Afghanistan · Krieg der Männer, Leid der Frauen | Kultur-Weltreise

Der Beginn unserer Kultur-Weltreise führt nach Afghanistan. In das krisengeschüttelte Land am Hindukusch. Inwiefern dessen geografische Lage für die fortwährenden Krisen mit- aber weiß Gott nicht alleinverantwortlich ist, veranschaulicht eine kleine Auswahl kultureller Werke aus und über Afghanistan. Vier Bücher und zwei Filme sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. Die dominierenden Themen sind Krieg und Korruption sowie die Situation der Frauen in Afghanistan.

Das Krisenland am Hindukusch

Ich packe meinen Koffer… mit folgenden Büchern und Filmen aus und über Afghanistan (die Links führen zu einem entsprechenden Produkt-Angebot im Online-Handel):

  • Kleine Geschichte Afghanistans (Buch 2017)
  • Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen (Buch 2002)
  • Ich erhebe meine Stimme (Buch 2009)
  • Drachenläufer (Film 2007)
  • Osama (Film 2003)
  • Wenn Katzen Menschen werden: Erzählungen (2005)

Wusstest du… ?

  • In Afghanistan standen einst die größten Buddha-Statuen der Welt, 35 und 53 Meter hoch – bis die Taliban das Weltkulturerbe im Jahr 2001 zerstörten.
  • Wegen niedriger Lebenserwartung und vieler Kriegstoten hat Afghanistan den weltweit höchsten Bevölkerungsanteil junger Menschen – bei einer Analphabetenrate von 60 Prozent.
  • Im Jahr 2018 kamen über 3.800 Zivilist*innen in Afghanistan gewaltsam zu Tode – laut UN-Bericht ein Rekordhoch; in US-Berichten werden zivile Opfer oft unterschlagen.

Lesetipp: WePresent bietet ein großes Porträt der »Frauen von Kabul« mit einer Portion Optimismus: The Woman of Kabul. Maybe in five, ten years, Kabul will be a very different place (englischsprachig)

Zur Einführung: Afghanische Geschichte

Eine Beschreibung der Verhältnisse in Afghanistan erfolgt […] mit Begriffen wie »Stämme«, »steinzeitlich«, »mittelalterlich«, »Anarchie«, »Blutrache« – also Begriffen, die einer vergangenen Welt angehören, von der die westliche Zivilisation glaubt, sie längst hinter sich gelassen zu haben. | S. 9

Wer sich mit Afghanistan so wenig auskennt wie ich, ist zur Einführung mit Conrad Schetters Kleine Geschichte Afghanistans gut bedient. Eine kompakte, kurze Lektüre zur Historie des Landes von der Antike bis in die Gegenwart. Oder, in Schetters Worten: der erste Versuch »einer Gesamtdarstellung der afghanischen Geschichte in deutscher Sprache«. Darin werden zentrale Probleme Afghanistans übersichtlich verdichtet dargestellt. So offenbaren sich gleich zu Beginn der Auseinandersetzung mit diesem Land, das viele von uns nur als Kriegsgebiet aus den Nachrichten kennen, fünf Grundbezüge für die heutige Situation Afghanistans. Die besagte geografische Lage ist wie gesagt nur eine davon. [ mehr zum Buch ]

Zum Ausgleich: Afghanische Frauen-Schicksale

Der Lehrer hat gesagt, wenn ihr auf eine Mine tretet oder von einer Rakete getroffen werdet und eurer Arm oder euer Bein abreißt, müsst ihr den Stumpf sofort abbinden, damit ihr nicht verblutet. | S. 78

Die Männer schreiben Geschichte – die Kinder und Frauen erleiden sie. Während Schetters Werk den Fokus doch sehr auf die Männer legt, stellt Siba Shakibs Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen ein bedrückendes Gegengewicht dar. Der Roman erzählt die Geschichte eines »normalen« afghanischen Frauenschicksals in all seiner Aussichtslosigkeit. Dabei werden viele Aspekte aus Schetters historischer Einführung hier in konkreten Szenen vermittelt. So etwa das prekäre Stadt-Land-Gefälle in Afghanistan, wenn die Familie der Hauptfigur Shirin-Gol aus den Bergen in Hauptstadt kommt.

Häuser aus Stein, so groß wie Berge, Menschen, die es eilig haben, Autos, die schwarzen Rauch auspusten, stinkende Luft, schmutzige Bäume, Frauen ohne Schleier, Mädchen mit nackten Armen, Jungen, die dummes Bergvolk rufen und damit Shirin-Gol und ihre Familie meinen. Shirin-Gols Vater, der geschrumpft und kleiner ist, als er in den Heimatbergen war, senkt verschämt den Blick – Shirin-Gols Brüder, die Steine aufheben, sie wieder fallen lassen – Shirin-Gols Schwestern, die heimlich unter ihren Schleiern hervorlugen. Shirin-Gols Mutter, die ihnen dafür mit flacher Hand eine auf den Hinterkopf haut. Kabul, die Hauptstadt. | S. 32

Shakib beschreibt das Leben ihr Hauptfigur von der Geburt bis zum Tode beschreibt, über mehrere Jahrzehnte hinweg. Dadurch ist dieser Roman aus dem Jahr 2017 auf seine Weise ein »kleine Geschichte Afghanistans«. [ mehr zum Buch ]

Zur Gegenwart: Afghanische Hoffnung

Weder Schetter noch Shakib stammen aus Afghanistan. Trotz all ihrer Kenntnis über das Land dürfen die Stimmen derer, die es als Heimat erleben, nicht fehlen. Erst recht nicht, wenn sie mit solcher Wucht unsere Aufmerksamkeit einfordern. Ich erhebe meine Stimme von Malalai Joya liest sich als wichtige Ergänzung zu den ersten beiden Büchern. Sie legen das historische und emotionale Fundament, auf der Joyas eigene, außergewöhnliche Geschichte volle Wirkung entfalten. Geboren im Kriegsjahr 1978 kennt die junge Frau, die vom Flüchtling zur einflussreichen Fürsprecherin afghanischer Menschen wurde, faktisch nur im Krisenzustand. Frauen leben dort immer noch am sichersten, wenn sie vollverschleiert unter der Burka (Joya: »Leichentuch«) aus dem Haus gehen. Insbesondere außerhalb größerer Städte ist vielen Mädchen eine ordentliche Schulbildung nicht zugänglich – und eine Besserung nicht in Sicht.

Die meisten Menschen im Westen haben die Meinung übernommen, dass Intoleranz, Brutalität und die grausame Unterdrückung von Frauen in Afghanistan mit dem Taliban-Regime begonnen haben. Aber das ist eine Lüge – noch mehr Sand, den die Warlords, die die US-gestützte, sogenannte Demokratische Regierung Hamid Karzais dominieren, der Welt in die Augen streuen. In Wirklichkeit wurden einige der schlimmsten Gräueltaten unserer jüngeren Vergangenheit während des Bürgerkriegs von den Männern begangen, die jetzt wieder an der Macht sind. | S. 41

Zur aktuellen Lage Afghanistans

Malalai Joya prangert an – die Probleme und diejenigen, die sie verursachen. Ihr Buch erschien 2009 und reicht somit über die Handlung von Shakibs Buch noch einige Jahre hinaus – und in seiner Aktualität reicht es sogar über die eigene Veröffentlichung hinaus. Bei näherem Blick auf die aktuelle Regierung Afghanistans sind die korrupten Zustände, die Joya beschreibt, nach wie vor gegeben. [ mehr zum Buch ]

Auf Joyas dringende Empfehlung hin, sich über die Dinge in Afghanistan auf dem Laufenden zu halten, hier einige Links zu aktuellen Nachrichten aus dem Land:

  • SPIEGEL ONLINE über Afghanistan
  • tagesschau.de über Afghanistan
  • Democracy Now! über Afghanistan
  • Updates von Revolutionary Association of the Women of Afghanistan ( RAWA )

Oh, und ein bemerkenswerter Satz von Joya noch, die unter den Taliban trotz aller Verbote von Bildern und Musik heimlich Filme sah. Sie unterstreicht die Wichtigkeit solchen Kulturguts für uns Menschen, indem sie feststellt:

Als die Taliban 2001 stürzten, gehörten Kassetten und DVDs zu den ersten Dingen, die die Menschen kauften.

Afghanistan in Bild und Ton

In diesem Sinne wenden wir uns nun einigen Filmen zu. Zunächst einer Doku, die im direkten Zusammenhang mit Malalai Joya steht – nämlich ihren Wahlkampf 2005 begleitet. Enemies of Happiness (2006) zeichnet ein schockierendes Bild von jener Situation, aus der Afghanistan als Demokratie hervorgehen sollte. Wann hat man schonmal eine Wahl-Veranstaltung gesehen, auf der die Kandidierenden darauf hingewiesen werden, dass sie Wählende nicht mit Waffen bedrohen dürfen? Sogar mit bunten Fotopostern, die eine entsprechende Handlung als No-Go durchstreichen!

Hollywood-Produktionen rund um Afghanistan konzentrieren sich nicht selten rein aufs dortige US-Kriegstreiben und ergeben Action-Spektakel wie Operation: 12 Strong (2018), Special Forces (2011) oder Lone Survivor (2013, zur Filmkritik ). Aus dieser Masse militärischer »Afghanistan-Filme« sticht die amerikanische Produktion Drachenläufer (2007) mit einem Fokus auf kulturelle Aspekte hervor. Der Film von Marc Forster basiert auf dem Bestseller des berühmten afghanischen Autors Khaled Hosseini. [ mehr zum Film ]

Während Drachenläufer von der Kindheit zweier Jungen in Kabul erzählt, handelt Osama (2003) von einem Mädchen-Schicksal. Das besondere an diesem Film ist, dass er von einem Afghanen in Afghanistan gedreht wurde – kaum, da es nach dem Sturz der Taliban wieder möglich war. Osama erzählt – ähnlich wie der Oscar-nominierte Animationsfilm Der Brotverdiener (2017) – die Geschichte eines afghanischen Mädchens, das sich als Junge ausgeben muss, um die Familie zu ernähren. Der Hauptdarstellerin Marina Golbahari (*1989) begegnete dem Regisseur als bettelndes Kind in Kabul. [ mehr zum Film ]

Weitere Filme: Mit No Woman (2015) drehte der afghanische Regisseur Yama Rauf einen experimentellen Kurzfilm, der etliche Preise gewonnen hat und auf Vimeo verfügbar ist. Und hier geht’s noch zu dem Kurzfilm Buzkashi Boys (2014) über Kinder im vom Krieg zerrütteten Kabul.

Schlußwort von Spôjmaï Zariâb

In dem Erzählband, der 2005 unter dem Titel Wenn Katzen Menschen werden veröffentlicht wurde, schreibt die afghanische Schriftstellerin Spôjmaï Zariâb übrigens über die Sage von Rostam und Sohrab , die in dem Film Drachenläufer am Rande thematisiert wird. Außerdem findet sich in diesem Büchlein eine Passage, mit der unsere kleine Kulturreise durch Afghanistan auf einer passenden Note abschließen soll – mit einer grausam-einfachen Lösung für die Lage der Frauen.

[Meine Mutter] sich zu ihm, mit einer Ruhe und Gelassenheit, wie man sie äußerst selten an ihr sah, und sprach mit dem blinden Mann über Gott und die Welt. Sie versteckte ihren Mund nicht hinter ihrem Schleier, fürchtete nicht ständig, er könne ihr vom Kopf rutschen und ihr glänzendes schwarzes Haar offenbaren. Sie war nicht ständig um ihre Arme, Hände und Beine besorgt, die über das schickliche Maß hinaus unter Ärmeln und Saum ihres Schleiers hervorschauen könnten. […] Manchmal wünschte ich, unbekümmert und grausam zugleich, alle Männer würden erblinden.

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