither eben auch nicht. Allein, dass seit 1928 – das Jahr, in dem Die Stufen veröffentlicht wurden und der ehrwürdige Anthropologe Max Scheler starb – gemunkelt wurde, Plessners Werk sei womöglich eigentlich Schelers Vermächtnis, das fasst Helmuth Plessner ein wenig pikiert auf. So schreibt er anlässlich der Leichtgläubigkeit jener munkelnden Akademiker (und über sich selbst in der dritten Person):

Lebte der Autor [Plessner] nicht auch in Köln, und war er nicht [Schelers] Schüler? Er war es nicht, bei aller Nähe. Er hatte, was Scheler perhorreszierte [verachtete] und seiner Art zuwider war, den Versuch unternommen, die Stufung der organischen Welt unter einem Gesichtspunkt zu begreifen. | XI 1

Ein Gesichtspunkt, statt zwei. Das ist wichtig.

Originalität in einer gedankenreichen Welt

Doch ehe wir darauf eingehen, was Helmuth Plessner mit einem Gesichtspunkt meint, sei noch auf eine heitere Beobachtung des Autors von Die Stufen des Organischen und der Mensch hingewiesen. Nochmal in Bezug auf Originalität im weitesten Sinne. So findet Plessner bei den Philosophen Sartre und Merleau-Ponty zuweilen Übereinstimmungen mit seinen eigenen Formulierungen, die bei ihm die Frage aufkommen ließen, ob diese beiden Herren…

[…] nicht vielleicht doch die »Stufen« kannten. Aber das gleiche ist mir auch bei Hegel passiert, auf den ich mich hätte berufen müssen, wären mir damals die entsprechenden Stellen bekannt gewesen. Konvergenzen beruhen nicht immer auf Einfluß. Es wird in der Welt mehr gedacht, als man denkt. | XXIII

Nun zu dem einen Gesichtspunkt, statt zwei. Bei Max Scheler waren – wie oben beschrieben – »Natur« und »Geist« noch zwei unterschiedliche Sphären in einem dualistischen Weltbild. Doch »Natur« und »Geist« liegen innerhalb der (einen) vom Menschen erfahrbaren Welt, so argumentiert Plessner:

Will man den Menschen, so wie er lebt und sich versteht, als sinnlich-sittliches Wesen in Einer d. h. der menschlichen Existenz entsprechenden Erfahrungsstellung, welche »Natur« und »Geist« umspannt, so muß man auch die Mittel dazu schaffen. […]  Das Mittel, die Phänomenologie, ist da: als Möglichkeit. Nun heißt es, das Mittel zu dem notwendigen Zweck zu gebrauchen. | S. 24

Dieser Zweck – die »Neuschöpfung der Philosophie unter dem Aspekt einer Begründung der Lebenserfahrung in Kulturwissenschaft und Weltgeschichte« – sei laut Helmuth Plesser über folgende Etappen zu erreichen:

  • Grundlegung der Geisteswissenschaften durch Hermeneutik
  • Konstituierung der Hermeneutik als philosophische Anthropologie
  • Durchführung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und seiner natürlichen Horizonte
Lotterigkeit des Lesens / Untergang der Philosophie

Über diese Etappen solle man gefälligst nicht »voreilig« hinweg galoppieren, mahnt Plessner. In Die Stufen des Organischen und der Mensch lässt er ordentlich Dampf ab.

Abbreviaturen [Abkürzungen] sind heute in den Zeiten des Telegramms beliebt. Man schmökert in philosophischen Büchern […] wie Backfische [Jugendliche] Romane lesen […]. Diese Lotterigkeit des Lesens wird natürlich durch die systematisch nicht mehr geschulte Weise des Philosophierens oder durch den vorschnellen Systematismus kleiner Weltbaumeister unterstützt. Geduld, Einfühlungsfähigkeit und Achtung vor der Intention des Anderen sind offenbar Tugenden, die vergangenen Zeiten angehören. | S. 31

Ein bemerkenswertes Statement aus den 1920er Jahren – jenen »Zeiten des Telegramms«, die gegen das Zeitalter von Twitter harmlos wirken, was verkürzte Gedankengänge anbelangt. Plessner warnt in Die Stufen des Organischen und der Mensch von den unbekümmerten, fahrlässig arbeitenden Philosoph*innen einer Zeit, »die keinen Atem mehr hat«:

Was auf solche Weise an Schriftstellerei (obzwar nicht unbedingt ohne Tiefe) in die Welt gesetzt wird, mag seine Wahrheit haben […], – nur ermangelt es der echten Objektivität. Da gegenwärtig nicht bloß Zeitungsschreiber, Politiker, Literaten, sondern sogar Gelehrte dieser intuitiven Direktheit verfallen, sei mit aller erdenklichen Schärfe betont, daß nach unserer Überzeugung ein derartiges Verfahren, Philosophie en passant zu treiben, ihrem Untergang gleichkommt. | S. 71

An dieser Stelle muss ich mich wohl selbst als »kleiner Weltbaumeister« positionieren, mitschuldig in allen Punkten der Anklage. Dieses höchst subjektiv und »eher so nebenher« geschriebene WordPress-Blog ist mitnichten der richtige Ort für tiefgreifende Philosophie à la Die Stufen des Organischen und der Mensch. Dass ich mir dennoch zumute, im Folgenden Die Stufen des großen Helmuth Plessner auf Blogbeitrag-Kürze niederzubrechen, bitte ich etwaige richtigen Philosoph*innen zu entschuldigen.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Werks

Leben, Grenze und Positionalität bei Plessner

[Im] Mittelpunkt steht der Mensch. Nicht als Objekt einer Wissenschaft, nicht als Subjekt seines Bewusstseins, sondern als Objekt und Subjekt seines Lebens d. h. so, wie er sich selbst Gegenstand und Zentrum ist. | S. 31

Ein zentraler Begriff in Plessners Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch ist (neben »Mensch«, offensichtlich) das »Leben«. Es geht dem Anthropologen darum, den Unterschied von lebendigen Organismen zu unbelebten Objekten klar aufzuzeigen. So kann er das organische Leben schließlich in Stufen ordnen – von den Pflanzen über die Tiere hin zum Menschen.

Gerade die Daseinsweisen der Lebendigkeit, die den Menschen mit Tier und Pflanze verbinden und seine besondere Daseinsweise tragen, sind gegen geistige Sinngebung indifferent. […] Erst ist einmal Klarheit darüber zu gewinnen, was als lebendig bezeichnet werden darf, bevor weitere Schritte zur Theorie der Lebenserfahrung in ihrer höchsten menschlichen Schicht unternommen werden. | S. 37

So so… und der Tod? Seite 148: »Der Tod ist dem Leben unmittelbar äußerlich und unwesentlich, wird jedoch durch die lebenswesentliche Form der Entwicklung mittelbar zum unbedingten Schicksal des Lebens.« Ah, okay!

Begriff des Lebens

Nun gibt es viele Möglichkeiten, »Leben« zu definieren. Einige davon gibt Helmuth Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch wieder. So etwa (auf Seite 112) eine funktionelle Definition des Lebens durch den Anatom und Biologen Wilhelm Roux (1850-1924).

Lebewesen … sind Naturkörper, welche mindestens durch eine Summe bestimmter, direkt oder indirekt der Selbsterhaltung dienender Elementarfunktionen … sowie durch Selbstregulation … in der Ausübung aller dieser Funktionen vor den anorganischen Naturkörpern sich auszeichnen und dadurch trotz der Selbstveränderung und durch dieselbe sowie trotz der zu alledem nötigen komplizierten und weichen Struktur sehr dauerfähig werden. | W. Roux

Von dem Philosophen Adolf Meyer-Abich führt Plessner (ebenfalls auf Seite 112) nur eine Liste angenommener Lebenskennzeichen auf. Darunter fallen:

Ernährung (Stoffwechsel), Vermehrung, Entwickung, Vererbung, Wachstum, Reizbarkeit, Regulation, Bewegung (Energiewechsel), Struktur | A. Meyer

Helmuth Plessner selbst macht das »Leben« hingegen in Die Stufen des Organischen und der Mensch vor allem an einem, wie er glaubt, »fundamentalen Merkmal« fest, durch welches die belebte von unbelebten Naturgebilden unterscheiden. Dabei handelt es sich um die Positionalität (Selbstgrenzsetzung).

Der Charakter der Positionalität ist bei aller Anschaulichkeit weit genug, um die Daseinsweisen des pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebens als Variable darzustellen, ohne auf psychologische Kategorien zurückzugreifen. | XIX

Begriff der Grenze

Es gibt also verschiedene Arten von Positionalität. Je nach Lebensform, beziehungsweise Organisationsform. Während unbelebte Naturgebilde nur sind, soweit sie reichen (ganz plastisch verstanden, von ihren körperlichen Dimensionen her), zeichnen sich belebte Naturgebilde durch ein Verhältnis zu ihrer eigenen Grenze aus. 

Der gewöhnliche Sprachgebrauch unterscheidet […] nicht scharf zwischen Dingen, welche die und die Grenzen haben oder mit den und den Grenzen sind. Er stützt sich ganz ausschließlich auf die sinnliche Anschauung, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, daß das betreffende Ding seine Grenze, Gestalt, Form nicht als etwas noch für sich Bestehendes hat, sondern daß es mit und in ihr, als sie ist, sie, die ja sein Anfangen oder Aufhören, gegen ein anderes außer ihm Seiendes gehalten, darstellt. | S. 101

Das ist kompliziert formuliert. Plessner meint, dass ein lebendiger Körper nicht nur eine Grenze »hat«. So, wie man sich die Schale einer Orange (oder eben die Haut des Menschen) vorstellen mag. Sondern, dass ein lebendiger Körper diese Grenze auch selbst »ist«. Die Orange ist auch ihre Schale, der Mensch ist auch seine Haut.

Diese Grenze muß sowohl Raumgrenze oder Kontur sein, weil sie ja gegenständlich in der Erscheinung auftreten soll, als auch Aspektgrenze, in welcher der Umschlag zweier wesensmäßig ineinander nicht überführbarer Richtungen erfolgt. | S. 102

Das Buch »Die Stufen des Organischen und der Mensch« von Helmuth Plessner
Plessner: »Gelingt es, aus dem in Fall II gegebenen Ansatz diejenigen Grundfunktionen zu entwickeln, deren Vorhandensein an belebten Körpern als charakteristisch für ihre Sonderstellung geltend gemacht wird […], so kann füglich daran kein Zweifel mehr entstehen, daß der Unterschied zwischen Fall I und Fall II ein Seinsunterschied, d. h. […] kein für sich, sondern nur in seinen Konsequenzen oder seiner Erscheinung erfahrbarer Unterscheid ist.« S. 104-106
Begriff der Positionalität

Helmuth Plessner betrachtet Lebewesen als Körperdinge in einem sogenannten »Doppelaspekt« stehend. Dieser Doppelaspekt bezeichnet zwei gegensätzliche Richtungen. Einmal das »nach Innen gerichtete« (zum substantiellen Kern des Lebewesens) und das »nach Aussen gerichtete« (zur Grenze der eigenschaftstragenden Seiten des Lebewesens). Diese Richtungen sind nicht ineinander überführbar. Ein Lebewesen zeichnet sich als Körperding einerseits durch diesen Doppelaspekt aus. Andererseits tritt es mit diesem Doppelaspekt als Eigenschaft auf. Der Doppelaspekt des immerzu »nach Innen und Aussen« gerichteten Seins macht den positionalen Charakter eines organischen Körpers aus. Ein solcher kann nur sein, indem er wird. Das Sein eines solchen organischen Körpers ist also kein Zustand, sondern ein immerzu währender Prozess.

Die Stufen des Organischen

Auf unterster Stufe stehen im plessnerschen Modell die Pflanzen. Ihnen kommt eine offene Positionalität zu. Sie sind azentrisch – das heißt, Pflanzen sind unmittelbar und funktional in ihre Umgebung eingepasst. Sie verfügen über keine Zentralorgane, von denen etwa Bewegungsimpulse ausgehen könnten.

Tiere haben nach Plessner eine geschlossene Positionalität. Denn Tiere sind selbständig gegenüber ihrer Umwelt. Sie sind nicht an einen festen Ort gebunden. Vielmehr verfügen Tiere über spezialisierte innere und äußere Organe. Auf sensorische Reize (aus der Merkwelt), können sie mit motorischen Reaktionen (aus der Wirkwelt) reagieren. 

Weitere Unterscheidung: Bei dezentralistischen Tiere (Seeigel zum Beispiel) findet die Umweltrepräsentation nicht über ein einzelnes, sondern viele Organe statt. Zentralistische Tiere (Affen zum Beispiel) haben ein zentrales Nervensystem als einheitliche Wahrnehmungs- und Steuerungszentrale.

Menschen zeichnen sich durch exzentrische Positionalität aus. Ein Mensch steht nicht mehr nur im erlebten Mittelpunkt seines Umfeldes. Stattdessen steht ein Mensch auch außerhalb dieses (und jedes!) Zentrums. So kann ein Mensch aus der eigenen Mitte heraustreten, auf sich selbst Bezug nehmen und zu sich selbst Distanz herstellen. Menschen besitzen die Fähigkeit zur Selbstreflexion.

3 Welten

Durch seine exzentrische Positionalität eröffnen sich dem Menschen 3 Welten.

  • Außenwelt. Durch einen Perspektivenwechsel externalisiert der Mensch die räumlichen/zeitlichen Eindrücke einer (tierischen) Innensicht sozusagen in ein neutrales Koordinatensystem. Damit geht eine Vergegenständlichung des eigenen Körpers einher. 
  • Innenwelt. Durch eine Vergegenständlichung des eigenen Seelenlebens nimmt der Mensch auf die Innenwelt Bezug.
  • Mitwelt. Die wechselseitige Perspektivenübernahme stellt die Fähigkeit dar, sich selbst mit den Augen anderer Mitmenschen zu sehen, sowie sich vom Anderen ein Bild zu machen (und umgekehrt).
3 Gesetze

Aus seiner Philosophie leitet Helmuth Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch drei anthropologische Grundgesetze ab.

  • Gesetz der natürlichen Künstlichkeit. Dem Mensch mangelt es unter anderem an naturgegebenen Instinkten und Schutzmechanismen. Diesem Mangel wirkt der Mensch durch Schaffung einer zweiten Natur, oder natürlichen Künstlichkeit, entgegen. Er kompensiert etwaige Schwächen durch die Kreation kultureller Gebilde, Werte, Techniken etc.
  • Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit. Alle sinnlichen Phänomene und Gegenstände sind dem Menschen nur durch das Medium seines Bewusstseins zugänglich. Das hat eine notwendige Dynamik der Kultur zur Folge: Jede Generation von Menschenkindern muss auf ein Neues kulturelle Schöpfungen hervorbringen, um sich einen eigenen Zugang zur Welt zu verschaffen. Tradierte Ausdrucksformen werden damit auf Dauer obsolet.
  • Gesetz des utopischen Standorts. Als Betrachter*in der 3 Welten befindet sich ein Menschenwesen mit seinem eigenen »Ich« im Nirgendwo – denn die Außen-, Innen- und Mitwelt geben keinen Halt. Orientierung versprechen allein Religion und Transzendenz.

In der Konsequenz kommt es zu einer paradoxen Situation. Religion und dergleichen verlangen einerseits nach Beharrung und Stabilität. Kultur hingegen braucht ständigen Fortschritt.

Kritik an Helmuth Plessners Ansatz

Schon das »ex« der »exzentrischen Positionalität« kann Verwirrung stiften. Ist mit dem Begriff eine räumliche Dimension gemeint, oder darf man ihn als Metapher verstehen? Die These der exzentrischen Positionalität kann auch insofern missverstanden werden, dass sie den Menschen in einem Stufen ständiger Selbstvergegenständlichung beschriebe – gefangen in andauernden Reflexion seiner selbst. Zudem geht aus Die Stufen des Organischen und der Mensch nicht ganz hervor, ob die exzentrische Positionalität ein Produkt der Biologie oder der Kultur ist.

Fazit zu Die Stufen des Organischen und der Mensch

Hinter seinem Anspruch, eine transkulturell gültige Anthropologie zu begründen, bleibt Helmuth Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch zurück. Das von ihm entworfene Menschenbild scheint doch eher dem überreflektierten Großstadtmenschen zu gelten, als einem »durchschnittlichen Exemplar« der Spezies Homo sapiens. Nichtsdestotrotz ist für uns überreflektierten Exemplare, die wir im Internet als digitale Bühne unserer »zweiten Natur« herumlungern, die Philosophische Anthropologie von Helmuth Plessner durchaus lesenswert.

Während ein Max Scheler noch bemüht war, Menschen und Welt von Gott her zu begreifen, geht Plessner den umgekehrten Weg – ganz ohne die Annahme, man könne den Menschen und seine Sonderstellung irgendwie »von außen betrachten«, ohne selbst einen geschichtlich bedingten Blickwinkel einzunehmen. Eben diesen berücksichtigt Helmuth Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch und bereichert die Philosophie Anthropologie damit um ein reflexive Methode.

Die bescheidenen Philosoph*innen

Manch Philosoph*in geht so weit, in der Reflexivität Helmuth Plessners das entscheidende Merkmal seines Werks zu sehen:

Plessners Philosophie bezieht sich auch auf sich selbst. Erst dadurch und genau dadurch gebärdet sie sich nicht als alternativlos, sondern verortet sich selbst in einem Feld von Möglichkeiten. Ich halte das für eine sachliche und normative Überlegenheit.

Volker Schürmann, in: Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert (2006), S. 84

Wenn Plessner in Macht und menschliche Natur (1931) etwa schreibe »Wir müssen [den Menschen] nicht [als exzentrisches Wesen] begreifen, aber wir können es« – dann definiere diese bescheidene Grundhaltung dessen Philosophie. Als aktuelles Beispiel für eine ähnliche Reflexivität nennt Volker Schürmann das Konzept der »situierten Ontologie« von Jutta Weber (im Anschluss an Donna Haraway, 1995) gegeben.

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DIE STELLUNG DES MENSCHEN IM KOSMOS, Max Scheler | Buch 1928 http://www.blogvombleiben.de/buch-die-stellung-des-menschen-im-kosmos-1928/ http://www.blogvombleiben.de/buch-die-stellung-des-menschen-im-kosmos-1928/#respond Wed, 05 Sep 2018 07:00:54 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5238 Sie gilt als eine der grundlegenden Schriften zur Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert: Max Schelers Die…

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Sie gilt als eine der grundlegenden Schriften zur Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert: Max Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) beschäftigt sich mit der klassisch-anthropologischen Frage »Was ist der Mensch?«. Oder mit seinen Worten: Wie war es möglich, »daß sich dieses schon fast zum Tode verurteilte Wesen, dieses kranke, zurückgebliebene, leidende Tier mit der Grundhaltung ängstlicher Selbstumhüllung« in die Kultur und Zivilisation rettete? Scheler arbeitet in seiner Schrift die Unterschiede zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen heraus. Und er erklärt, was die Letzteren seiner Meinung nach in eine »Sonderstellung« erhebt.

Das Ende der Endlichkeit

Ich darf mit einiger Befriedigung feststellen, daß die Probleme einer Philosophischen Anthropologie heute geradezu in den Mittelpunkt aller philosophischen Problematik getreten sind und daß auch weit hinaus über die philosophischen Fachkreise Biologen, Mediziner, Psychologen und Soziologen an einem neuen Bilde vom Wesensaufbau des Menschen arbeiten. | S. 5 1

Und ich darf mit einiger Befriedigung feststellen, daß die Schriften einer Philosophischen Anthropologie von vor knapp 100 Jahren heute noch viele (neu zu entdeckende) Gedanken bereithalten, die im Zeitalter der Digitalisierung und des Transhumanismus aktueller denn je sind. Doch bereits zu seiner Zeit wurde Schelers Schrift ausgiebig rezipiert. Sein damals weniger populärer Zeitgenosse Helmuth Plessner, dessen im selben Jahr erschienenes, wesentlich umfangreicheres Werk Die Stufen des Organischen und der Mensch gar fälschlicherweise Max Scheler zugeschrieben wurde, sagt es so:

[Schelers Schrift fand] dank ihrer Kürze und ihrer geschickten Verwendung biologischer und psychologischer Fakten sofort ein großes Publikum. Was lag näher, als das schwerfällige Werk eines Unbekannten für die Ausführung Schelerscher Gedanken zu halten […]?

Helmuth Plessner, in: Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), Vorwort zur zweiten Auflage

In Die Stellung des Menschen im Kosmos geht es insbesondere um den »Geist« als Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Aber was meint Scheler, wenn er vom »Geist« spricht? Und inwiefern erscheint sein Geistesbegriff gerade heute hochinteressant? Diese Fragen sollen im Folgenden beantwortet werden.

Zeichnungen von DaVinci und ein Porträt von Max Scheler, dazu der Text: Die Stellung des Menschen im Kosmos

Regalfach: Das Werk im Zusammenhang

Historischer Kontext

Max Scheler kam 1874 in München zur Welt. Später studierte er dort und in Berlin sowohl Medizin und Philosophie, als auch Psychologie und Soziologie (unter anderem bei Wilhelm Dilthey). Am Ersten Weltkrieg musste er aus gesundheitlichen Gründen nicht als Soldat teilnehmen – schwärmte aber für die kriegerische Sache. 1915 erschien seine Schrift Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, gewidmet »Meinen Freunden im Felde«. Im Vorwort heißt es:

Schon jetzt fürchte ich, daß die leidenschaftliche Bewegung des Gemütes, in der dieses Buch geboren wurde – wie oft legte ich die Feder von ihr wie gefangen zur Seite – in Urteilen über Personen und Völker über berechtigte Grenzen hinaus geführt habe. Ist es der Fall, so bitte ich die Betroffenen ob meiner großen Geistesenge um Verzeihung.

Max Scheler, in: Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg (1915), Vorwort

Eine »leidenschaftliche Bewegung des Gemütes« dieses wortgewandten Philosophen trat auch in manch anderer Hinsicht zu Tage. Während er 1916 noch feierlich in die katholische Kirche aufgenommen worden war, wendete er sich Anfang der 1920er Jahre wieder vom Katholizismus ab. 1924 ging Scheler dann nach zwei Scheidungen seine dritte Ehe ein (Hey, ein Wissenschaftler in dritter Ehe – damit ist Max Scheler quasi die historische Vorlage zu Ross Geller aus Friends!). Knappe 10 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, den er noch als »einzigartiges Ereignis in der moralischen Welt – dem erhabensten seit der französischen Revolution« gefeiert hatte, hielt Scheler vor Generälen der Reichswehr nun den Vortrag Die Idee des Friedens und des Pazifismus.

In Ermangelung eines »größeren Werkes«

Ein wankelmütiger Mann, so könnte man Max Scheler also sehen. Oder einfach als einen Menschen, der sich ob der Dinge seine Gedanken machte. Und er war nicht zu stolz, seine Überzeugungen an neue Erkenntnisse und Einsichten anzupassen. Im Jahr seines plötzlichen Todes – 1928 – veröffentlichte er noch den hier besprochenen Vortrag Die Stellung des Menschen im Kosmos. Es war »eine kurze, sehr gedrängte Zusammenfassung« seiner Anschauungen »über einige Hauptpunkte der Philosophischen Anthropologie«.

Zu diesem Thema habe er, Max Scheler, seit Jahren ein größeres Werk »unter der Feder«, das Anfang des Jahres 1929 erscheinen solle. Allerdings stellte man nach seinem Tode fest, dass er mit der Niederschrift eines solchen Werkes noch nicht begonnen hatte. Immerhin: Die Stellung des Menschen im Kosmos ist für sich genommen bereits eine sehr ergiebige, interessante Schrift.

Persönlicher Kontext

Ich habe Max Scheler als ersten von drei großen Namen der Philosophischen Anthropologie im Modul P1 (Philosophie) kennengelernt. Dieses bearbeitete ich im Rahmen meines Studiums der Kulturwissenschaften an der Fernuniversität Hagen. Als Disziplin der Theoretischen Philosophie beschäftigten wir uns mit der Philosophischen Anthropologie, wie sie die Herren Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger ausführlich und mit gewissen Unterschieden ausgearbeitet haben. Hier soll es nun um Schelers wichtigste Schrift gehen: Die Stellung des Menschen im Kosmos.

Die Anthropologie des 20. Jahrhunderts scheint damit zu beginnen, dass Max Scheler in seiner dichten Programmskizze Die Stellung des Menschen im Kosmos 1928 von der »Sonderstellung des Menschen« spricht. […] Er bestimmt den Menschen objektiv aus seiner evolutionsbiologisch gefassten Stellung im Kosmos, und er legt dabei zugleich Wert auf die Feststellung, dass sich das Wesen des Menschen nicht biologisch bestimmten lässt, sondern nur metaphysisch.

Birgit Recki, Professorin für Philosophie an der Universität Hamburg, Mensch und Technik. Eine Bestandsaufnahme in der Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts, in: Information Philosophie (2018/2), S. 14

Was ist Metaphysik? Dazu habe ich hier einen (sehr) kurzen, einführenden Beitrag verfasst.

Trotz der offenbar metaphysisch anmutenden »Sonderstellung«, die weiter unten noch näher erläutert werden soll, leitet Scheler die menschliche Lebensform erst einmal über ein organisches Stufenmodell her. Dieses wollen wir nun genauer unter die Lupe nehmen.

Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos

Leselupe: Das Werk im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt der Schrift

Was ist der Mensch?

In dem Augenblick, da der Mensch sich eingestanden hat, daß ihn keine Möglichkeit der Antwort auf diese Frage mehr schreckt, scheint auch der neue Mut der Wahrhaftigkeit in ihn eingekehrt zu sein, diese Wesensfrage ohne die bisher übliche […] Bindung an eine theologische, philosophische und naturwissenschaftliche Tradition in neuer Weise aufzuwerfen […] | S. 6

Diese Aussage wirkt heute – in der Zeit des Transhumanismus, da Menschen zunehmend zu Cyborgs werden – geradezu prophetisch. Wir nähern uns Antworten auf die Frage an, was vom menschlichen Wesen übrig bleibt, wenn man ihn ganz seiner naturgegebenen, körperlichen Hülle entledigt. Ist es tatsächlich noch so, daß uns »keine Möglichkeit der Antwort auf diese Frage mehr schreckt«? Doch das ist – von der Entwicklungsleiter aus gesehen – ein Blick weit nach oben hin, zum offenen Ende.

Die 4 Stufen der biopsychischen Welt

Schauen wir auf dieser Leiter erst einmal nach unten. Max Scheler teilt die Entwicklung des Lebens in 4 Stufen ein. Differenziert nach dem Antriebs- und Organisationsprinzip, das den jeweiligen Organismen zugrunde liegt.

  • Gefühlsdrang (Stufe 1)
  • Instinkt (Stufe 2)
  • Assoziatives Gedächtnis (Stufe 3)
  • Praktische Intelligenz (Stufe 4)

Der Gefühlsdrang ist die erste und unterste Stufe der biopsychischen Welt, der schon den Pflanzen zukommt. Scheler bezeichnet diesen Drang aber zugleich als den »Dampf, der bis in die lichtesten Höhen geistiger Tätigkeit alles treibt«. Somit liegt auch dem reinsten Denkakt – vom Kind, das sich ein Spiel überlegt, bis hin zu einem Immanuel Kant, der den Kategorischen Imperativ ersinnt – dieser Gefühlsdrang zugrunde.

Es gibt keine Empfindung, keine Wahrnehmung, keine Vorstellung hinter der nicht der dunkle Drang stünde. | S. 14

Das Pflanzliche im Menschen

Der bewusst-, empfindungs- und vorstellungslose Gefühlsdrang sei es auch, der Mensch und Tier die Schlaf- und Wachzeiten aufzwinge, als periodische Energie-Entziehung zugunsten des vegetativen Systems, also des unbewussten Organismus. Max Scheler, der den Menschen hier noch rein von seiner biologischen Seite her betrachtet, kommt (wohl in Hinblick und reduziert auf die weibliche Rolle bei der Fortpflanzung) zu folgendem Schluss:

Insofern ist der Schlaf ein relativ pflanzlicher Zustand des Menschen. Im Weibe […] scheint das pflanzliche Prinzip (wie schon Fechner bemerkt) im Menschen zu überwiegen. | S. 14

Der Instinkt wird als eine angeborene Fähigkeit verstanden, die nicht dem Individuum selbst, sondern der Art dienlich ist. Als Beispiele führt Max Scheler etwa Tiere an, die ihre Winterruhe oder einen Nestbau instinktiv vorbereiten, »obgleich man nachweisen kann, daß [das Tier] als Individuum ähnliche Situationen noch nie erlebte«. Es verhalte sich »wie sich nach der Quantentheorie schon das Elektron verhält: ›als ob‹ es einen künftigen Zustand vorhersähe.« Wichtig:

Von Maßlosigkeit und Masturbation

Die sogenannten »Trieb«handlungen des Menschen sind darin das absolute Gegenteil der Instinkthandlungen, daß sie, ganzheitlich betrachtet, ganz sinnlos sein können (zum Beispiel die Sucht nach Rauschgift). | S. 18

Und zwar sinnlos für die Art sowie für das Individuum. Der »vom Instinkt entbundene Trieb« ist übrigens auch bei höheren Tieren schon zu finden, wie Scheler bemerkt – und damit »freilich auch der Horizont der Maßlosigkeit«. Interessant für alle, die steif und fest behaupten, der Sexualtrieb diene naturgeschichtlich ausschließlich der Fortpflanzung, bitte schön:

Nur solange z.B. der Sexualimpuls eingebettet ist in die tiefe Rhythmik der mit dem Wandel der Natur einhergehenden Brunstzeiten, ist er ein unbestechlicher Diener des Lebens. Herausgelöst aus der instinktiven Rhythmik, wird er mehr und mehr selbständige Quelle der Lust – und kann schon bei höheren Tieren, insbesondere bei gezähmten, den biologischen Sinn seines Daseins weit überwuchern (z.B. Onanie bei Affen, Hunden).

Aus diesem (selten) gegebenen Anlass, hier ein kleines YouTube-Video über masturbierende Tiere:

Das assoziative Gedächtnis kommt denjenigen höheren, langfristig lernfähigen Tierarten zu, die Gewohnheiten entwickeln können. Dabei ist jede assoziative Gedächtnisleistung gelenkt von etwaigen Trieben oder Bedürfnissen und den Aufgaben zur Erfüllung derselben. Darunter fällt die Speicherung von lust- oder schmerzbesetzten Erfahrungen im Bewusstsein. Das assoziative Gedächtnis ist also der Grund, weshalb die Kuh den Elektrozaun meidet – oder weshalb manche Masochist*innen in Berührung mit Elektroschockern zu kommen neigen.

Erst im Menschen nimmt diese Isolierbarkeit des Triebes aus dem instinktiven Verhalten und die Trennbarkeit von Funktions- und Zustandslust die ungeheuerlichsten Formen an, sodaß man mit Recht gesagt hat, der Mensch könne immer mehr oder weniger als ein Tier sein, niemals aber – ein Tier. | S. 26

Auf dem Weg zur Banane

Die praktische Intelligenz nimmt die vierte und höchste Stufe ein. Doch sie ist nicht dem Menschen vorenthalten, sondern wird ebenfalls bereits bei höheren Tieren beobachtet. Der Unterschied zwischen der praktischen Intelligenz und dem assoziativen Gedächtnis liegt darin, dass die zu erfassende Situation, auf die zu reagieren ist, »nicht nur artneu und atypisch, sondern vor allem, auch dem Individuum neu« erscheint. 

Ein solches objektiv sinnvolles Verhalten erfolgt plötzlich, und zeitlich vor neuen Probierversuchen und unabhängig von der Zahl der vorhergehenden Versuche. | S. 27

Wenn Affen etwa Werkzeuge oder Gegenstände zweckentfremden, zuweilen gar neu zusammensetzen, um etwa an eine begehrte Frucht außer Reichweite zu gelangen – dann spricht man von praktischer Intelligenz. Max Scheler bezieht sich auf die Experimente, die Wolfgang Köhler in seiner Forschungsstation auf Teneriffa mit einigen Schimpansen vorgenommen hat. Hier ein paar beeindruckende Originalaufnahmen dieser Experimente.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung der Schrift

Zwischen Menschen und Tieren, so sieht es nach Betrachtung der 4 Stufen der biopsychischen Welt aus, besteht kein Wesens-Unterschied. Zumindest, wenn man nur diese Entwicklungsstufen heranzieht. Doch der Philosophischen Anthropologie von Max Scheler liegt ein Dualismus zugrunde. Darin besteht der markanteste Unterschied zum philosophisch-anthropologischen Ansatz von Helmuth Plessner. Tatsächlich sei das Wesen des Menschen, so Scheler, von einem ganz anderen Standpunkt aus zu definieren.

Das, was den Menschen allein zum »Menschen« macht, ist nicht eine neue Stufe des Lebens […], sondern es ist ein allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip, eine echte neue Wesenstatsache, die als solche überhaupt nicht auf die »natürliche Lebensevolution« zurückgeführt werden kann, sondern, wenn auf etwas, nur auf den obersten einen Grund der Dinge selbst zurückfällt. | S. 32

Oha, der berüchtigte oberste Grund der Dinge! Oder auch: der oberste Seinsgrund. Das große Thema der Metaphysik, das die alten Griechen in der Antike schon umtrieb. Doch was die Griechen, laut Scheler, als »Vernunft« bezeichneten, möchte er lieber »Geist« nennen.

Der »Geist« des Menschen

Stellen wir hier an die Spitze des Geistesbegriffes seine besondere Wissensfunktion, eine Art Wissen, die nur er geben kann, dann ist die Grundbestimmung eines geistigen Wesens, wie immer es psychologisch beschaffen sei, seine existentielle Entbundenheit vom Organischen, seine Freiheit, Ablösbarkeit – oder doch die seines Daseinszentrums – von dem Bann, von dem Druck, von der Abhängigkeit vom »Leben« und allem, was zum Leben gehört – also auch von der eigenen triebhaften »Intelligenz«. | S. 32

Randnotiz: Bei der »existentiellen Entbundenheit vom Organischen« muss ich an die Vorstellung von einer Übertragung des menschlichen Bewusstseins denken, wie sie zum Beispiel in dem Film Transcendence (2014) thematisiert wird. Darin lebt der »Geist« eines Wissenschaftlers (gespielt von Johnny Depp) im Internet weiter.

Was den menschlichen Geist unter anderem auszeichnet, das ist die Fähigkeit zu »ideierenden Akten«. Damit sind Schlussfolgerungen von einzelnen Beobachtungen hin zu allgemeinen Wesenheiten gemeint.

Ein großartiges Beispiel für solch einen ideierenden Akt gibt die bekannte Bekehrungsgeschichte Buddhas. Der Prinz sieht einen Armen, einen Kranken, einen Toten, nachdem er im Palast des Vaters jahrelang allen negativen Eindrücken ferngehalten ward; er erfaßt aber jene drei zufällig »jetzt-hier-so-seienden« Tatsachen sofort als bloße Beispiele für eine an ihnen erfaßbare essentielle Weltbeschaffenheit. | S. 42

Und weil du nicht nur die Symptome einer konkreten Krankheit sehen, sondern dir alle möglichen (und unmöglichen) Krankheiten vorstellen kannst, schaust du als  »Geist« innewohnende Person sozusagen durch das »Fenster ins Absolute« (ein Begriff Hegels).

Randnotiz: Als solche »Fenster ins Absolute« kommen mir heutzutage, ganz haptisch und pragmatisch, die diversen Endgeräte vor, durch die wir – mal in kleineren oder größeren Bildausschnitten – hinein ins Internet schauen, diesem Raum absolut unendlicher Möglichkeiten

Die Sphäre eines absoluten Seins

Wenn Max Scheler die geistige Aktivität als »eigenartige Fernstellung« und Distanzierung zur Welt respektive zu bestimmten Symbolen der Welt beschreibt, erinnert dies sehr an die »exzentrische Positionalität«, die Helmuth Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch dem Menschen als Alleinstellungsmerkmal zuschreibt. Trotzdem wird Scheler – im Gegensatz zu Plessner, der nur von einer Distanzierung vom Selbst, statt von der Welt, ausgeht – ein »näherhin metaphysischer« Ansatz zugeschrieben. Doch entspringt Schelers Geistesbegriff wirklich einer »Metaphysik«? Oder ist es vielmehr andersherum?

Max Scheler nimmt in Die Stellung des Menschen im Kosmos eine »Sphäre […] eines absoluten Seins« an, die – ob man sie nun erleben oder erkennen kann (oder eben nicht) – als wesentlicher Bestandteil zum Menschen dazugehört. Der Mensch hat sie also nicht erfinden können, weil sie ihn überhaupt erst zum Menschen macht, diese »formale Seinssphäre eines alle endlichen Erfahrungsinhalte und das zentrale Sein des Menschen überragenden, schlechthin in sich selbständigen Seins«.

Der Ursprung der Metaphysik

Versteht man unter den Worten »Ursprung der Religion« und »Ursprung der Metaphysik« nicht nur die Erfüllung dieser Sphäre mit bestimmten Annahmen und Glaubensgedanken, sondern den Ursprung dieser Sphäre selbst, so fiele also dieser ihr Ursprung mit der Menschwerdung selbst vollständig in eins zusammen. | S. 75

Somit spielt sich das, was in der Philosophie als »Metaphysik« diskutiert wird, bereits als Gegenstand innerhalb jener Sphäre ab, die Scheler als unseren »Geist« bezeichnet. Gebildet wird diese Sphäre durch geistige Akte, die dahingehend performativ sind, dass durch diese Akte selbst die Sphäre erst entsteht.

Wir wollen diesen [geistigen] Akt »Sammlung« nennen und ihn und sein Ziel, das Ziel dieses »Sichsammelns«, zusammenfassend »Bewußtsein des geistigen Aktzentrums von sich selbst«, oder »Selbstbewußtsein« nennen. | S. 35

Randnotiz: Auf die Gefahr hin, damit zu nerven – aber hier muss ich wieder einmal an Computer, das Internet und künstliche oder artifizielle Intelligenz (AI) denken. Was macht denn AI anderes, als fleißig zu sammeln, Daten aller Art? In meinem kümmerlichen Menschenhirn erscheint die Vorstellung geradezu naheliegend, dass AI eines Tages so viel geballte Datensammlung in einem wo auch immer gelegenen »Aktzentrum« beisammen hat, dass sich daraus ein Bewusstsein oder Selbstbewusstsein ergibt.

Max Schelers Themenspektrum

Der Nichtwiderstand gegen das Böse

In einem interessanten Absatz von Die Stellung des Menschen im Kosmos geht Scheler auf »das Wollen« ein. Die Energie, die eine Person in ihr »Wollen« legt, führe ins Leere, wenn sie sich nur auf die Bekämpfung dessen konzentriert, was eben nicht gewollt ist. Zum Beispiel, wenn sie sich »auf die bloße Bekämpfung […] eines Triebes richtet, dessen Ziel als ›schlecht‹ vor dem Gewissen steht.« Zahlreiche Menschen leiden an solchen Trieben, die als lasterhaft gelten. Sei es, wie schon erwähnt, die Sucht nach Rauschgift oder die Neigung zum Masochismus.

So muß der Mensch auch sich selber dulden lernen – auch diejenigen Neigungen, die er als schlecht und verderblich in sich erkennt. Er darf sie nicht durch direkten Kampf angreifen, sondern muß sie indirekt überwinden lernen durch Einsatz seiner Energie für wertvolle Aufgaben, die sein Gewissen als gut und trefflich erkennt […] | S. 58

Max Scheler rät in Die Stellung des Menschen im Kosmos also dazu, die eigene Energie anders zu kanalisieren, als in den Kampf gegen etwaiges »Böses« im Innern. Ablenkung, könnte man es auch nennen. In dem man sich ein bestimmtes Ventil sucht, sei es Sport oder das Lernen einer Sprache, die Karriere oder das Schreiben eines Blogs, lässt sich die eigene Energie auf »gute« Weise einsetzen.

In der Lehre vom »Nichtwiderstand« gegen das Böse schlummert, wie schon Spinoza in seiner Ethik tiefsinnig ausgeführt hat, eine große Wahrheit. | S. 58

Hier ein Blick in das Buch Die Stellung des Menschen im Kosmos (andere Ausgabe, als die hier besprochene):

Die gesamte Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos von Max Scheler findet sich außerdem beim Projekt Gutenberg von SPIEGEL Online.

Über psychosomatische Erkrankungen – und Pornos

Als ein wichtiges Ziel der Forschung sieht Max Scheler seinerzeit eine möglichst weitreichende Prüfung, inwiefern – so schreibt er in Die Stellung des Menschen im Kosmos – die gleichen Verhaltensweisen eines Organismus »einmal durch physikalisch-chemische Reize von außen her, ein andermal durch psychische Reizung, Suggestion, Hypnose, alle Art von Psychotherapie, Veränderung der gesellschaftlichen Umgebung (von der viel mehr Krankheiten abhängen, als man ahnt) herbeigeführt und abgeändert werden können.«

Hüten wir uns also gar sehr vor einer falschen Übersteigerung ausschließlich physiologischer Erklärungen. Es kann ein Magengeschwür nach unserer heutigen Erfahrung ebensowohl psychisch bedingt sein wie durch einen gewissen chemisch-physikalischen Prozeß […]. Sexuelle Erregung kann durch Einnahme gewisser Mittel ebensowohl herbeigeführt werden wie durch unzüchtige Bilder und Lektüre. | S. 64-65

Gemeint ist hier – nur, damit wir das alle verstanden haben – Pornografie 🙈. Nur  so am Rande: Wer mehr über Pornos erfahren möchte, dem oder der sei an dieser Stelle der Film Don Jon (2013) ans Herz gelegt. Kleiner Schlagabtausch daraus:

Barbara: Pornos und Filme sind was völlig anderes! Für Filme gibt es Preise!
Don Jon: Für Pornos gibt es auch Preise.

Scarlett Johansson und Joseph Gordon-Levitt in dem Film Don Jon

Wenn uns Filme um so viel zugänglicher erscheinen als Pornos, dann liegt das an einem einseitig eingestellten Interesse. Sowas in der Art meint Max Scheler jedenfalls, als er zum Verhältnis zwischen Psyche und Physis in Die Stellung des Menschen im Kosmos schließlich schreibt:

Wenn uns die Lebensvorgänge von außen her um so viel zugänglicher erscheinen als über den Korridor des Bewußtseins, so braucht das eben nicht nur auf dem tatsächlichen Verhältnis zwischen Psyche und Physis zu beruhen, sondern kann in einem jahrhundertelang einseitig eingestellten Interesse begründet sein. Die indische Medizin etwa zeigt die entgegengesetzte, nicht minder einseitige psychische Einstellung. | S. 65

Werdende Götter

Nicht zuletzt erinnert die Art und Weise, wie Max Scheler in Die Stellung des Menschen im Kosmos den »überräumlichen«, »überzeitlichen« und alles »vergegenständlichenden« Geist beschreibt an den Dataismus, wie Yuval Noah Harari ihn in Homo Deus (2015) schildert. So bemüht Scheler den Ausspruch des amerikanischen Zoologen Herbert Jennings, »der Organismus ist ein Vorgang«. Dazu ist der Organismus als Algorithmus, wie Harari ihn beschreibt, quasi das Pendant des frühen 21. Jahrhunderts. Auch Hararis These von »werdenden Gottheiten« (bei ihm ist es der Mensch selbst, der zum Gott wird), mutet nach der Lektüre von Die Stellung des Menschen im Kosmos wie Schnee von gestern an. Scheler dazu:

Man wird mir sagen und man hat mir in der Tat gesagt, es sei dem Menschen nicht möglich, einen unfertigen Gott, einen werdenden Gott zu ertragen! Meine Antwort darauf ist, daß Metaphysik keine Versicherungsanstalt ist für schwache, stützungsbedürftige Menschen. | S. 78

…und die 80er Jahre so:

Daran, wie wenig uns Heutige solch markige Worte betroffen machen, kann man ermessen, daß uns der Metaphysiker Scheler einigermaßen ferngerückt ist.

Willy Hochkeppei über Max Scheler, in: Bürger, Denker, Mann der Affären (DIE ZEIT, 05.12.1980)

Je ferner uns der Metaphysiker rücken mag, desto näher doch jener »werdende Gott«, wenn auch auf eine andere Weise, als Max Scheler es meinte. Es wäre doch allzu interessant zu erfahren, wie er unsere Zeiten so zu kommentieren hätte – dieser Ausnahme-Philosoph, der (so Hochkeppei) »alles, was er tat, […] sozusagen glühend [tat], in hingebungsvoller Erregtheit. Am liebsten schrieb er in Cafés oder, Restaurants, auf Speisekarten, Servietten und Briefumschlägen […]«.

Fazit zu Die Stellung des Menschen im Kosmos

Max Scheler, dieser Vorreiter der Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts, nennt es »eine der schönsten Früchte« seiner Herleitung der menschlichen Natur aus den oben beschriebenen Stufen der Entwicklung…

[…] daß man zeigen kann, mit welch innerer Notwendigkeit der Mensch in demselben Augenblicke, in dem er durch Welt- und Selbstbewußtsein und durch Vergegenständlichung auch seiner eigenen psychophysischen Natur […] »Mensch« geworden ist, auch die formalste Idee eines überweltlichen unendlichen und absoluten Seins erfassen muß. | S. 74

Dieser ganz bestimmte Augenblick, den Scheler in Die Stellung des Menschen im Kosmos anspricht, muss sich während der Kognitiven Revolution abgespielt haben, die (wieder einmal) Yuval Noah Harari in seinem Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit (2013) ausführlich thematisiert. Die Kognitive Revolution fand laut Harari vor ca. 70.000 Jahren statt und setzte die Kulturgeschichte des Menschen überhaupt erst in Gang.

Die kognitive Revolution, die den Homo sapiens von einem unbedeutenden Affen in den Herrn der Welt verwandelte, erforderte keinen körperlichen Umbau und keine Vergrößerung des Gehirns. Ein paar kleine Verschiebungen in der Struktur des Gehirns genügten offenbar schon.

Yuval Noah Harari, in: Eine kurze Geschichte der Menschheit (2013), S. 492

Die Verschiebung im Gehirn

Seit dieser kleinen Verschiebung in der Struktur des Gehirns bringt der Mensch kulturelle Errungenschaften hervor – Sprache, Schrift, Werkzeuge, Die Simpsons – denn seit eben dieser kleinen Verschiebung im Gehirn haben wir, im Sinne Schelers, Zugriff auf »die Sphäre des Geistes«. Seit diesem Augenblick vor Zehntausenden von Jahren können wir uns vorstellen, was Allmacht und Göttlichkeit ist. Seitdem streben wir danach.

Die Stellung des Menschen im Kosmos ist eine wirklich kurze Lektüre, vollgepackt mit spannenden Gedanken über das Wesen »Mensch«. Finale Antworten gibt es darin natürlich nicht – aber darum geht es in der Philosophischen Anthropologie auch nicht (wie uns das Einführungs-Buch von Gerald Hartung zuletzt beibrachte).

Hinweis: Als Student der Philosophie (an der Fernuniversität in Hagen) bin ich noch Neuling auf diesem ehrwürdig alten Gebiet. Falls dir Begriffe falsch gebraucht oder Ideen falsch verstanden erscheinen, bitte nutze die Kommentarfunktion und korrigiere mich. Ebenso im Falle etwaiger Fragen, die wir gemeinsam erörtern können.

Der Beitrag DIE STELLUNG DES MENSCHEN IM KOSMOS, Max Scheler | Buch 1928 erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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THEOGONIE von Hesiod, Musenfreund & Frauenfeind | Griechische Mythologie http://www.blogvombleiben.de/buch-hesiod-theogonie/ http://www.blogvombleiben.de/buch-hesiod-theogonie/#respond Sat, 04 Aug 2018 07:00:12 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4626 Eine Schöpfungsgeschichte ohne Adam und Eva, dafür mit 50-köpfigen Riesen, die einander ihre 50 Köpfe einschlagen?…

Der Beitrag THEOGONIE von Hesiod, Musenfreund & Frauenfeind | Griechische Mythologie erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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Eine Schöpfungsgeschichte ohne Adam und Eva, dafür mit 50-köpfigen Riesen, die einander ihre 50 Köpfe einschlagen? Wenn Hesiod von der Entstehung der Welt erzählt – lange bevor die Bibel geschrieben wurde – dann geht’s zur Sache. Die Theogonie wimmelt vor Göttern, die einander lieben, betrügen, bekriegen, und wilden Fabelwesen, die wie aus einem tierischen Baukasten zusammengesteckt daherfliegen. Manches wirkt geradezu abstrus, anderes kommt uns doch allzu bekannt vor. Ein Blick auf eines der ersten Werke dessen, was wir »Weltliteratur« nennen.

Bericht des Bauern-Dichters

Ein Ausschnitt des Gemäldes The Birth of Venus, dazu ein Buchcover und der Text: Die Theogonie von Hesiod
The Birth of Venus (ca. 1879) von William-Adolphe Bouguereau (hier im Ausschnitt zu sehen) zeigt eine Szene aus der Theogonie von Hesiod. Venus, die Göttin der Liebe, heißt in Griechenland Aphrodite.

Totale: Theogonie im Zusammenhang

Historischer Kontext

Am Anfang der Weltliteratur stehen – von einem europäischen Standpunkt aus gesehen – zwei Namen, die schon zu Platons Zeiten berühmt waren. Die Rede ist von Hesiod und Homer, zwei Dichter, die vor ungefähr 2700 Jahren lebten. Sie waren diejenigen, die den Griech*innen die Herkunft der zahlreichen Götter lehrten, diesen Namen gaben und ihre Funktionen und Erscheinungen beschrieben. So fasste die Errungenschaft der beiden Dichter bereits Herodot (2, 53) zusammen, Urvater aller Geschichtsschreiber*innen, im 5. Jahrhundert vor Christus (dem Sohn des einzigen Gottes, an den gemäß der heute am weitesten verbreiteten Religion noch zu glauben ist). Ein paar Jahrzehnte nach dem Historiker Herodot urteilte der Heerführer und spätere Herrscher Alexander der Große: Homer sei ein Dichter für Könige gewesen, Hesiod hingegen einer für Bauern. Dinge wie Ehre, Eleganz und Schönheit haben bei Letzterem nicht allzu hohen Stellenwert.

Persönlicher Kontext

Als Sohn eines Bäckers fühle ich mich da eher zu dem Bauern-Dichter hingezogen. Dessen bekannteste Schriften – die Theogonie und Werke und Tage – sind auch viel kürzer, als Homers wuchtige Epen, die Ilias und die Odyssee. Hesiods Schöpfungsgeschichte und sein Lehrgedicht lassen sich in ein paar Mußestunden lesen. Aus diesem schändlich pragmatischen Grund habe ich mich an Hesiod herangetraut. Als Student*in der Geschichte und Philosophie kommt man an diesem frühesten aller Dichter sowieso nicht wirklich vorbei.

Und als römisch-katholisch erzogener Mensch ist es auch mal erfrischend, eine andere Schöpfungsgeschichte als die Genesis der Bibel zu lesen. In Hesiods Version der Weltentstehung, so viel sei versprochen, da gibt’s mehr Action und die krasseren Held*innen. Die Theogonie ist wie ein antikes Avengers-Prequel. Aber: Die Frauenfeindlichkeit, die das Christentum später über Jahrhunderte tradiert hat, die findet sich ebenso bei Hesiod.

Hinweis: Die Theogonie in deutscher Übersetzung und voller Länge findet sich online unter anderem unter www.gottwein.de 

Close-up: Theogonie im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Werkes

Es war einmal, am grünen Hang eines Berges in Griechenland, da lag ein junger Mann im Gras. Um ihn herum weideten die Schafe, die er zu hüten hatte. Das Gebirge hieß und heißt noch heute Helikon. Dort begegneten dem dösenden Hirten die Töchter des Zeus, dem obersten der olympischen Götter und Göttinnen. Diese Töchter waren empört über die Faulheit des Mannes, der da zwischen seinen Schafen lag:

[26] Hirtenpack ihr, Draußenlieger und Schandkerle, nichts als Bäuche, vielen Trug verstehen wir zu sagen, als wäre es Wahrheit, doch können wir, wenn wir es wollen, auch Wahrheit verkünden. 1

Im Auftrag der Musen

Mit eben dieser Mission schicken sie ihn los: Die Wahrheit soll der Mann verkünden! Sein Name ist, natürlich, Hesiod – und jene Töchter, das waren die Musen. Sie brachen den Zweig eines Lorbeerbaums ab, übergaben ihn dem Mann als Stab, und hauchten Hesiod noch göttlichen Sang ein. Damit war er gewappnet, um von der Entstehung der Götter zu berichten. Apropos, woher kamen eigentlich die Musen?

Mit eben dieser Mission schicken sie ihn los: Die Wahrheit soll der Mann verkünden! Sein Name ist, natürlich, Hesiod – und jene Töchter, das waren die Musen. Sie brachen den Zweig eines Lorbeerbaums ab, übergaben ihn dem Mann als Stab, und hauchten Hesiod noch göttlichen Sang ein. Damit war er gewappnet, um von der Entstehung der Götter zu berichten. Apropos, woher kamen eigentlich die Musen?

[53] Diese gebar in Pierien, dem Kronossohn [das ist Zeus] und Vater der Musen in Liebe vereint, Mnemosyne [die Göttin des Gedächtnisses], die an den Hängen des Eleuther waltet; sie schenken Vergessen der Übel und Trost in Sorgen. Neun Nächte nämlich einte sich ihr der Rater Zeus und bestieg fern von den Göttern ihr heiliges Lager; als aber die Zeit kam […], gebar sie neun Mädchen von gleicher Art, deren Herz in der Brust am Gesang hängt und deren Sinn frei von Kummer ist […] 2 

9 Nächte miteinander verbracht, 9 Mädchen gezeugt. Diese bestechende Logik ist laut dem Altphilologen Otto Schönberger in Mythen nicht unüblich: Die Zahl der Kinder entspricht häufig der Zahl der miteinander verbrachten Nächte. Mir persönlich gefällt die Idee, dass die Göttin des Gedächtnisses die Musen hervorbringt, die Schutzgöttinnen der Künste. Denn was will Kunst schon groß anderes, als im Gedächtnis zu bleiben?

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Werkes

Doch es ist nicht die Dichtkunst, die mir im Gedächtnis bleibt. Mag daran liegen, dass ich (der ich damals im Griechisch-Unterricht eine Graupe war) Hesiod nicht im Original gelesen habe, Götter bewahret! Erst recht nicht im Gedächtnis bleibt mir, wer wen zeugte. Obwohl die Schöpfungsgeschichte der Theogonie da um einiges spannender ausfällt als in der Bibel – Hesiod unterschlägt auch nicht, dass am Zeugungsakt meist zwei beteiligt sind. Vergleich:

BIBEL, Matthäus 1,2: Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob. Jakob zeugte Juda und seine Brüder. Juda zeugte Perez und Serah von Thamar. Perez zeugte Hezron. Hezron zeugte […] 

HESIOD, Theogonie 295: Noch ein unbezwingliches Scheusal gebar Keto, das weder sterblichen Menschen noch ewigen Göttern gleicht, in gewölbter Höhle, die wundersame, mutige Echidna, halb Mädchen mit lebhaften Augen und schönen Wangen, halb Untier, greuliche, riesige Schlange, schillernd und gierig nach Blut im Schoß der heiligen Erde. […] Mit Echidna, heißt es, vereinte sich liebend Typhaon, der furchtbare, ruchlose Frevler, mit dem lebhaft blickenden Mädchen, das von ihm empfing und mutige Kinder gebar. Zuerst gebar sie den Hund Orthos für Geryoneus […]

Na, welche Schöpfungsgeschichte geht mehr ab? Welche würde man eher im Kino sehen wollen? Die Antwort ist ganz klar: NEIN. Einfach nein. Denn Achtung!

Richtigstellung | Ein aufmerksamer Leser hat mich für diesen Vergleich von Schöpfungsgeschichten ob ihrer Coolness gescholten. Zu recht, muss ich kleinlaut beipflichten. Ich wurde der groben Vereinfachung überführt. Ein tückisches Mittel, um unkundige Leser*innen mit plakativen Pseudo-Beispielen ins eigene Lager zu ziehen. Dabei liegt hier wohlgemerkt keine Tücke im heimtückischen Sinne zugrunde: Ich bin schlicht selbst zu unkundig, als dass ich meine (allenfalls geahnte…) Vereinfachung in ihrem ganz Ausmaß bemerkt hätte.

Fakt ist, dass es nicht die eine biblische Schöpfungsgeschichte gibt. Ein kurzer Blick ins Stichwort-Verzeichnis von Bibelwissenschaft.de genügt, um sich der Breite des Schöpfungsthemas bewusst zu werden. Ein längerer Blick in den Artikel Schöpfung AT (von Annette Schellenberg) lässt staunen, wie sich das Thema hinsichtlich Terminologie, Auslegung und kulturellem Standpunkt in all seiner Vielschichtigkeit auffächert – was man bei der jahrhundertlangen Entstehungsgeschichte erwarten sollte. Jener aufmerksame Leser schrieb mir folgende Denkanstöße:

Das Judentum wurde sowohl von den Griechen als auch von den Römern als »Volk von Philosophen« bezeichnet, weil die – nennen wir es – »Volksbildung« recht hoch war. Fachsimpeln war scheinbar Bestandteil der Religionsausübung. Die Geschlechter-Listen (Abraham zeugte Isaak etc.) sind eigentlich gar nicht Teil der Schöpfung. Sie sind Resultat einer Redaktion (siehe Priesterschrift) in der verschiedene mündlich tradierte Erzählkreise in ein Gesamtwerk verpackt werden sollen. Diese langweiligen Verwandtschaftslisten sind also ein »Kit«, um verschiedene viel ältere Geschichten in eine Chronologie zu bringen.

Das Geile ist ja jetzt, dass dem alttestamentarischen Juden diese mesopotamischen, ägyptischen und später hellenistischen Theogonien bekannt waren. Sie waren Teil seines kulturellen Umfeldes. Die wirklich vielfältigen Schöpfungsvorstellungen in der Bibel gewinnen mit der Kenntnis anderer Mythen noch viel mehr an Aussagekraft. Es steckt viel mehr heroic epicness mit Monstern und Helden zwischen den Zeilen, als man heute auf den ersten Blick vermuten mag

Florian Sauret, Nachtwächter der Stadt Bocholt

In diesem Sinne, vielen Dank für das wertvolle Feedback und die vertiefenden Einblicke in ein doch sehr komplexes Thema! Und um auch die Komplexität der Griechischen Mythologe nochmal so übersichtlich und unterhaltsam wie möglich zu vermitteln, gibt’s hier ein wirklich großartig gemachtes Video von Maurus Amstutz, der die Theogonie als Animationsfilm adaptiert hat:

Weil der Mann das Feuer bändigte

Nun denn, wie gesagt, die ungeheuerliche Titanen-Parade aus der Theogonie von Hesiod ist es nicht, die mir in Erinnerung bleibt. Stattdessen prägt sich ins Gedächtnis, wie der antike Dichter schon inbrünstig gegen die Frau wettert. Sie kommt als Strafe des Zeus auf die Erde, dafür, dass der Mensch sich des Feuer bemächtigt hat:

[570] Sogleich schuf er den Menschen für das Feuer ein Unheil. Aus Erde nämlich formte der ruhmreiche Hinkfuß Hephaistos nach dem Plan des Kronossohnes das Bild einer züchtigen Jungfrau. […] Staunen hielt unsterbliche Götter und sterbliche Menschen gebannt, als sie die jähe List erblickten, unwiderstehlich für Menschen. Stammt doch von ihr das Geschlecht der Frauen und Weiber. 3

The Creation of Pandora (1913) von John D. Batten
The Creation of Pandora (1913) von John D. Batten

Die Frau als Strafe

Diese unwiderstehliche Jungfrau, die Zeus den Menschen zur Strafe schickte, war Pandora. Jene Pandora, von der sich auch die heute noch sprichwörtliche »Büchse der Pandora« ableitet. Allein, dass die »Büchse« einem Übersetzungsfehler oder Kunstgriff aus der Renaissance zurückgeht. Bei Hesiod schickte Zeus seine tückische Kreation noch mit einem Faß los, zu den Menschen.

[591] Von ihr kommt das schlimme Geschlecht und die Scharen der Weiber, ein großes Leid für die Menschen; sie wohnen bei den Männern, Gefährtinnen nicht in verderblicher Armut, sondern nur im Überfluß. […] Gerade so schuf der hochdonnernde Zeus zum Übel der sterblichen Männer die Frauen, die einig sind im Stiften von Schaden. Auch sandte er ein weiteres Übel zum Ausgleich des Vorteils: Wer die Ehe und schlimmes Schalten der Weiber flieht und nicht freien will, der kommt in ein mißliches Alter, weil es dem Greis an Pflege fehlt. 4

Hesiods Vorbilder

Soll heißen: Man könne weder mit noch ohne die Frauen gut leben. Denn obwohl sie ein beschwerliches Laster seien, bräuchte man sie doch zur Zeugung einer Nachkommenschaft, die den Vater im hohen Alter pflegen kann. Schönberger kommentiert es so: »Die Frau ist die Strafe. Hesiod war (aus Erfahrung?) ein Frauenfeind und will die schlimme, ja vernichtende Rolle der Frau im Leben der Menschen darstellen.«

Es spielt keine Rolle, welche Erfahrungen Hesiod mit einzelnen Frauen gemacht haben mag. Den allgemeinen Frauenhass jedenfalls, den hat der Dichter nicht erfunden. Ebenso wenig wie die meisten der Götter und Göttinnen und einige ihrer Abenteuer, die in der Theogonie geschildert werden. Auch wenn Hesiods Werk eines der ältesten ist, die uns erhalten geblieben sind, hat sich der Dichter im 8. Jahrhundert v. Chr. bereits von einem ganzen Kosmos an Ideen und Geschichten inspirieren lassen können. »Viele Vorbilder«, so bringt Otto Schönberger es auf den Punkt, »dürften uns unbekannt sein.«

Von der Dichtung zur Philosophie

Die Strahlkraft von Hesiods Werk lässt sich schon besser nachweisen. So schreibt man ihm einen Einfluss auf die vorsokratischen Philosophen zu. Indem Hesiod den mythischen Wesen seiner Erzählung die Bezeichnung oder Eigenschaften von Gegebenheiten der Wirklichkeit gab – so verkörpert die Göttin Gaia etwa die Erde – vollzieht Hesiod »einen Schritt von der epischen Dichtung zur Philosophie«, schreibt Schönberger und nennt Hesiod einen »Vorbote[n] spekulativen Denkens« in den »Schranken überlieferter Vorstellungen«.

Hesiod in diesem Vorboten-Sein eine besondere Leistung zuzuschreiben wäre indes, als würde man einen Frosch dafür loben, dass er als Wassertier schon Beine hat. Der Gedankengang von mythischen Wesen über Metaphysik und Erkenntnistheorie hin zur hochtechnologisierten, naturwissenschaftlichen Forschung vollzieht sich in ähnlich evolutionären, ihrem Gewicht unbewussten Einzelschritten, wie der Werdegang vom Meeresbewohner zum Menschenaffen.

Fazit zur Theogonie

Eine kurzweilige Lektüre von hohem, historischem Stellenwert, die gleichermaßen beeindruckend und beschämend ist. Darin steckt viel Wahres darüber, wie sich der Mensch im Rahmen seiner Möglichkeiten die Welt erklärt – zuweilen eben sehr erfindungsreich. Schon Platon kritisiert vieles von Hesiods Dichtung als »unwahre Erzählungen« (Politeia, Abschnitt 40a über Musische Bildung), die den jungen Leuten nicht unbedacht überliefert werden, »sondern am liebsten verschwiegen bleiben« sollten. Das geringschätzige Frauenbild hingegen, das Hesiod vermittelt, hatte Platon ebenso verinnerlicht, wie all die Generationen nach im, zum Teil bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts.

Apropos Platon: Hier geht’s zu Blogbeiträgen über Platons Ideenlehre und Platons Höhlengleichnis.

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Das schwache Geschlecht: Schicksal oder Mythos? | Bio mit Beauvoir http://www.blogvombleiben.de/das-schwache-geschlecht-schicksal-oder-mythos/ http://www.blogvombleiben.de/das-schwache-geschlecht-schicksal-oder-mythos/#respond Wed, 01 Aug 2018 07:00:42 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4607 Wie viele Geschlechter gibt es? Zwei. Welche beiden? Männlein, Weiblein. Welches ist stärker? Männlein. Alles klar!…

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Wie viele Geschlechter gibt es? Zwei. Welche beiden? Männlein, Weiblein. Welches ist stärker? Männlein. Alles klar! Jetzt könnte man mit kindlicher Neugier noch weiter stochern: Warum ist das denn so? Und ist das wirklich so? Gibt es das »schwache Geschlecht«? Erwachsene Skepsis funkt dazwischen: Ob Kinder im 21. Jahrhundert diese Verunglimpfung überhaupt noch kennen, »das schwache Geschlecht«? Doch für Kinder hat der folgende Beitrag ohnehin zu wenig Bilder. Und zu viel versaute Sprache. Also bitte, liebe erwachsene Leser*innen, muntere Ein- und Mehrzeller da draußen, lasst uns über Geschlechter sprechen.

Ein Porträt von Simone de Beauvoir und die Frage: Gibt es das schwache Geschlecht?

Von Einfältigkeit und Entfaltung

Ich ziehe für die etwas plakative Frage – Gibt es das schwache Geschlecht? – ein Buch zurate, das schon ein wenig in die Jahre gekommen ist. Das andere Geschlecht (1949) von Simone de Beauvoir. Eine französische Philosophin und ihr monumentales Standardwerk über die Rolle der Frau von Anbeginn der Menschheitsgeschichte bis heute. Ja, okay, heute vor rund 70 Jahren – doch vieles von dem, was Beauvoir schreibt, hat nicht an Gültigkeit verloren.

Doch vorweg: Wer war Simone de Beauvoir? Zu dieser Frage hat ARTE einen amüsanten Film produziert – eine Art »Beauvoir kompakt«, 3 Minuten knackig kurzes Kennenlernen jener Frau, aus deren Werk hier fleißig zitiert wird:

In einem Meer vor unserer Zeit…

Wie es sich für ein Standardwerk gehört, fängt Beauvoir mit ihrer Untersuchung der Geschlechter-Verhältnisse ganz vorne an. Oh nein, nicht bei Adam und Eva – noch weiter vorne: Bei den namenlosen Einzellern, die sexlos durchs urgeschichtliche Meer wabern und lange vor Darwin denken: könnt‘ langsam mal weitergehen, die Evolution…

Ungeschlechtliche Fortpflanzung

Einzellige Lebewesen sind zur selbständigen Teilung fähig, da geht die Vermehrung ganz ohne Sex vonstatten. Diese ungeschlechtliche Fortpflanzung nennt man auch Schizogonie.

Vielzellige Lebewesen können sich ebenfalls ungeschlechtlich vermehren. Dazu gehören etwa die Süßwasserpolypen, winzige Nesseltiere, an denen Knospen wachsen, aus denen dann neue Nesseltiere entstehen.

Beobachtungen haben gezeigt, daß die ungeschlechtliche Vermehrung sich unbegrenzt fortsetzen kann, ohne daß irgendeine Form von Degeneration auftritt. 1

Mit diesem Kommentar möchte Beauvoir der naheliegenden Reaktion entgegenwirken, evolutionären Fortschritt per se mit Überlegenheit gleichzusetzen. Die ungeschlechtliche Fortpflanzung »primitiver« Organismen nutzt sich nicht ab, schadet nicht den Individuen oder ist irgendwie »schlechter« als geschlechtliche Fortpflanzung. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, die Denkkategorien »besser« und »schlechter« mal für eine Weile abzuschalten. Das Leben ist erstmal nur.

Eingeschlechtliche Fortpflanzung

Unter dem Fachbegriff Parthenogenese (oder auch: Jungfernzeugung) fällt die eingeschlechtliche Fortpflanzung. Dabei gehen etwaige Nachkommen aus unbefruchteten Eizellen hervor. Die Parthenogenese ist bei manchen Pflanzen zu beobachten. Ebenso bei Blattläusen (die häufig über mehrere Generationen nur Weibchen hervorbringen), sowie gewissen Schnecken, Fischen, Schlangen und Eidechsen. Bestimmte Hormone sind es, die deren Eizellen vorgaukeln, sie seien befruchtet. Darauf folgt die Teilung und ein neuer Organismus entsteht – ohne, dass andersgeschlechtliche, befruchtende (von Menschen gemeinhin als »männlich« bezeichnete) Artgenossen dazu beigetragen hätten.

Es sind immer zahlreichere, immer kühnere Experimente mit Parthenogenese durchgeführt worden, und bei vielen Arten hat das Männchen sich als vollständig unnütz erwiesen. 2

Zweigeschlechtliche Fortpflanzung

Kommen wir zum nächsten Szenario: 2 Gameten verschmelzen miteinander. Gameten sind in einem Körper diejenigen Zellen, die der geschlechtlichen Fortpflanzung dienen – auch Geschlechtszellen genannt. Es gibt Algen, bei denen diese miteinander zu einem Ei verschmelzenden Gameten äußerlich nicht voneinander zu unterscheiden sind. Das nennt man Isogamie. Es zeigt, dass Gameten (die wir später »männlich«, »weiblich« differenzieren) grundsätzlich gleichwertig sind. Das schwache Geschlecht? Bis hierher: keine Spur.

Nun sind im Laufe der Evolution aus ursprünglich identischen Zellen voneinander zu unterscheidende hervorgegangen: Eizellen (Oozyten, auch »weibliche Geschlechtszellen« genannt) und Samenzellen (Spermatozyten, oder »männliche Geschlechtszellen«).

Zwei in Eins

Doch Achtung! Hier leitet uns die Sprache bereits auf naheliegende Irrwege. Tatsache ist, dass es verschiedenartige Gameten gibt, aus deren Verschmelzung ein Ei entsteht. Diese verschiedenartigen Gameten jedoch unterschiedlichen Geschlechtern (»weiblich«, »männlich«) zuzuordnen, mutet etwas voreilig an. Beide Ausprägungen von Gameten, also sowohl Ei- als auch Samenzellen, können gemeinsam in ein- und demselben Lebewesen vorkommen. Das kennt man zum Beispiel von bestimmten Pflanzen oder auch Ringelwürmern. Wenn Individuen  mehrere Arten von Geschlechtsausprägungen haben, die verschiedenartige Gameten hervorbringen (jene Eizellen und Samenzellen), dann sprechen wir von Zwittrigkeit.

Hermaphroditismus ist ein Fachbegriff für Zwittrigkeit, die sich aus der griechischen Mythologie ableitet – genauer: Aus Ovids Metamorphosen. Darin erzählt der Dichter die Geschichte vom gemeinsamen Sohn der Liebesgöttin Aphrodite und des Götterboten Hermes, nach seinen Eltern Hermaphroditos benannt. Dieser wurde eines Tages von einer Nymphe derart fest umarmt, dass ihre Körper miteinander verschmolzen. Fortan trug Hermaphroditos seine eigenen Geschlechtsmerkmale sowie die der Nymphe – auch, wenn er schlief, wie diese großartige Skulptur zeigt (sie geht auf eine Bronzeplastik aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. zurück):

Schlafender Hermaphrodit

Statue des »Schlafenden Hermaphrodit«

Intersexuell statt »unecht«

Zwar kommt es beim Menschen vor, dass ein Körper unterschiedliche Geschlechtsmerkmale (etwa einen Penis und Brüste) offensichtlich ausprägt. Nicht jedoch, dass in einem Menschen verschiedenartige Gameten (also Ei- und Samenzellen) produziert werden. Deshalb spricht man bei Menschen mit unterschiedlichen Geschlechtsmerkmalen von »Pseudohermaphroditen« oder »unechten Zwittern«. »Pseudo« respektive »unecht« sind jedoch sehr wertende Begriffe, in denen eine Vorstellung von richtig und falsch mitschwingt, die nicht von der Natur, sondern von uns Menschen kommt. Wir sind es, die diese Ausprägung eines Körpers als »Störung« klassifizieren und behandeln.

Menschen, die solch unterschiedliche Geschlechtsmerkmale haben, empfinden solche Begriffe – verständlicherweise – als diskriminierend. Viele bevorzugen die Bezeichnung intersexuell. Und ja, intersexuelle Menschen können schwanger werden (siehe: Diskussion bei Quora), je nach dem, wie die jeweiligen Geschlechtsmerkmale ausprägt sind. Das ist Tatsache. Doch von der Möglichkeit zur Fortpflanzung auf einen »erfüllten Sinn« zu schließen, der eine etwaige Störung wettmacht, das ist wieder der Mensch. Die Natur ist irgendwie und wir Menschen deuten sie. Wie ein Kunstwerk. (Wobei wir bei einem Kunstwerk gerne mal hinnehmen, dass es einfach keinen Sinn macht.)

Was mit Sicherheit behauptet werden kann, ist, daß beide Fortpflanzungsmodi [Getrenntgeschlechtlichkeit und Zwittrigkeit] in der Natur nebeneinander vorkommen, daß einer wie der andere die Arterhaltung sichert und daß die Verschiedenartigkeit der gonadentragenden Organismen [Gonaden sind die Geschlechtsorgane, in denen die Ei- oder Samenzellen gebildet werden] ebenso wie die der Gameten akzidentell [also zufällig] scheint. Die Trennung der Individuen in Männchen und Weibchen stellt sich also als eine unreduzierbare und kontingente Tatsache dar. 3

Platon, Hegel und Konsorten

Mit »kontingent« meint Simone de Beauvoir »beliebig« im Sinne einer möglichen aber nicht notwendigen Trennung. Zu Beginn ihres Buchs Das andere Geschlecht (1949) führt die Autorin beeindruckend vor Augen, wie namhafte Denker diese Trennung zwischen »männlich« und »weiblich« seit jeher entweder erklärungsfrei hingenommen oder logisch zu begründen versucht haben. Dabei schlägt sie den Bogen von der griechischen Antike (Platon, Aristoteles) vor rund 2500 Jahren über das Mittelalter (Thomas von Aquin) bis in die Neuzeit (Hegel) und ihre unmittelbare Gegenwart (Merleau-Ponty, Sartre).

Auch die Ansichten über die jeweiligen Rollen der Geschlechter beleuchtet Beauvoir im Wandel der Zeit. Angefangen mit frühgeschichtlichen Mythen bis hin zur ersten Beobachtung einer Samenzelle, die in die Eizelle eines Seesterns eindringt – im Jahr 1877. Damit war die Gleichwertigkeit dieser verschiedenartigen Geschlechtszellen, die zu einem Ei verschmolzen, eigentlich bewiesen. Und doch wurde das quirlige Verhalten der Spermien und die geruhsam wartende Eizelle vielfach von altklugen Köpfen interpretiert: Als Zeichen für männliche Aktivität und weibliche Passivität. Beauvoir erlaubt sich hier noch einmal einen Verweis auf die eingeschlechtliche Fortpflanzung (Parthogenese), bei der Eizellen durch bloße Einwirkung körpereigener Hormone beginnen, neues Leben hervorzubringen.

Es hat sich gezeigt, daß bei manchen Arten die Einwirkung einer Säure oder eine mechanische Reizung ausreichen kann, um die Eifurchung und die Entwicklung des Embryos auszulösen. Vielleicht wird die Mitwirkung des Mannes an der Fortpflanzung eines Tages überflüssig: das ist anscheinend der Wunsch zahlreicher Frauen. Nichts aber berechtigt zu einer so gewagten Vorwegnahme, denn nichts berechtigt zu einer Verallgemeinerung spezifischer Lebensprozesse. 4

Von der Eizelle zum heimischen Herd

Eine Verallgemeinerung wie die vom Verhalten unserer Geschlechtszellen auf die Verhaltensnormen unserer Geschlechtsrollen, wenn man sagt: »Eizellen sind passiv, also gehören Frauen an den Herd.« Beauvoir warnt überhaupt vor der Freude an Allegorien, während sie auf die genauen biologische Vorgänge bei der Befruchtung eingeht. (Und bevor sich jemand räuspert: ja, ich weiß, ich stelle in diesem Blog selbst eine unverhohlene Vorliebe für Allegorien zur Schau…). Im Moment der Zeugung, so die Quintessenz von Beauvoirs Ausführungen jedenfalls, stellt sich keines der Geschlechter als dem jeweils anderen überlegen dar. Aber ab wann gibt es das schwache Geschlecht denn dann?

Aus befruchteten Eiern gehen beim Menschen – wie bei den meisten Tieren – in etwa gleich viele Individuen zweier verschiedenartiger Geschlechter hervor, von uns »Männchen« und »Weibchen« genannt. Für beide vollzog sich die embryonale Entwicklung identisch, bis zu einem Reifestadium, da sich Hoden oder Eierstock zu bilden begannen. Bis zur neunten Woche hat ein Embryo einen sogenannten Genitalhöcker, aus dem sich Penis oder Vagina bilden. Was beim Penis größer wächst und zur Eichel wird, rutscht bei der Vagina weiter hoch und heißt Klitoris. Quasi das gleiche Ding, etwas anders positioniert. Etwaige Zwischenformen – wie eine zu große Klitoris oder ein zu kleiner Penis, wie sie die Natur manchmal hervorbringt – werden von uns als Störungen bezeichnet und zuweilen operativ angepasst.

Die Sexualtheorie zu Zeiten Beauvoirs ging bereits davon aus, dass das Einwirken bestimmter Hormone auf den Zellhaufen Mensch dazu führt, dass dieser Zellhaufen diese oder jene Geschlechtsmerkmale bekommt. Hormonelles Ungleichgewicht hat dabei Formen der oben beschriebenen Intersexualität zur Folge. Wie genau die Gewichtung zustande kommt? Der Titel von Beauvoirs erstem Kapitel sagt es schon: Schicksal.

»Das schwache Geschlecht« bei Tier und Mensch

Die Philosophin klettert im Folgenden die evolutionäre Stufenleiter des tierischen Lebens hinauf, mit Blick auf das schwache Geschlecht. Wir passieren Stechmücken, von denen das Männchen nach der Befruchtung stirbt, und Schmetterlinge, deren Weibchen nicht einmal Flügel haben, während Männchen mit Flügeln, Fühlern und Scheren ausgestattet sind, sowie allerlei anderes Getier.

Sehr häufig legt [das Männchen] bei der Befruchtung mehr Initiative an den Tag als das Weibchen: es sucht das Weibchen auf, greift es an, betastet es, packt es und zwingt ihm die Paarung auf; […]

Auch wenn das Weibchen provozierend oder willig ist, ist es in jedem Fall das Männchen, das es nimmt: es wird genommen. Das trifft oft buchstäblich zu: entweder weil das Männchen entsprechende Organe hat oder weil es stärker ist, packt es das Weibchen und hält es fest; ebenso vollführt es aktiv die Kopulationsbewegungen. Bei vielen Insekten, bei den Vögeln und den Säugetieren dringt es in das Weibchen ein. Dadurch erscheint das Weibchen als eine vergewaltigte Interiorität. 5

Die Fortpflanzungsfunktion

Zu dieser äußerlichen Fremdherrschaft kommt eine innere Entfremdung durch das befruchtete Ei, dass sich im Uterus festsetzt und zu einem anderen Organismus heranwächst. Simone de Beauvoir beleuchtet die vorwiegend belastenden Auswirkungen von Schwanger- und Mutterschaft, von Zyklus und Wechseljahren auf den weiblichen Körper und kommt zu dem Schluss:

[…] von allen weiblichen Säugern ist die Frau am tiefsten sich selbst entfremdet, und sie lehnt diese Entfremdung am heftigsten ab; bei keinem ist die Unterwerfung des Organismus unter die Fortpflanzungsfunktion unabwendbarer, und bei keinem wird sie mit größeren Schwierigkeiten angenommen. 6

Wir werdende Wesen

Die in Beauvoirs Buch ausführlich beschriebenen Gegebenheiten des Körpers sind deshalb so wichtig, weil der Körper als »Instrument für unseren Zugriff auf die Welt« maßgeblich ist. Trotzdem lehnt Beauvoir die Vorstellung ab, dass all die Belastungen für den weiblichen Körper mit einem festgelegten Schicksal einhergingen. Das bringt uns zu unserer Ausgangsfrage:

Gibt es das schwache Geschlecht?

Diese Frage stelle sich für die Frau nicht in derselben Weise, wie für andere Weibchen irgendwelcher Tierarten, die beobachtet und einigermaßen statisch beschrieben werden könnten. Denn, so betont Beauvoir: Menschen sind stetig im Werden begriffen, niemals fertige Wesen. Beauvoir schreibt in den späten 1940er Jahren:

Die Frau ist keine feststehende Realität, sondern ein Werden, und in ihrem Werden müßte man sie dem Mann gegenüberstellen, das heißt, man müßte ihre Möglichkeiten bestimmen: was so viele Diskussionen verfälscht, ist, daß man die Frau, wenn man die Frage nach ihren Fähigkeiten stellt, auf das beschränken will, was sie gewesen ist, was sie heute ist. Tatsache ist doch, daß Fähigkeiten nur sichtbar werden, wenn sie verwirklicht worden sind. 7

Und eben, dass eine Untersuchung der Fähigkeiten niemals abgeschlossen wäre. Fähigkeiten, die beim Mensch nicht von körperlichen Gegebenheiten abhängig sind.

Die Weltreisende und Journalistin Nellie Bly, hier im Alter von etwa 26 Jahren (1890)

Beauvoir appelliert an den Kontext:

Schwäche zeigt sich als solche nur im Licht der Ziele, die der Mensch sich setzt, der Instrumente, über die er verfügt, und der Gesetze, die er sich auferlegt. […] Wo die Sitten Gewaltanwendung verbieten, kann die Muskelkraft keine Herrschaft begründen: existentielle, ökonomische und moralische Bezüge sind nötig, damit der Begriff Schwäche konkret definiert werden kann. 8

Mit Tiefgang gegen den Mythos

Diese Bezüge stellt Simone de Beauvoir her. In ihrem 900 Seiten umfassenden Werk Das andere Geschlecht nimmt sie die Kunst- und Kulturgeschichte unter die Lupe, die kindliche Entwicklung und Erziehung. Sie untersucht etablierte Argumente und Klischees und liefert damit eine Lektüre, die über Jahrzehnte Bestand hat und noch heute Antworten auf Fragen gibt, die manchmal eben nicht in einem 30-sekündigen Facebook-Video zu beantworten sind. Es sei denn, man heißt Frauke Petry. Das schwache Geschlecht? Abgenickt.

Ich habe nichts dagegen, dass Frauen weiterhin das schwache Geschlecht sind, weil wir objektiv anders sind als Männer.

Frauke Petry (Quelle)

»Das schwache Geschlecht« ist ein Mythos. Eine polemische Formel, die helfen soll, eine Autorität zu etablieren, wo es an Rechtfertigung für diese Autorität fehlt. »Objektiv anders« ist jeder Mensch von seinem Nächsten, »anders« mit »schwach« gleichzusetzen ist irgendwie absurd, für eine Partei, die sich selbst als »Alternative« (also: anders!) bezeichnet – und in dieser Absurdität schon wieder passend. Doch bevor ich mich dazu hinreißen lasse, hier auf den letzten Zeilen das Thema zu wechseln, überlasse ich die Kommentierung von Frauke »weiterhin das schwache Geschlecht« Petry dieser YouTuberin:

Das schwache Geschlecht spricht:

Ebenso lesenswert:

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GATTACA über Designer-Babys und Gentechnologie | Film 1998 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-gattaca-1998/ http://www.blogvombleiben.de/film-gattaca-1998/#respond Fri, 27 Jul 2018 07:00:35 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4397 Der Neuseeländer Andrew Niccol war noch keine 30 Jahre alt, als er das Drehbuch zu Die Truman…

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Der Neuseeländer Andrew Niccol war noch keine 30 Jahre alt, als er das Drehbuch zu Die Truman Show (1998) schrieb und an einen Produzenten verkaufte. Der junge Mann bekam »extra money« dafür, dass er von seinem Wunsch, auch die Regie zu führen, zurücktrat und einen erfahreneren Regisseur walten ließ. Niccol stimmte zu, zog sich zurück und schrieb das Drehbuch zu Gattaca. Dieses Mal ließ er sich die Regie nicht nehmen und setzt sein Skript selbst um. Schließlich kam Gattaca sogar noch ein Jahr vor Die Truman Show in die amerikanischen Kinos.

Mutter Natur und ihre Beta-Babys

Die Truman Show entpuppte sich als cineastisches Verbindungsglied zwischen orwellschen Überwachungsdystopien und dem Big-Brother-Realitätsfernsehen der 2000er Jahre. Inzwischen, im Jahr 2018, hat sich Die Truman Show überholt. Die Vorstellung, dass wir von Geburt bis Tod als Teil eines medialen Spektakels mit globalem Publikum geworden sind, ist gelebte Wirklichkeit geworden. Mit YouTube-Kanälen, auf denen Eltern die ersten Schritte ihrer Kinder dokumentieren, zelebrieren und für höhere Klick- und Abo-Zahlen inszenieren.

In den 2010er Jahren können wir sagen, dass auch Gattaca zur Gegenwart wird. In seinem jüngsten Report hat das Nuffield Council of Bioethics – eine renommierte, britische Organisation, die sich mit bioethischen Fragen beschäftigt – der Einflussnahme auf das Genmaterial menschlicher Embryos grünes Licht gegeben, es sei »moralisch zulässig«.

Die Schauspieler Uma Thurman und Ethan Hawke in dem Film Gattaca

Inhalt: Gattaca handelt von einem natürlich gezeugten Baby, Jungen, Mann (gespielt von Ethan Hawke) in einer »nicht allzu weit entfernten Zukunft«, in der natürlich Gezeugte bereits die Unterschicht der Gesellschaft darstellen. Unter falscher Identität versucht dieser unperfekte Mensch, seinen Traum zu erfüllen.

Hinweis: Diese Kritik enthält keine konkreten Spoiler zu Gattaca. Allein im vorletzten Absatz, »Zur Position des Films«, wird ein Hinweis darauf gegeben, in welche Richtung das Filmende tendiert.  Aktuelle legale Streamingangebote gibt’s wie gehabt bei JustWatch.

Totale: Gattaca im Zusammenhang

Historischer Kontext

Manche Filme kommen also ins Kino, um vom Tag ihrer Veröffentlichung an immer aktueller zu werden. Manche über die Jahre – das Zukunftsszenario aus Her (2013) von Spike Jonze nähert sich rasant unserer alltäglichen Realität. Andere über die Jahrzehnte. Als Gattaca im Jahr 1997 in die amerikanischen Lichtspielhäuser kam, floppte er an den Kinokassen. Obwohl von Kritiker*innen unmittelbar gut aufgenommen, brauchte es seine Zeit. Bis sein Thema für ein immer breiteres Publikum eine immer größere Toleranz bekam. Heute, 20 Jahre nach seinem Kinostart in Deutschland, genießt der Film Gattaca einen gewissen Kultstatus.

Inzwischen leben wir in einer Zeit, da die Kreation von Designer-Babys keine Frage des »Ob«, kaum einmal mehr des »Wann« ist. Sondern nur noch die »Wie genau«. Und die ethischen Bedenken, von denen es jetzt noch abhängt, haben den Menschen in seiner Geschichte auf lange Sicht noch nie am Fortschritt gehindert.

Weil […] Alter und Tod die Folge von nichts anderem als eben spezifischen Problemen sind (Organversagen etc.), gibt es keinen Punkt, an dem Ärzt*innen und Forscher*innen aufhören und erklären: »Bis hierher und keinen Schritt weiter. Wir haben die Tuberkulose und den Krebs besiegt, aber wir werden keinen Finger krümmen, um Alzheimer zu bekämpfen. Die Menschen können weiterhin daran sterben.« | Yuval Noah Harari, Homo Deus

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spreche nicht davon, die Menschen hätten ein »Recht auf Leben bis ins Alter von 90 Jahren.«

Sie spricht davon, der Mensch habe ein Recht auf Leben. Punkt. Dieses Recht hat kein Verfallsdatum. | s.o.

Persönlicher Kontext

Mag sein, dass ich zu viel Harari und Haraway gelesen habe oder meine Vorstellungen von Dataismus und Transhumanismus naiv sind. Selbst beim Betrachten eines Films wie Gattaca spüre ich eine angenehme Aufregung im Anbetracht des Potentials, das solch gentechnologischer Fortschritt entfesselt. Unsere Ängste und Sorgen machen Sinn in dieser Übergangsphase, die vielleicht noch 100 Jahre dauern mag (und somit die Lebenszeit von uns und unseren unmittelbaren Nachkommen umfasst) – da wird es gesellschaftliche Konflikte und ethische Verwerfungen geben. Ungerechtigkeiten ohne Ende – aber wenn wir zurückschauen, sehen wir denn ihren Anfang?

Ungerechtigkeit (und damit: Ungleichheit) haben das Leben immer begleitet. Wenn überhaupt, dann stecken in den gentechnologischen Fortschritten die Möglichkeiten, Ungleichheit zu überwinden. Ob das gut oder schlecht ist, steht als Frage nicht wirklich zur Diskussion, sondern eher als abzuwartende Aussicht im Raum, die von jedem Standpunkt zu jeder Zeit unterschiedlich erscheinen wird.

Close-up: Gattaca im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Betrachte das Werk Gottes; wer kann begradigen, was er krumm gemacht hat? | Buch Kolehet 7,13

Ich glaube nicht nur, dass wir an Mutter Natur herumpfuschen werden. Sondern ich glaube auch, dass die Mutter es will. | Willard Gaylin, Gründer des bioethischen Recherche-Instituts The Hastings Center

Mit diesen beiden Zitaten beginnt Gattaca und schlägt damit noch vor seinem ersten Bild den Bogen über 2000 Jahre Entwicklungsgeschichte des Menschen: Von der gefühlten Ohnmacht, die in der Antike (das Buch Kolehet stammt aus dem 3. Jahrhundert vor Christus) wie zu jeder Zeit davor und lange danach im ehrfürchtigen Glauben ans Übermächtige mündete, bis in das Zeitalter, da der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Aus dem simplen Grund, dass Homo Sapiens es jetzt kann. Die Macht und damit des göttlichen wichtigste Eigenschaft – wenn nicht das Göttliche an sich – hat auf des Menschen Seite gewechselt. Homo Deus.

Die Essenz unserer Gene

Das erste Bild ist tiefblau, erinnert an einen Nachthimmel, den Blick ins Weltall – bis Fingernägel fallen und sich die Einstellung als Detailaufnahme entpuppt. In großformatigen Zeitlupenbildern sehen wir die frisch geschnittenen Fingernägel fallen, dann Haare, wuchtig wie gefällte Bäume. Dazu werden die Vorspanntitel eingeblendet, wobei bei den Namen der Schauspieler*innen gewisse Buchstaben hervorgehoben werden: A, C, G, T. Das sind Abkürzungen für Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, die vier Nukleinbasen, aus denen sich DNA zusammensetzt. In der menschlichen DNA kann sich eine bestimmte Abfolge dieser Basen besonders häufig wiederfinden lassen: GATTACA.

Als der Titel sich aus dem Nachtblau abhebt, setzt auch der epische Gänsehaut-Score von Michael Nyman ein. Mal reinhören? Here you go:

Gattaca geht so tief, wie ein Film nur gehen kann. […] Gibt es etwa eine perfektere Eröffnungssequenz? Das Abschaben des Körpers, seltsam, schauderlich und wunderschön. Hautpartikel wie Schnee, Haar wie fallende Zedern und Follikeln, die sich in einer Helix kräuseln. […] Diesen Film kann man über eine Lebensspanne immer wieder sehen, denke ich, und immer tiefer eintauchen. | Remy Wilkins mit Joshua Gibbs, in einer ausführlichen Diskussion über den Film Gattaca (aus dem Englischen übersetzt)

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Im Vorspann werden mit präziser Bildsprache die Vorbereitungs-Maßnahmen der Hauptfigur Gerome (Ethan Hawke) gezeigt, bevor sie morgens ihr Haus verlässt und zur Arbeit geht. Witziger Kontrast: Diese Maßnahmen bestehen unter anderem darin, dass sich Gerome einen falschen Fingerabdruck samt winzigem Blutpolster aufklebt. Denn beim Betreten der Arbeitsstelle wird eben keine Karte mehr in einen Schlitz gesteckt, sondern der Finger für einen DNA-Check ausgestreckt. Und dann nimmt Gerome an einem Computer Platz, dessen Tastatur-Tasten immer noch so säulenartig hoch hervorstehen, wie bei unseren klotzartigen PCs der Jahrtausendwende. Bemerkenswert, wie man scheinbar simple Ideen wie flache Tastatur so Vordenker*innen, wie sie definitiv hinter Gattaca stehen, nicht gekommen sind.

Doch von solchem Detail-Kram mal abgesehen liegt eine große Kunst darin, ohne gesprochenes Wort einen Charakter und sein Problem zu etablieren und eine Atmosphäre der Bedrohung aufzubauen, die den gesamten Film über gehalten wird. Auch nach 20 Jahren des Wandels, im Bereich der Gentechnologie, sowie hinsichtlich unserer Sehgewohnheiten, ist Gattaca ein Film geblieben, der die Zuschauer*innen zu packen weiß. Vielleicht heute mehr denn je, angesichts der zunehmenden Lebensnähe.

Vor knapp 10 Jahren hat der renommierte Filmkritiker A. O. Scott (The New York Times) sich dem Film im Rahmen eines Critics‘ Picks noch einmal aus Sicht der später Nuller Jahre angenommen. Hier zu sehen (in englischer Sprache):

Zur Position des Films

In dem Buch Angewandte Ethik und Film (2018) wird die Position des Films von Thomas Laubach als eindeutig auf Seiten der »Gotteskinder« beschrieben.

[Gattaca] ergreift Partei für die Unterprivilegierten, die in der grausam-schönen neuen Welt der genetischen Selektion scheinbar keine Chance und keine Perspektiven haben. Am Schluss, so lässt sich Gattaca zusammenfassen, triumphiert der autonome, willensstarke Mensch, und nicht das, was andere aus ihm machen wollen oder wozu sie ihn bestimmen. | S. 70

Fazit zu Gattaca

Ja, dieser Film der späten 90er Jahre zeichnet die Welt der Genmanipulation als beklemmende Sackgasse für alle Unperfekten. Ein abschreckendes Bild für uns schrecklich unperfekten Menschen des frühen 21. Jahrhunderts. All die gentechnologischen Entwicklungen unserer Zeit werden in Gattaca darin gezeigt, wo und wie sie Grenzen setzen, Wege versperren, Leben bedrohen. Man darf, während man einen solch fantastischen, dystopischen, rundum gelungenen Thriller wie Gattaca sieht, aber nicht vergessen, dass diese Entwicklungen auch eine andere Seite haben. Die Seite der Möglichkeiten, die diese Entwicklungen überhaupt erst anspornen und vorantreiben.


Weitere Filmkritiken:

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Novo Amor, BIRTHPLACE und der Wal aus Müll | Musikvideo 2018 | Review http://www.blogvombleiben.de/musikvideo-birthplace-novo-amor-2018/ http://www.blogvombleiben.de/musikvideo-birthplace-novo-amor-2018/#respond Wed, 25 Jul 2018 07:00:35 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4288 Früher Nachmittag, ich bin gerade im Bad. Durch die Tür höre ich, dass Musik läuft. Sonia…

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Früher Nachmittag, ich bin gerade im Bad. Durch die Tür höre ich, dass Musik läuft. Sonia schaut ein Handyvideo. Sie sitzt auf dem Sofa. Draußen brütet die Hafenstadt Padstow unter der Sonne. Das Sprachwirrwarr der Tourist*innen und das Geschrei der Möwen dringen durchs offene Fenster herein, mit den Sonnenstrahlen. Ich setze mich zu Sonia, in den Schatten der Gardine. Das Video hat eine Freundin bei Facebook geteilt. Fünf Minuten, fast vorbei, Sonia scrollt nochmal auf Anfang. So derart im alltäglichen Zwischendurch begriffen, aus irgendwelchen Gedanken gerissen, entdecken wir das Musikvideo zu Birthplace von Novo Amor. Wie eine Flaschenpost im Meer der Massenmedien. Mit wichtiger Botschaft und doch hoffnungslos verloren im ganzen Müll, der das Netz anfüllt.

Im Rachen des Todes

»Hip Hop has always been political, yes, it’s the reason why this music connects« rappt Macklemore in seinem Song White Privilege II, in dem er reflektiert, wie man sich als weißer Mensch zu der Bewegung Black Lives Matter verhalten soll/kann. Rund 50 Jahre vor ihm hat der Künstler Norman Rockwell mit seinem Gemälde The Problem We All Live With (1964) ähnliche Gedanken angeregt, zum selben Problem, das nach wie vor besteht: Rassismus. Ein anderes Problem, das haben die Guerrilla Girls im Jahr 1989 adressiert. Auf einem ausdrucksstarken Poster fragen sie: Do women have to be naked to get into the Met. Museum? Unter dem Schriftzug ist der Sexismus einer Kunstwelt, in der Frauen lieber als Objekte denn Subjekte gesehen werden, in Zahlen belegt. Zahlen, die sich kaum verändert haben, in den Jahren, in denen dieses Poster in neuer Auflage verbreitet wurde, 2005 und 2012.

Kunst ist immer schon politisch gewesen, ja, aber hat sie jemals die Welt verbessert? 

Free Diver Michael Board und ein Manta Rochen im Meer, Standbild aus dem Musikvideo Birthplace von Novo Amor

Was kann Kunst schon ausrichten?

Und jetzt: Ein weiteres Problem. Beim Staunen über das Musikvideo zu dem Song Birthplace von Novo Amor spüre ich einen Stein im Magen. Kann es das Debakel, das darin so bildgewaltig in Szene gesetzt wird, zum Besseren wenden? Oder vielmehr zur Wende beitragen? Bevor wir über das Problem sprechen, und über das Musikvideo zu Birthplace, dieses politische Kunstwerk von atemberaubender Wirkung, hier ein kurzer Blick hinter die Kulissen. Denn die Entstehungsgeschichte ist, wie so oft, nicht minder beeindruckend als das Werk selbst. Da Song und Musikvideo den Titel Birthplace tragen, fangen wir passender Weise mal ganz vorne an. Denn den wenigsten wird einer der wichtigsten Protagonisten dieser Geschichte bis dato bekannt sein: Wer ist Novo Amor?

Novo Amor und die Natürlichkeit

Novo Amor ist der Künstlername eines Mannes, dessen birthplace man als Nicht-Waliser*in wohl kaum aussprechen kann. Llanidloes heißt sein Geburtsort – und der Mann mit bürgerlichem Namen: Ali John Meredith-Lacey. Als solcher ist er am 11. August 1991 zur Welt gekommen. Und als Novo Amor hat er 2012 – im Alter von 21 Jahren – erstmals eine Single mit 2 Tracks veröffentlicht: Drift. Seine erste EP mit 4 Tracks veröffentlichte er am 31. März 2014 mit dem norwegischen Label Brilliance Records. Woodgate, NY lautet der Titel der Platte, die von zahlreichen englischsprachigen Musikblogs besprochen und gefeiert wurde.

»Darin erklingt die sprießende Saat stilistischer Erfindungsgabe«, schreibt The 405 in fast ebenso erdiger, naturnaher Sprache, wie Novo Amor sie in seinen Songs verwendet. Er singt in Woodgate, NY von brennenden Betten und über die Ufer tretenden Seen, von exhumierter Liebe und gefrorenen Füßen. Mit den poetischen Lyrics und den erwartungsvollen Reviews, die großes Potential wittern, erreicht er bereits eine globale Hörerschaft.

Etymologie: Der Name Novo Amor leitet sich vom Lateinischen (novus amor) ab und bedeutet »Neue Liebe«. Nach eigenen Angaben durchlebte Ali Lacey im Jahr 2012 gerade eine Trennung, als er sich mit seinem Musikprojekt sozusagen einer neuen Liebe zuwendete.

Die Nähe zum Visuellen

Schon im Januar hatte Novo Amor eine künstlerische Zusammenarbeit mit dem englischen Produzenten und Songwriter Ed Tullett (1993 geboren) begonnen. Nach dem Erfolg von Woodgate, NY brachten die beiden Musiker am 23. Juni 2014 ihre erste gemeinsame Single heraus: Faux. Schon zu diesem Song drehte der Regisseur Josh Bennett (Storm & Shelter) ein Musikvideo, hier zu sehen. Ein weiteres, frühes Musikvideo gibt es zu From Gold, ebenfalls aus dem Jahr 2014, hier zu sehen. Mittlerweile finden sich auf YouTube zahlreiche, bemerkenswert unterschiedliche, oft stark naturverbundene Musikvideos zu Songs von Novo Amor. Dass dessen Musik eine filmische Interpretation geradezu anregt, ist kein Zufall.

Ich schrieb den Song From Gold für einen Film, der von einem Freund von mir produziert wurde – und das Feedback war wirklich gut, also entschied ich, ein paar Tracks zu sammeln und als EP zu veröffentlichen. Filmmusik ist also quasi, wo meine Musik herkommt. Ich möchte Musik produzieren, die ein wirklich visuelles Element hat. Das fühlt sich für mich wie eine natürliche Evolution an. | Novo Amor im Interview mit Thomas Curry (The Line of Best Fit)

Mehr Plastik als Fische

Nun wollte Novo Amor, der inzwischen ein Album veröffentlicht und ein weiteres in Arbeit hat, ein weiteres Musikvideo entstehen lassen – zu seinem Song Birthplace. Dazu wendete er sich an die Niederländer Sil van der Woerd (Regisseur) und Jorik Dozy (VFX-Artist), mit denen er 2017 bereits das Musikvideo zu Terraform (in Kollaboration mit Ed Tullett) umgesetzt hatte. Sil und Jorik setzten sich hin, um inspiriert von Novo Amors Birthplace eine Idee für ein Musikvideo niederzuschreiben. Hier kommt jenes Problem ins Spiel, dass die beiden niederländischen Filmemacher zu dieser Zeit beschäftigte: Das Problem mit unserem Plastikmüll in den Meeren.

Lasst uns mit ein paar Fakten starten. Mehr als 8 Millionen Tonnen Plastik werden in den Ozean gekippt – jedes Jahr. 1,3 Millionen Plastiktaschen werden auf der ganzen Welt benutzt – jede einzelne Minute. Die United States allein benutzen mehr als 500 Millionen Strohhalme – jeden einzelnen Tag. Und im Jahr 2050 wird mehr Plastik im Meer schwimmen, als Fische. Für all das sind wir verantwortlich. Du. Ich. Alle von uns. Als wir dabei waren, uns Wege zu überlegen, ein öffentliches Bewusstsein für diese globale Krise zu schaffen, sprach uns Novo Amor an, für ein neues Musikvideo. | aus: The Story Of Birthplace

Unsere selbstgemachte Nemesis

Und so entstand eine symbolische Geschichte, über einen Mann, der auf einer perfekten Erde eintrifft und auf seine Nemesis stößt: unsere Vernachlässigung der Natur in Form von Meeresmüll.

Im Herzen unserer Idee stand unsere Vorstellung eines lebensgroßen Wales aus Müll – in Anlehnung an die biblische Geschichte von Jona und dem Wal, in der Jona vom Wal verschluckt wird und in dessen Bauch Reue empfindet und zu Gott betet. Es gibt zahlreiche Berichte über Tiere, die große Mengen Plastik schlucken und daran verenden – einschließlich Wale. Obwohl wir von einem Visual-Effects-Background kommen (also viel mit Computer-Effekten arbeiten), wollten wir, dass unser Wal echt ist, authentisch. | s.o.

Die Geburt des Wals

Die Herausforderung bestand also darin, einen lebensgroßen Wal aus Müll zu bauen, der im Ozean schwimmen sollte. Die Erscheinung dieses Wales wurde dem Buckelwal nachempfunden, der bis zu 60 Meter lang und 36 Tonnen schwer werden kann.

Wir brachten unser Design des Wals in ein kleines Dorf im wundervollen Dschungel von Bali an den Hängen des Agung (ein Vulkan auf Bali). Hier arbeiteten wir mit den Dorfbewohnern an etwas zusammen, dass sich zu einem Gemeinschaftsprojekt entwickeln würde. Rund 25 Männer haben ihre Handwerkskunst im Umgang mit Bambus beigetragen, um den Wal zum Leben zu erwecken. Doch ebenso, wie die überwältigende Schönheit des Dschungels, haben wir hier die ersten Spuren des Antagonisten unserer Geschichte. | s.o.

Bali: Müll auch zu Lande

Dem Müll, der überall in Bali zu finden ist – einem Urlaubsort, der vom Massentourismus und den Mülllawinen, die damit einhergehen, zu ersticken droht. 7 Gründe, nicht nach Bali zu reisen hat die Reisebloggerin Ute von Bravebird im April 2018 zusammengefasst.

Der Wal wurde zunächst in Form eines gewaltigen Skeletts aus Bambus gebaut. Dabei musste der Wal sogar die Location wechseln, weil er aus seinen ersten Werkstätten »herauswuchs«. Zusammengesetzt wurde das Skelett schließlich in der lokalen Stadthalle – wobei die Aktivitäten dort wie gewohnt weitergeführt wurden, Musikunterricht zum Beispiel. Wie die Fertigstellung des Wals vonstatten ging und er seinen Weg ins Meer fand, das dokumentiert dieses liebevoll erstellte Making-of zum Musikvideo in großartigen Bildern:

In aller Ruhe atemlos: Michael Board

Der Mann, der dem Wal aus Müll schließlich im Meer begegnet, ist der britische Rekord-Free-Diver Michael Board. Er beherrscht dieselbe Kunst, wie die Free Diverin Julie Gautier, deren Kurzfilm AMA (2018) wir hier vor kurzem vorgestellt haben: Das lange und tiefe Tauchen ohne Atemmaske. Michael Board bezeichnet 2018 als sein bis dato erfolgreichstes Jahr, was das Tauchen im Wettbewerb angeht. Sein tiefster Tauchgang ging 108 Meter hinab ins Meer, 216 Meter, wenn man den Rückweg mit einrechnet – und das mit nur einem Atemzug.

Das Musikvideo war eine Herausforderung, weil es nicht die Art von Free Diving ist, die ich normalerweise mache. Im Free Diving geht’s eigentlich immer um Entspannung. (…) Normalerweise trägt man einen Flossen und einen Anzug, der vor der Kälte schützt. | Michael Bord in The Story Of Birthplace

Blind im Angesicht des Wals

Stattdessen trägt er in dem Video nur eine Jeans und ein Shirt. Mangels Tauchbrille war Michael Board bei den Dreharbeiten zudem praktisch blind und konnte den Wal nur sehr schwammig wahrnehmen – und nicht, wir wie als Publikum, in seiner ganzen bizarren Pracht. Hier ist das Musikvideo zu dem Song Birthplace von Novo Amor:

Es mutet seltsam an: Der Wal aus Müll hat etwas sehr Schönes an sich. Ich frage mich, ob diese Ästhetisierung des Problems von dem Schaden ablenkt, den der Müll anrichtet. Doch von der subversiven Kraft mal abgesehen: Künstlerisch ist das Musikvideo Birthplace zu dem Song von Novo Amor in jedem Fall ein starkes Statement und ein beeindruckendes Projekt.

Die Lyrics zu Birthplace + deutsche Übersetzung

Die Lyrics zu dem Song hat Novo Amor selbst unter dem Musikvideo gepostet. Hier der Versuch einer angemessenen, deutschen Übersetzung der poetisch vagen Sprache im Songtext:

Be it at your best, it’s still our nest,
unknown a better place.
// Gib dein Bestes, es ist noch immer unser Nest,
da wir keinen besseren Ort kennen.

Narrow your breath, from every guess
I’ve drawn my birthplace.
// Schmäler deinen Atem, mit jeder Vermutung
habe ich meinen Geburtsort gezeichnet.

[Refrain] Oh, I don’t need a friend.
I won’t let it in again.
// Oh, ich brauche keinen Freund.
Ich werde es nicht wieder hineinlassen.

Vom Menschen in Bestform

Be at my best, 
I fall, obsessed in all its memory.
/ Ich gebe mein Bestes,
falle, besessen von all den Erinnerungen.

Dove out to our death, to be undressed,
a love, in birth and reverie.
// Ich tauchte hinaus zu unserem Tode, um entblößt zu werden,
eine Liebe, in Geburt und Tagträumerei.

[Refrain]

Here, at my best, it’s all at rest, 
‘cause I found a better place.
// Hier, in meiner Bestform, ist alles in Ruhe,
denn ich habe einen besseren Ort gefunden.


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HERR ANDERS von Eva Schatz, Stefanie Reich | Kinderbuch 2011 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/buch-herr-anders-2011/ http://www.blogvombleiben.de/buch-herr-anders-2011/#respond Sun, 08 Jul 2018 07:00:48 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4209 Ein Kinderbuch über die Schwierigkeiten bei der Partnersuche. Ist das überhaupt kindgemäß? Was sich zunächst befremdlich…

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Ein Kinderbuch über die Schwierigkeiten bei der Partnersuche. Ist das überhaupt kindgemäß? Was sich zunächst befremdlich anhört, meistern Eva Schatz und Stefanie Reich. In ihrem Bilderbuch Herr Anders geht es vor allem ums Anderssein. 

Herr Anders sucht eine Freundin 

Bloggerin Sonia Lensing hält das Kinderbuch hoch: Herr Anders von Eva Schatz und Stefanie Reich

Wenn man sein Frühstücksbrot am liebsten mit Erdnussbutter, Marmelade, Käse und Pizzatomaten isst, dann isst man anders als das gemeine Volk. Was sich David genüsslich auf der Zunge zergehen lässt, erfreut nicht immer meine Geschmacksknospen. Allerdings bin ich mit meiner euphorischen Liebe für Bäume und meinem Hang zum Babyhumor (wo ist das Vöglein?) auch etwas eigen. Das Bilderbuch Herr Anders zeigt Klein und Groß, worauf es ankommt: Solange man gemeinsam im gleichen Schritt aus der Reihe tanzt, spielt das Anderssein keine Rolle.

Zum Inhalt: Der Protagonist der Autorin Eva Schatz, gezeichnet von Illustratorin Stefanie Reich, ist ein seltsamer Kerl. Dass er wie Spongebob mit einer Schnecke zusammenlebt, erscheint noch als normalstes. Tatsächlich erinnern mich rückblickend einige Eigenarten von Herrn Anders an den berühmten Gegenteiltag aus der Serie Spongebob Schwammkopf. So schwimmt die Hauptfigur des Bilderbuchs stets gegen den Strom, wenn sie beispielsweise bei eingetretener Müdigkeit aus dem Bett springt oder sich seine Hose über den Kopf zieht.  

Er steigt in seinen Pullover, die Hose kommt über den Kopf. Nach einer heißen Himbeersirupdusche kann der Tag beginnen!

Diese alberne, unlogische Art von Witz ist der Stoff, der mein inneres Kind erheitert. Doch auch, wenn das Buch visuell wie inhaltlich humoristisch aufgezogen ist, geht es nicht immer lustig zu. Obwohl Herr Anderes ein grundsätzlich zufriedener Mensch ist, der es sich in seinem Leben schön macht, ist sein Herz ein wenig bedrückt. Was Herrn Anders fehlt, ist eine Partnerin, eine Gleichgesinnte, mit der er sein verrücktes Glück teilen und somit vergrößern möchte. Doch alle Damen, die Herr Anders kennenlernt, verstehen ihn nicht. Zum Glück stolpert er eines Tages über Frau Anders.   

Zur Wirkung des Buches

Das Bilderbuch von Eva Schatz erschien 2011 im Tulipan Verlag, der damit wirbt, besondere Kinderbücher zu verlegen. Mit Herr Anders bestätigt sich dieser Anspruch jedenfalls. Durch seine Originalität in der Figurencharakteristik und Visualität ist das Werk schon jetzt eines meiner diesjährigen Lieblingsbücher, die ich per Zufall in der Stadtbibliothek gefunden habe.  

Ein etwas anderes Motiv in der Kinderliteratur  

Obwohl es sich um ein Kinderbuch ab 4 Jahren handelt, adressiert die Geschichte mit seinem Motiv der Partnersuche auch die Erwachsenenwelt. Das entlockt den Vorleser*innen das eine oder andere Schmunzeln. Mit seinen unglücklichen Verabredungen, der aufkeimenden Hoffnung und niederschmetternden Ablehnung, die Herrn Anders abermals widerfährt, greift die Autorin ein universelles Thema auf, das sich gegenwärtig immer mehr in der virtuellen Welt abspielt. Wieso das Sujet, einen Freund fürs Leben zu finden, also nicht auch kindgerecht aufarbeiten? Dieses Vorhaben gelingt Eva Schatz mit der Leipziger Illustratorin Stefanie Reich, die für etliche Verlage tätig ist, mit Bravour.  

Man selbst bleiben

Die fehlende Wellenlänge zu den potentiellen Herzdamen und die achterbahnmäßigen Gefühle von Herrn Anders werden kindgemäß und mit ausdrucksstarker Mimik dargestellt. Auch, wenn sich Herr Anders besonders viel Mühe für die Damen gibt, bleibt sich die Figur in ihrem Wesen treu. Ein Vorbild für die kleinen und großen Leser*innen. Die Botschaft, immer man selbst zu sein, wird den Kindern und Erwachsenen in der Person von Herrn Anders liebevoll nahegelegt. Denn dass wir uns zeitweise sogar verbiegen, nur damit wir nicht alleine sind, ist kein seltenes Phänomen unserer Gesellschaft. Umso wichtiger, dass die Kernbotschaft des Bilderbuchs so weise und spielerisch für die Kinderperspektive vermittelt wird. 

Randnotiz: Hier geht’s zur Rezension von der Buchhexe zu Herr Anders.

Mit dem dritten und zuletzt veröffentlichten Kinderbuch der Autorin Eva Schatz ist ein Werk entstanden, das sich trotz kinderlebensferner Thematik als kindgemäße Story eignet. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Skurrilität der Geschichte die Fantasie der Kinder anregt und die vielen, verspielten und witzigen Illustrationen von Stefanie Reich im Comic-Stil den Text ideal ergänzen. Die Figuren sind so liebevoll und ausdrucksstark gezeichnet, dass sie bereits auf deren markanten Charakter deuten. Durch einfache Formen und farbenfrohe Panoramabilder und ganzseitige Bilder bleibt viel zu entdecken, ohne das Kind zu überfordern.   

Dies gilt auch für den Textanteil in dem Buch, der reduziert und verständlich gehalten ist und ab und an mit Neuwortschöpfungen amüsiert. Vom Textumfang und Stil ist das Buch deshalb auch ideal für Leseanfänger. Zudem gelingt es der Autorin, trotz untypischem Thema, eine liebenswürdige und spannende Figur zu kreieren, die selbst noch so viel Kindliches in sich trägt, dass man Herrn Anders auf seiner Suche begleiten möchte und ihm die richtige, verrückte Partnerin wünscht, die ihn so liebt und annimmt wie er ist.  

Fazit zum Bilderbuch Herr Anders

Das Bilderbuch Herr Anders von Eva Schatz und Stefanie Reich ist ein unterhaltsames, etwas durchgeknalltes, fantasievolles und weises Buch. Es macht sowohl Kindern als auch Erwachsenen Spaß. Ein Wohlfühlbuch, das Mut macht, zu sich zu stehen und auch mal rigoros anders zu sein. Dafür gibt es 9 Sterne.


Weitere Kinderbuch-Kritiken:

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JURASSIC WORLD: Das gefallene Königreich | Film 2018 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-jurassic-world-das-gefallene-koenigreich-2018/ http://www.blogvombleiben.de/film-jurassic-world-das-gefallene-koenigreich-2018/#respond Mon, 25 Jun 2018 05:00:58 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=3947 Film-Franchises gibt es ja ungefähr seit den Dinosauriern. Oder zumindest den Riesenaffen. Mit King Kong und…

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Film-Franchises gibt es ja ungefähr seit den Dinosauriern. Oder zumindest den Riesenaffen. Mit King Kong und die weiße Frau wurde bereits 1933 der erste Film einer Reihe geschaffen, die just im vergangenen Jahr ihre x-te Fortsetzung fand. Darin tauchten auch immer mal wieder Dinosaurier auf, seit Jurassic Park III (2001) ein schwacher Trost für alle Liebhaber der ledrigen Riesenviecher. Oder waren sie gefiedert? Na, so wissenschaftlich genau muss ein Dino-Kino-Franchise nicht sein – Hauptsache, es lässt’s krachen! Und so freuen wir uns gigantisch über Jurassic World: Das gefallene Königreich, den zweiten Teil der neuen Trilogie, mit der die Urviecher 2015 endlich wieder aus der Versenkung geholt wurden.

Mit Raptoren auf Spatzen schießen

 

Die Schauspieler Ted Levine und Daniella Pineda, Standbilder aus Jurassic World: Das gefallene Königreich | Bild: Universal Pictures

 

Totale: Jurassic World: Das gefallene Königreich im Zusammenhang

Cineastischer Zusammenhang

Nach den ersten 3 Filmen – Jurassic Park (1993), Vergessene Welt: Jurassic Park (1997) und Jurassic Park III (2001) – wurde es lange still um die Dino-Filmreihe. Ganze 7 Godzilla-Filme erblickten seit 2001 weltweit das Licht der Kinosäle (oder landeten direkt im DVD-Regal). Auch ansonsten wurden die ehrwürdigen Urtiere eher für schändliche filmische Zwecke wiedererweckt. Als da wären: Dinocroc vs. Supergator (2010) oder Age of Dinosaurs – Terror in L.A. (2013, von Joseph J. Lawson, auch bekannt für Nazi Sky – Rückkehr des Bösen!).

Nun hätte, ehrlich gesagt, ein Jurassic Park 4 (wie er lange im Gespräch war) nicht weniger trashig geklungen. Die Zahl 4 ist schlichtweg nicht sexy. Welche Filmreihe liebt man denn bitte für ihren Teil 4? Die 3 trifft bei uns Menschen einen Nerv, vom flotten Dreier bis zu allen (anderen) sprichwörtlich guten Dingen. Aber die 4 suggeriert den Abstieg in die Belanglosigkeit. Das erklärt auch die Unbeliebtheit vieler Politiker. Legislaturperioden von 4 Jahren sind einfach eines zu lang…

Schockierender Hinweis (um den Teil-4-Trash-Faktor nochmal zu unterstreichen): Für Jurassic Park 4 wurden zeitweise Mensch-Dino-Hybride in Erwägung gezogen. Wesen also, die halb Homo Sapiens, halb Tyranno Saurus Sonstwas sind. Davon haben wir doch nun wahrlich genug…

Trilogien hingegen sind sexy – und wie! Nachdem die Planung für Jurassic Park 4 nach dem Tod des Drehbuch- und Romanautors Michael Crichton im Jahr 2008 auf Eis gelegt wurden, besinnten sich auch die Jurassic-Park-Produzenten auf diese altbekannte Gewissheit. Im Januar 2010 hieß es dann, die Vorbereitungen für eine Fortsetzung sollen wieder aufgenommen werden, doch völlig anders als geplant: Teil 4 werde der Beginn einer neuen Trilogie.

Die Puppen-Dinos sind zurück

Nach Jurassic World (2015) wurde das Budget für den neuen Teil 2 nochmal um über 100 Millionen Dollar aufgestockt. Damit konnte neben den CGI-Effektfeuerwerken wieder verstärkt auf state of the arts Puppenspieler und Animatroniker gesetzt werden. Es wurden extra Szenen ins Drehbuch geschrieben, die es ermöglichten, Dinos nur teilweise (siehe: das T-Rex-Weibchen im Fahrzeug-Laderaum) und/oder in langsamen Bewegungen (siehe: die gefesselte, betäubte Velociraptorin) zu zeigen. Diese wurden nicht am Computer animiert, sondern »in echt« gebaut und gesteuert. Für diese Rückbesinnung zu den Wurzeln (Animatronik sorgte schon im allerersten Jurassic Park für die denkwürdigsten Szenen) wird Jurassic World: Das gefallene Königreich gebührend gefeiert.

Auch sonst gibt es nennenswerte Reminiszenzen an die 90er-Jahre Jurassic-Park-Filme. Von verfütterten Ziegen über zerdrückte Geländewagen, fliehende Urviecherherden und Türöffno-Saurus bis hin zu Dino-OPs gibt es einige Motive, die Jurassic-Fans Krokodilstränen der Freude in die Augen treiben.

Persönlicher Zusammenhang

Ich hatte das Vergnügen, Jurassic World: Das gefallene Königreich im OH·KINO in Wrocław (Breslau) zu sehen. Englisches Original mit polnischen Untertiteln und Karamell-Popcorn, yay! Auf dem Roadtrip nach Polen hatten wir zuvor eine Nacht in Dresden verbracht, inklusive Besuch im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr. In der dortigen Dauerausstellung kreuzte – zu unserer Überraschung – ein imposanter Elefant unseren Weg. Lebensgroß, ausgestopft. Er führte eine Parade von Tieren an, die von Menschen über die Jahrhunderte für ihre kriegerischen Zwecke missbraucht wurden. Von Sprengstoffspürhunden und Brieftauben über Schafe, deren traurige Bestimmung es war, Minenfelder zu erschließen. Sogar ein Löwe ist in dem Museum zu sehen, mit der Info, dass sich NS-Mann Hermann Göring einen solchen gehalten hat, auf seinem feudalen Anwesen in Carinhall. Einfach nur, um seine Gäste zu beeindrucken. Da hatte wohl jemand etwas zu kompenisieren…

Dass Jurassic World: Das gefallene Königreich also von Bonzen handelt, die Dinosaurier für Millionenbeträge ersteigern möchten, erscheint absolut logisch und sinnvoll. Manche der grimmig dreinschauenden Herren im Film wollen sicher nur ein fettes Urzeit-Haustier, um ihr zartes Ego zu streicheln. Andere denken (natürlich) an Dinosaurier für militärische Einsätze. Es gibt gar einen Dialog, in dem explizit davon gesprochen wird, dass Menschen im Krieg immer Tiere eingesetzt hätten. Da werden sogar Elefanten genannt! Und das nur 2 Tage, nachdem ich erstmals über Elefanten im Krieg gelernt habe! Das ist die fiese Art des Universums, mir zu sagen: »Na, du kleiner Wurm? Genießt du die Matrix?«

Close-up: Jurassic World: Das gefallene Königreich im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Jurassic World: Das gefallene Königreich beginnt Unterwasser, mit Lichtern eines U-Boots, die sich aus der Dunkelheit abheben. Ebenso, wie die Rahmenhandlung von Titanic (1997) anfängt. Bloß, dass der Tauchgang keinem Schiffswrack gilt, sondern dem Skelett eines Dinosauriers. Doch nicht irgendein Skelett! So wie es in Titanic um das größte Schiff im Jahre 1912 geht, dreht sich die Fortsetzung von Jurassic World zunächst um den furchterregendsten Saurier, der im Jahr 2015 noch gewütet hat. Wir erinnern uns an den epischen Kampf zwischen Tyrannosaurus Rex, ein paar Raptorinnen und besagtem Superlativ-Saurier, dem aus verschiedenen Spezies gezüchteten Hybriden Indominus Rex. Der Kampf endete damit, dass das Mosasaurus-Weibchen (die gut bezahnte Unterwasser-Echse, Rex Machina) aus ihrem Becken sprang und Indominus Rex mit zu sich in die Tiefe riss.

Dort unten also sägt nun – 3 Jahre nach dem Untergang von Jurassic World – ein U-Boot mit zwielichtigen Männern an dem Indominus-Skelett herum, um einen Knochen zu bergen. Dieser Knochen ist für die Männer ungefähr so wertvoll, wie das »Herz des Ozeans« für die ihrerseits zwielichtigen Wrack-Plünderer in Titanic. Nur dass Letztere halt in Ruhe den Tresor an die Oberfläche hieven können, während Erstere im Mosasaurus-Becken die Bekanntschaft von Mosasaurus machen. Blöder Zufall, bei so einem großen Becken…

Was hat Mosasaurus die 3 Jahre seit dem letzten Film gefressen, um in ihrem Becken nicht zu verrecken? Achtung, Achtung! Wer so früh mit Logikfragen anfängt, wird in Jurassic World: Das gefallene Königreich Kopfschmerzen kriegen. Stattdessen lieber zurücklehnen, entspannen und die Dino-Action genießen. Über 2 Stunden lang gibt’s die volle Dröhnung, ab dem Vulkanausbruch sogar ziemlich pausenlos: Auf der Insel, Unterwasser, im Schiffsbauch, Keller, Kinderzimmer, auf Dächern und in Käfigen. Neben den üblichen Verdächtigen unter den Dinos natürlich auch wieder mit einem neu gezüchteten Hybrid-Horror-Viech, das die Saurier-Sause erst so richtig in Schwung bringt!

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Ich hab’s genossen, keine Frage. Jurassic World: Das gefallene Königreich ist ein Action-geladenes Dino-Spektakel mit ordentlich Schauwerten. Tatsächlich hätte ich mir gar etwas weniger Action gewünscht. Nur einmal stapft ein Brachiosaurus gemächlich durchs Bild. Diesem schönen Tier und seinen herbivoren Homies ein Weilchen beim Grasen zuschauen, das wär auch schön gewesen. Stattdessen konzentriert sich Jurassic World: Das gefallene Königreich auf die Idee vom »Dino als Kriegswaffe«. Das nimmt teilweise wirklich bescheuerte Züge an.

Es gibt eine Szene, in der ein Auktionär (verkörpert von Schauspieler Toby Jones) seinem vor Geld stinkenden Publikum vorführen will, wie übelst krass der genmodifizierte Hybrid-Dino namens Indoraptor im Käfig neben ihm drauf ist. Dazu richtet der Auktionär ein Gewehr auf einen Mann im Publikum. Als der rote Laserpunkt der Zielvorrichtung auf der Brust des (jetzt nervösen) Mannes flackert, drückt der Auktionär einen bestimmten Knopf am Gewehr. Sofort rastet der Indoraptor in Richtung des nervösen Mannes aus – nur der Käfig hält den Dino davon ab, den Mann zu zerfetzen.

Wann wird’s wissenschaftlicher?

Das soll also effiziente Kriegsführung sein? Mit einer Waffe auf einen Mann zielen, um dann per Knopfdruck einen wütenden Dino auf diesen Mann loszulassen? Um den Mann zu töten, oder was? Und dazu hätte man nicht einfach den guten alten Abzug neben dem fancy Dino-Knopf betätigen können!? »Raptoren auf Menschen loslassen« ist Hollywoods Pendant zu »mit Kanonen auf Spatzen schießen«. Immerhin: Wesentlich bildgewaltiger, als die Spatzen-Variante.

Übrigens hat Colin Trevorrow, Drehbuchautor der beiden Jurassic-World-Filme angekündigt, im dritten Teil werde man sich wieder auf reale Dinosaurier konzentrieren, ohne die genmodifizierten Neuschöpfungen. Jurassic World 3 soll tatsächlich ein »science thriller« werden. Zur Erinnerung daran, wie weit die Dinos in Jurassic World nach heutigem Kenntnisstand von ihren urtümlichen Vorfahren entfernt sind: In Münster gibt es seit 2014 das erste befiederte Velociraptor-Modell in Deutschland zu sehen. Schaut dezent anders aus, als die coole Raptorin Blue:

Die Post-Credit-Szene nach dem Abspann

Apropos Teil 3: Nach dem Abspann lieferte Jurassic World: Das gefallene Königreich noch ein Schmankerl für alle Kinobesucher*innen, die bis zum Ende sitzen geblieben sind und gewissenhaft die Namen aller Beteiligten durchgelesen haben. Fun Fact: Ich heiße David, weil meine Eltern solche Leute sind, die sich Filmcredits durchlesen. Um 1989 herum dachten sie dabei eines schönen Filmabends: »Hey, David, der Name ist gut.« Ich persönlich hoffe ja, es war David Fincher.

NACH DEM ABSPANN jedenfalls gibt es noch ein letztes Bild von ein paar Pteranodons, die um das Eiffelturm-Dublikat in Las Vegas kreisen.

Eine globale Plage?

Denn: Die Dinos sind am Filmende ja ausgebüxt, alle miteinander. Und jetzt streunen sie frei durch die Welt. Die Flugsaurier an Amerikas Eiffelturm zu zeigen ist eine schönes Sinnbild für diese Dino-Klone, die ja ihrerseits »nachgemacht« sind von den urzeitlichen »Originalen«. Gleichzeitig stellt der Eiffelturm ein Symbol für Europa dar und eröffnet damit neue Dimensionen. Die Dinos haben nicht nur ihre Insel verlassen, nein, sie könnten auch den Kontinent verlassen. Jurassic WORLD eben.

Sehr, sehr coole Vorstellung. Den Film möchte ich gerne sehen. Es gibt sogar schon einen Starttermin. Am 11. Juni 2021 kommt Jurassic World 3 in die Kinos. Einfach schonmal freihalten. ABER: Ich hoffe sehr, die Macher*innen finden für die weltweite Ausbreitung der Dinos eine glaubwürdige Erklärung. Denn ein paar Dutzend große Echsen einzufangen, die im weiteren Umkreis der Villa rumlaufen, aus der sie entflohen sind, das sollte mit heutigen Mitteln doch zu händeln sein? Für den glaubwürdigen Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation braucht es bitteschön ein bisschen mehr, als die Szene von einer Velicoraptorin, die sich ihren Weg durch eine City beißt.

Fazit zu Jurassic World: Das gefallene Königreich

Ach, das war ein großer Spaß! Die Spannung ist natürlich mäßig, weil man nie wirklich damit rechnen muss, dass die Dinos das kleine Mädchen zerreißen. Wann immer die junge Schauspielerin Isabella Sermon um ihr Leben bangt, können sich die Zuschauer*innen entspannt zurücklehnen: Ist immer noch Jurassic World, nicht Game Of Thrones. Hier ist die Welt noch in Ordnung, Dinos hin oder her. Abgesehen davon, dass sich Jurassic World: Das gefallene Königreich im Vergleich zum ersten Teil der neuen Trilogie zwar Mühe gibt, erneuten Sexismus-Vorwürfen auszuweichen, dies aber nur bedingt gelingt. Die weibliche Hauptrolle Claire Dearing (gespielt von Bryce Dallas Howard) bleibt im Schatten von Chris Pratt und dort trotz anderen Schuhwerks (die Stöckelschuhe aus dem ersten Jurassic World sind gewichen) eher im ständigen Opfer/Beute-Modus.

Die Journalistin Anne Cohen (Refinery29) kann tatsächlich nur der Rolle von besagter Isabella Sermon etwas Positives abgewinnen. Ansonsten findet sie erschreckend viele gute Argumente dafür, dass Jurassic World bis dato sexistischer ist, als der erste Jurassic-Park-Film in den 90er Jahren. In diesem Sinne überlasse ich der fiktiven Paläontologin Dr. Ellie Sattler mal das letzte Wort:

Über Sexismus in Überlebenssituationen können wir diskutieren, wenn ich zurück bin. | Ellie Sattler, in: Jurassic Park (1997)


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Der Beitrag JURASSIC WORLD: Das gefallene Königreich | Film 2018 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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