Fahrenheit 11/9 · Polit-Doku von Michael Moore | Film 2018 | Kritik

Donald Trump als »der letzte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika« – die These aus dem Trailer zu Michael Moores Doku Fahrenheit 11/9 lässt sich gar nicht so einfach als Übertreibung abtun. Dieser Filmemacher war es immerhin, der die Trump-Wahl vorhergesagt hat , ebenso wie schon Trumps Nominierung zum Kandidaten der Republikaner, lange zuvor. »Nie in meinem Leben wollte ich so sehr Lügen gestraft werden wie eben jetzt« – das schrieb Moore im Sommer 2016. Inzwischen dürfte sich die Aussage überholt haben. Denn was Fahrenheit 11/9 andeutet, ist schlichtweg ein nie enden wollender Alptraum. Hoffentlich liegt Michael Moore falsch. Doch Hoffnung, das stellt er nach zweistündiger Bestandsaufnahme klar, die bringt uns auch nicht weiter.

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Die Hoffnung stirbt zuletzt, was dann?

Wir haben gehofft. Doch diese Hoffnung hat uns getötet. Zu hoffen war gutgläubig, passiv und beruhigend. Aber wir brauchten keine Ruhe, sondern Action. | Michael Moore in Fahrenheit 11/9

Was rege ich mich eigentlich auf , als deutscher Bundesbürger über amerikanische Politik? Hab doch keine Ahnung, keinen Einfluss. Und als knapp 30-Jähriger offenbar: keinen Vergleich. Als Schüler feierte ich Bowling for Columbine (2002) – Michael Moores Doku über Waffengewalt in Amerika – als Offenbarung. Für meine Eltern war sie old news . Ebenso Sicko (2007) übers US-Gesundheitswesen: »Die Amis« lieben halt ihre Waffen und pfeifen auf eine staatliche Krankenversicherung, so what? Sind doch bekannt, die Fakten, Zahlen, Argumente. Moore mag das alles unterhaltsam aufbereiten – auch in Fahrenheit 11/9 , mal wieder –, aber das Lachen bleibt ja mit Ansage im Halse stecken. Und spätestens beim Abspann bist du deprimiert, also… wozu? Zumal die Redewendung »Heute in Amerika, morgen bei uns« vielleicht für Rummel wie Halloween oder Fidget Spinner gelten mag. Nicht jedoch für die wichtigen Dinge des Lebens. Die haben wir bereits.

Fidget Spinner und Faschismus

Auch wenn nur Monate vor dem Kinostart von Bowling for Columbine im November 2002 der Amoklauf in Erfurt stattgefunden hat: Unsere Waffengesetze sind streng und wurden infolge dieser Tat noch verschärft. Auch wenn erst Monate vor dem Kinostart von Sicko im Oktober 2007 eine Gesundheitsreform den Deutschen die Versicherungspflicht beschert hat: Wir sind krankenversichert. Läuft doch. Und auch der Faschismus, der sich in Amerika seit Jahrzehnten schrittweise den Weg bahnt, hatte bei uns seine unrühmliche Blütezeit und klebt seitdem als vertrocknetes Giftkraut in deutschen Geschichtsbüchern. Kennen wir. Sind gewarnt. Keine Panik. Zeitgenössische Giftspielchen sind doch nur ne sehr späte AfDermath of World War II .

Zwischen den beiden genannten Frühwerken, im Jahr 2004, da erschien Michael Moores bis dato erfolgreichster Film. Mehr als das: Fahrenheit 9/11 über die Nachwirkungen der Terroranschläge auf der WTC ist der kommerziell erfolgreichste Dokumentarfilm aller Zeiten . Sein Ziel indes, die Wiederwahl von George W. Bush zu verhindern, verfehlte er.  Der Titel war angelehnt an Ray Bradburys berühmte Dystopie Fahrenheit 451 , die wiederum nach dem Hitzewert 451°F benannt ist, bei dem Papier (zumindest Bradburys Annahme nach) entflamme. In dem Science-Fiction-Roman geht es um eine Welt, in der Bücher verboten sind.

Brennende Bücher und banaler Scheiß

Dass Moore seine Doku über die Folgen des 11. Septembers (2001/9/11) im Stil des Klassikers betitelte – Fahrenheit 9/11 als der Hitzewert, bei dem »Freiheit in Flammen aufgeht« – veranlasste den Autor Bradbury zu der Aussage, Moore sei ein »Drecksack« , ihm ungefragt seinen Titel zu klauen. Voll schade, dass auch große Intellektuelle manchmal kleingeistige Idioten sind.

Inzwischen ist Ray Bradbury von uns gegangen. Sollte es ein Leben nach dem Tod geben, wird er sich im Jenseits vielleicht fragen, wie er sich je derart barsch über so banalen Scheiß wie einen Filmtitel aufregen konnte. Sollte es kein Leben nach dem Tod geben, müssen wir uns im Hier und Jetzt fragen, wie wir uns überhaupt an so banalem Scheiß wie der Bradbury-Drecksack-Anekdote aufhalten können. Oder mit der Beobachtung, dass Moore zum Auftakt seines jüngsten Werks höchst bedeutungsschwanger erst seinen alten Erfolgstitel einblendet und dann die Zahlen verschiebt.

Toll. Genial. Zurück zum Thema.

Es geht um die gefährlichste terroristische Vereinigung aller Zeiten. Gefährlicher als die RAF, der NSU und der IS. Gemeint ist die GOP. Die Grand Old Party. Die Republikanische Party in Amerika. Sie hat rund 30 Millionen Mitglieder und ist damit auch die größte terroristische Vereinigung seit der NSDAP. Das klingt weltfremd. Total überzogen. Die Republikaner, die sechs der letzten neun US-Präsidenten gestellt haben, als Terror-Vereinigung. Doch es ist durchaus ernst gemeint.

Hat es jemals eine Organisation in der Menschheitsgeschichte gegeben, die so hingebungsvoll die Zerstörung organisierten menschlichen Lebens auf der Erde betrieben hat? | Noam Chomsky bei Democracy Now!

Wenn reiche Männer Wasser sparen

Ein Beispiel muss her. Sie sind so zahlreich, dass man ein besonders widerwärtiges nehmen kann – und muss , um dieser Tage Gehör zu finden. Trotz braucht man gar nicht wählerisch zu sein oder lange zu suchen. Was findet sich vor der eigenen Haustür?

Michael Moore wurde 1954 in Flint, Michigan geboren. Eine Stadt mit rund 100.000 Einwohner*innen, von denen ein Viertel unterhalb der Armutsgrenze leben, seit General Motors in den 80er und 90er Jahren einige Standorte dort geschlossen hat. Die Armut seiner Heimatstadt hat Moore schon in seinem Regiedebüt Roger & Me (1989) über GM-CEO Roger Smith und den wirtschaftlichen Niedergang Flints, eindrücklich dargestellt und im Laufe seiner Karriere zum populärsten Dokumentarfilmer der Gegenwart immer wieder zum Thema gemacht. Etwa in Bowling for Columbine , der Moore den Oscar für »Best Documentary Feature« bescherte. Und nun auch in Fahrenheit 11/9 .

Michael Moore hält sich hier nicht lange an Donald Trump auf. Dessen Verbrechen und Unsitten sind Programm, zur Schau getragen in aller Öffentlichkeit. In den ersten knapp 20 Minuten fasst Moore ein paar Highlights zusammen – besonders unangenehm: Trumps Verhältnis zur Tochter Ivanka –, dann richtet Moore in Fahrenheit 11/9 den Fokus auf Flint .

Dort ist die Lage von dramatisch in katastrophal umgeschlagen, als kurz vor den Gouverneurswahlen 2014 den Gouverneur von Michigan – Rick Snyder, GOP-Mitglied und Multimillionär – die Idee bekam, Flints Armut zu bekämpfen, indem er an der Wasserversorgung (!) sparte. Sie wurde im April 2014 umgestellt und privatisiert. Fortan kam das Wasser nicht mehr aus dem Huronsee, sondern dem Flint River, einem durch General Motors verseuchten Fluss. Die Auswirkungen der Keime und Bleivergiftung in der Bevölkerung sind schockierend, der Umgang mit den Verantwortlichen, die Zahlen erkrankter Kinder fälschen und das Problem kleinreden, macht wütend.

Übrigens: THIS IS AMERICA

Die Vergiftung einer amerikanischen Stadt

Hier ein Sonderbeitrag von Democracy Now! , der die Wasserkrise in Flint ausführlich beleuchtet (auf Englisch; einen deutschsprachigen, in seiner Kürze aber ziemlich verharmlosenden Beitrag findet man bei euronews ):

Die Mehrheit der Bevölkerung Flints ist schwarz, weshalb Michael Moore die Krise auch vollmundig als »racial crime« bezeichnet. Hierzulande würde man von Hasskriminalität sprechen.

Absurderweise hat sich sogar Barack Obama an der Wasserkrise in Flint die Hände schmutzig gemacht, wie Fahrenheit 11/9 in einem seiner ernüchterndsten Momente zeigt. Der Heiland – ein Heuchler. Ob nun Hass, Gier, Ignoranz oder eine Mischung aus allem der Antrieb hinter dieser fortwährenden Armut- und Umweltkrise ist, sie dient als Paradebeispiel für die »Politik« Trumps, die niemandem dient außer denen, die sie machen oder finanzieren. Oder eben für den Terror der GOP, der immer wieder auffällig ausgewählte Personengruppen der Gesellschaft trifft.

Keine Terroristenorganisation hatte bisher einen Plan, wie man eine ganze amerikanische Stadt vergiftet. Dazu brauchte es die Republikaner von Michigan […] | Michael Moore in Fahrenheit 11/9

…und Action , bitte!

Im ersten Viertel des Films Fahrenheit 11/9 liegt das Gewicht auf den Missständen, Untaten und Übeltätern. Daraufhin rückt Michael Moore die Hoffnungsträger in den Vordergrund. Oder, weil »Hoffnung« bekanntlich nichts bringt: Die Actionheld*innen .

Michael Moore spricht mit den Überlebenden des Schulmassakers von Parkland, bei dem am 14. Februar dieses Jahres ein 19-Jähriger 14 Mitschüler*innen und 3 Erwachsene erschossen hat. Nach einer betäubenden »thoughts and prayers«-Collage (wie verachtend sind »Gedanken und Gebete« von Politiker*innen, die sich gefälligst durch Taten und Gesetze auszeichnen sollen?) besucht Moore die jungen Organisator*innen hinter March For Our Lives . Dabei handelt es sich um eine Protestbewegung von Teenager*innen, deren Demonstration im März 2018 die drittgrößten Massenproteste in der amerikanischen Geschichte waren, mit über 1,2 Millionen Teilnehmer*innen (größer waren nur die beiden Women’s Marches 2017/18 – ein Seitenhieb auf die Sexualstraftäter in den Reihen der mächtigen Männer aus Politik und Medienwelt bleibt in Fahrenheit 11/9 natürlich nicht aus).

Hier die Gänsehaut-Rede von Emma González , einer überlebenden Schülerin, die lautstark strengere Waffengesetze fordert. Eine junge Stimme der Vernunft, die sich in Rage redet (hier präsentiert von Democracy Now! ):

Randnotiz: Etwas einseitig verweise ich hier immerzu auf die Berichterstattung von Democracy Now! Und zwar in voller Absicht und der festen Überzeugung, dass es sich bei dem Politikmagazin von Amy Goodman und Juan González um aktuell eines der besten Formate in Sachen Themenwahl und Blickwinkel im World Wide Web handelt. Dringende Empfehlung.

Fazit zu Fahrenheit 11/9

Apropos dringende Empfehlung : Der Film Fahrenheit 11/9 hat eine kurze Halbwertszeit, schlimmstenfalls ein nahes Verfallsdatum. Schon jetzt bringen Trump und Co. so »verrückte« Ideen ins Gespräch, wie eine Verschiebung der Präsidentschafts-Wahlen 2020, oder eine Verlängerung seiner Amtszeit – oh, nicht nur auf 8 Jahre, lieber 16 Jahre, oder gleich auf Lebenszeit , wie Xi Jinping.

Klingt unrealistisch? Das Staatsoberhaupt der weltgrößten Militär- und Wirtschaftsmacht ist ein Reality-TV-Star und selbsternannter »Muschi-Grabscher«. Einer, der gerne über die Brüste seiner Tochter plaudert, eine »Space Force« aufbauen möchte, nebenbei Kinder von ihren Eltern trennt und die Ermordung von US-Staatsbürgern in fernen Botschaften aus Geschäftsinteressen ohne Konsequenzen sein lässt. Wer will sich anmaßen, Szenarien wie die Verlängerung einer Amtszeit als »unrealistisch« einzuordnen?

Der Mord an Jamal Khashoggi wird in Fahrenheit 11/9 nicht mehr berücksichtigt. Ebenso die Berufung des mutmaßlichen Sexualtäters Brett Kavanaugh ins höchste Richteramt der USA. Selbst wenn man die Vorwürfe der drei Frauen gegen ihn nicht berücksichtigt, konnte man doch mit eigenen Augen bezeugen, wie sich dieser jähzornige, parteiische, lügende Mann in den Anhörungen vor dem Senat für jedes Richteramt disqualifiziert hat. Oder haben sollte, in einer besseren Welt. Stattdessen sitzt er heute im 9-köpfigen Obersten Gericht der USA, dem Supreme Court (neben einem weiteren mutmaßlichen Sexualtäter, Clarence Thomas).

Nie Demokratie gewesen

Zu viel ist passiert , in den vergangenen Monaten seit Fertigstellung von Fahrenheit 11/9 . Einige der Kandidat*innen für die Midterm Elections kommen in Michael Moores neuem Film (ebenso wie Bernie Sanders übrigens) zu Wort – der Ausgang dieser Zwischen-Wahlen jedoch nicht. Tatsächlich haben es die Demokraten Anfang des Monats geschafft, das Repräsentantenhaus zurück zu erobern. Doch es braucht mehr, viel mehr Bewegung, bis Actionheldinnen wie Alexandria Ocasio-Cortez es schaffen, die korrupte Altherren-Mannschaft an der Spitze der Behörden und Institutionen dieser schwer geschädigten Nation abzulösen. Bevor es zu spät ist.

In einigen Monaten werden wir erkennen, dass wir nie eine echte Demokratie hatten. Und dass das, was wir hatten, durch einen nationalen Ausnahmezustand ausgelöscht wurde. Wir werden uns dann fragen, wann der Moment gewesen wäre, um die Dinge noch rechtzeitig zum Guten zu wenden? | Michael Moore in Fahrenheit 11/9

Ich möchte Michael Moore nicht den I-Told-You-So-Dance tanzen sehen. Und er möchte ihn nicht tanzen, ziemlich sicher.

Nachtrag: Inzwischen – Anfang 2019 – wir die Idee des nationalen Ausnahmezustands von Trump immer häufiger öffentlich thematisiert .

Hier ist Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) – ab Januar 2019 die jüngste Frau im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten von Amerika:

Nachtrag: Hier noch ein deprimierendes kleines Gedanken-Experiment von AOC, mitten zwischen ihren neuen Sitznachbar*innen im Kongress:

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